Auf TikTok ist #techno zum Trend geworden. GROOVE-Autorin Cristina Plett erklärt, was dort passiert und was diese neue Medialisierungsstufe mit Szene und Musik macht.
Eine junge Frau steht in einem schwarzen, Fetishwear-inspirierten Body vor ihrer Handykamera. Mit expressiver Mimik spricht sie den nicht jugendfreien Text eines Audiosnippets aus einem Hardstyle-Track mit. Kurze Pause, dann setzt eine verzerrte Synthie-Kick ein. Die Frau beginnt zu tanzen, im Video flackert ein Stroboeffekt. 24 Sekunden lang ist dieses TikTok-Video – für die Plattform vergleichsweise lang. Dennoch wurde es über 89.000 Mal mit „Gefällt mir” markiert und über eine halbe Million Mal angesehen. Nur einen Wisch mit dem Daumen entfernt liegt möglicherweise noch ein solches Video. Und noch eins. Und noch eins. Allein zu #techno gibt es unzählige Videos auf TikTok. Dazu kommen Hashtags wie #ravetok, #technotok oder #berlin (ja, Berlin ist ein Synonym für Techno, duh!). Ein Blick darauf verdeutlicht, dass das eingangs beschriebene Video keine Ausnahme ist. Für das, was auf TikTok in Deutschland aktuell unter #techno (Hashtag Techno) verstanden wird, ist es ein repräsentatives Beispiel.
Über eine Milliarde Menschen nutzten TikTok im Herbst 2021 weltweit monatlich, neuere offizielle Zahlen gibt es nicht. In Deutschland nutzt rund ein Drittel der 12- bis 40-Jährigen TikTok mindestens zweimal pro Woche. Das rasante Wachstum der Social-Media-Plattform ist auch an Techno nicht vorübergegangen. Wie zeigen Musik und Subkultur das auf TikTok? Was machen technobegeisterte junge Menschen auf der Plattform? Und wie wirkt sich das auf die Musik und die Party im real life aus? Die Antworten sind so komplex, vielfältig und ambivalent wie TikTok selbst. Dieser Text will zumindest versuchen, den grob umrissenen Ansatz einer Antwort darauf zu geben.
Techno auf TikTok – das verläuft großteils entlang des schmalen Grates zwischen Selbstdarstellung und Selbstausdruck, zwischen Cringe und Coolness. Oft genug sind die Videos befremdlich anzusehen. Da filmen sich Raver-Cliquen, wie sie mit der S-Bahn zur Party fahren und im Club oberkörperfrei abfeiern, junge Männer, wie sie in ihrem Wohnzimmer zu Techno-Edits von Pop-Hits tanzen oder sich vor dem Clubbesuch die Haare machen. Wieder andere parodieren verschiedene Arten von Raver:innen oder zeigen, wie sich ihr Kleidungsstil verändert hat, seitdem sie feiern gehen. Allein zu letzterem gab es im November einen TikTok-Trend (ähnlich wie das Konzept der Internetchallenge, wenn eine bestimmte Handlung in einem Video zu einer bestimmten Musik angesagt ist, und tausende Menschen ihre Version des “Trends” machen), in dessen Zuge Menschen zu einem Darkwave-Track zeigten, wie in Berlin zu leben ihren Kleidungsstil verändert hat.
Mode ist auf #ravetok wichtig, schließlich ist die Plattform ein visuelles Medium. Man sieht dort in der Breite, was in Berliner Clubs wie dem Berghain oder dem Kitkat, die sich schon immer als sexpositive Räume verstehen, schon länger getragen wird: Von Fetishwear inspirierte Clubmode, Harnesse, Netzstrumpfhosen, Ketten plus – das darf nicht fehlen – „schnelle Brillen” (Fahrradbrillen). Nun ist all das auch in der deutschen Provinz angekommen. Nur dass diese Outfits nicht mehr lediglich im Club zu sehen sind, sondern auf einer großen Plattform. Sie finden ohne Kontext in einer breiten, nicht-clubsozialisierten Öffentlichkeit statt. Die Resonanz darauf ist zweigeteilt: Unter Videos, in denen Rave-Outfits im Mittelpunkt stehen, findet man immer Kommentare, die das kritisieren, à la „Also früher ging noch jeder, wie er wollte” oder „Was hat das mit Techno zu tun?”. Manche TikToker kritisieren sogar offen, dass die Raveoutfits auf TikTok dazu führten, dass unerfahrene Raver:innen denken, sie müssten sich so anziehen, um feiern zu gehen. Was dazu führe, dass alle gleich aussähen.
„Nahezu alles wird auf TikTok tutorialisiert.”
Creator (so nennen sich Influencer*innen auf TikTok und YouTube), die Gegenstand der Kritik sind, wie zum Beispiel die Hamburgerin Jessica Seefeldt, verteidigen sich mit dem Argument, sie zeigten lediglich, was sie eh tragen. Gerade die Freiheit, sich auf Raves so kleiden zu dürfen, sei das Tolle an der Clubkultur. Theoretisch schließt das auch die Freiheit ein, sich nicht so zu kleiden. Dass solche Videos gewisse Erwartungshaltungen hochschrauben, ist dennoch nicht von der Hand zu weisen.
Andere zu inspirieren, das wird bei einer weiteren Sorte von Videos, die auf TikTok sehr gängig ist, viel zitiert: Das Tutorial. Nahezu alles wird auf TikTok tutorialisiert. In Bezug auf elektronische Musik zeigt sich das dann in etwa so: „Learn how to dj”, „My SECRET way to get into Berghain” oder – wie beim Creator Jannick Hill alias Technoprinz – „How to dance”. Sein Video dazu hat über eine Million Aufrufe. Darin zeigt er pantomimisch, wie man zum Takt elektronischer Musik tanzen kann – Singlestep oder Doublestep zum Beispiel. Ein Video zeigt das „Footwork”, Teil zwei, was man mit dem Oberkörper machen kann. Die Kommentare darunter sind eine Fortsetzung der Kommentare zu den Rave-Outfits: Die Kritiker:innen: „Digga seit wann lernt man zu Raven einfach machen und sich einfach frei fühlen” (sic!), „Bei Techno gibt es eigentlich keine Regeln But okay” (sic!) versus die Fans „find das video toll! ich hatte anfangs extrem probleme weil ich nicht wusste wie ich tanzen soll” (sic!) oder „Er schreibt es keinen vor wie man es machen soll sondern gibt Tipps Leute !” (sic!). Dennoch – dass es Tanztutorials für Techno gibt, widerstrebt dem vielbeschworenen freien Spirit der Szene zunächst.
Aber angesichts der Popularität dieses Videos scheinen die Fans in der Überzahl zu sein. Gerade die Altersgruppe, in der TikTok groß ist – Menschen zwischen 12 und 20 Jahren – braucht Technoprinz’ Tipps vermutlich. Diejenigen von ihnen, die zwar alt genug, aber wegen der Pandemie im Rückstand sind, was erste Feiererfahrungen angeht. In dem Alter, in dem man normalerweise seine ersten Clubbesuche macht, saßen sie zuhause oder höchstens in einer Kneipe. Wenn sie in der Zeit zum ersten Mal mit elektronischer Musik in Berührung kamen, dann allein über das Internet, Social Media und eben TikTok. Das zeigt sich nun in der Szene.
Das Koblenzer Partykollektiv „OnlyVorwärts” postete Ende Oktober einen Text, in dem es all das anprangerte: „Die Techno Szene ist ein Trend geworden. Leute die uns früher ausgelacht haben tanzen jetzt mit „schnellen Brillen” bewaffnet, neben uns. […] NEIN! Wir wollen keine Dresscodes, wir wollen nicht jeden Zweiten in dem gleichen Outfit von TikTok sehen.” (sic!) Auch das exzessive Filmen mit Handys (oft sogar mit Blitz) sei ein Problem (wie auch sollte der TikTok-Content sonst entstehen?). Das Kollektiv hat sogar Sticker mit dem Slogan „TechNOTrend“ gedruckt.
Was lustig klingen mag, wird spätestens beim Thema safer spaces zum ernsthaften Problem. OnlyVorwärts mag „nur” Leute neben sich stehen sehen, die sie früher ausgelacht haben. Das Kölner Partykollektiv Eclipse hingegen muss in einem Post Partys als safe space verteidigen, weil offenbar immer mehr Frauen dort sexuell belästigt werden: „Seitdem die Technoszene Mainstream wird, verschwindet dieser Safespace immer mehr.” Und der TikToker tobsn tanzt auf einmal neben queerfeindlichen Männern die ihr T-Shirt ausgezogen haben: „Das sind genau die Leute die uns damals – den größten Teil der LGBTI+-Community – verprügelt hätten”, sagt er in einem Video, in dem er herzlich mit Techno auf TikTok abrechnet.
Eigentlich ist es die alte Geschichte: Wenn etwas Mainstream wird, finden immer Menschen ihren Weg in eine Szene, die ihre Werte nicht teilen, ihre Historie nicht kennen und die Kultur nicht schätzen. Die nur einem Trend folgen. Dann wird immer groß gejammert, dass nun, wo die Szene Mainstream sei, alles kaputt sei und den Bach runtergehe. Wenn der Ausverkauf zu groß wird, zieht der Mainstream weiter und die ehemals mainstreamige Subkultur kann wieder in den Underground wandern. Es geht weiter, irgendwie. Aber neue safer spaces aufzubauen, weil die alten überrannt und zerstört werden, kostet Zeit und vor allem Kraft. Kraft, die gerade marginalisierten Gruppen, die safer Spaces brauchen, oft schon ihr bloßer Alltag abverlangt.
„Mit welchem Video interagierst du? Bei welchen Videos wischst du direkt weg? Dadurch lernt TikTok, was dich interessiert, besser als jede andere Plattform.”
Neu ist die Geschwindigkeit, mit der TikTok eine Subkultur in die breite Masse drücken kann. Die Geschwindigkeit, mit der auf der Plattform Trends und Creator wachsen. Das liegt daran, wie TikTok funktioniert. Anders als bei den „alten” Social-Media-Plattformen wie Facebook oder Instagram besteht der Feed nicht aus Inhalten von Leuten, denen man folgt oder die viele Follower haben. Stattdessen kann alles dort landen. Selbst ein Video von Oma Erna kann viral gehen. Denn der Algorithmus von TikTok gewichtet anders: Er erfasst einerseits, wie ein Video bei verschiedenen Nutzergruppen, die sich für das Thema des Videos interessieren, ankommt, und spielt es dementsprechend aus. Andererseits zeigt es den Nutzer:innen mehr von dem, was sie interessiert. Das weiß TikTok, weil es so viele Daten sammelt und auswertet: Wie lange schaust du ein Video an? Mit welchem Video interagierst du? Bei welchen Videos wischst du direkt weg? Dadurch lernt TikTok, was dich interessiert, besser als jede andere Plattform. Davon spuckt es immer mehr und mehr Clips auf die Timeline, Leckerlis für die wischenden Nutzenden, und zwar bis in jedes noch so nischige Thema.
Deswegen kann man als Nutzer:in schnell in einem sogenannten Rabbit Hole landen und sieht immer extremere Inhalte aus nur einer Nische. Für diese Recherche habe ich beispielsweise einen Recherche-TikTok-Account darauf trainiert, nur #techno-Content zu mögen. Bin großen Creators wie Jessica Seefeldt oder Technoprinz gefolgt, habe mir ihre Videos angeschaut, sie mit „Gefällt mir” markiert. Dadurch habe ich TikTok signalisiert, dass ich mich für solche Inhalte interessiere. Mein Feed sah schnell einheitlich aus; Menschen in fetischinspirierten Klamotten am schulterbetonten (ein Tanzstil der sowohl im TikTok-Universum wie auch bei jungen Leuten IRL zunimmt) Abraven, dazu schnelle, harte Musik.
Denn bei #ravetok geht es nicht nur um Feierkultur und Style. Es wirkt sich auch auf die Musik aus. Dass TikTok Musik verändert, dass Hits als Material für TikTok-Trends geschrieben werden und sich dadurch Songstrukturen verändern, kann man schon seit einigen Jahren beobachten. Es ist die logische Fortsetzung davon, dass schon Spotify die Struktur von Musik beeinflusste. Tracks wurden nach und nach für das Monetarisierungsmodell des Streamingdienstes geschrieben – wenn die Hörer:innen nach weniger als 30 Sekunden weiterskippen, sieht man schließlich keinen Cent. Allein dazu lassen sich ganze Texte schreiben. Im Zusammenhang mit #Ravetok ist auffällig, was dort für Musik beliebt ist: Harte Spielarten elektronischer Musik, schnell, meistens nicht Techno pur, sondern eher Hardstyle, Trance oder Donk.
Das Duo Brutalismus 3000 beispielsweise landete mit seinem wavigen, post-punkigen Gabbersound gleich mehrere (halbwegs nischige) TikTok-Hits. Einer davon, „Satan was a baby boomer”, ist das perfekte Beispiel dafür, was einen elektronischen Track TikTok-tauglich macht: Zunächst nur ein langer, hoher Schrei – dazu kann man lipsyncen, sich eine Storyline oder einen schlecht gespielten Gesichtsausdruck (zum Beispiel „Oh mein Gott”) überlegen. Dann eine kurze Pause, perfekt für eine Transition (ein TikTok-typisches Element, zum Beispiel der Wechsel von Gammellook zu aufgestylt), und um das Video inhaltlich zu unterteilen. Dann eine spröde Gabber-Kick auf 149 BPM – ab geht’s, jetzt wird wie von Technoprinz angeleitet vor der Kamera abgezappelt. Später im Song kommt noch ein verzerrtes Vocal hinzu, das Minimum an Pop-Appeal, das ein Song auf TikTok braucht.
Diesen Pop-Appeal treiben andere Akteur:innen auf die Spitze. DJ Yarak zum Beispiel, ein deutscher Produzent, veröffentlicht regelmäßig trancige Edits von 2000er-Hits und promotet sie auf TikTok. Seine Version des 2006er-Internetphänomens „Wo bist du mein Sonnenlicht” spricht genau die Kinder der späten Neunziger – also einen Teil der TikTok-Nutzerschaft – und deren Nostalgie für ihre Kindheit an – Meme-Techno. Der 14-jährige Matthias Olck produziert keine Edits, sondern filmt sich bei besonders catchigen Übergängen und versorgt die TikTok-Nutzerschaft so mit poppigen und dennoch richtig ballernden Sound-Snippets. Auch er legt vorzugsweise Hard Techno auf und erreicht mit einem Video schon mal über 200.000 Views.
Für DJs und Produzent:innen verstärkt all das den Druck, auf Social Media aktiv zu sein. Ein Druck, der mit jeder neuen Social-Media-Plattform gewachsen ist, zuletzt Instagram. Auch dort geht es nicht mehr nur um Fotos, der Algorithmus fordert audiovisuellen Content. Auf TikTok sollte der sich idealerweise in die Meme-Logik der Plattform einfügen. Müssen da nun alle mitmachen? Noch ist die Plattform kein Standard, anders als Instagram. Und nicht jede:r spricht mit seiner Musik ein Publikum an, das auf TikTok aktiv ist. Wenn man es aber auf eine junge Zielgruppe abgesehen hat und Streaming-Hit-verdächtige Eigenproduktionen hat, schadet es nicht.
Allein das Wording des letzten Satzes zeigt: Es geht um Verwertungslogiken. TikTok treibt die Kommodifizierung von Techno auf die Spitze. Dort wird Musik ein eingängiger Meme-Song, der in wenigen Sekunden maximal ballern soll. Eine Klangtapete, vor der man seine aufwändigen Rave-Outfits in Szene setzen kann. Ein Trend, um für Klamotten, Partys und Anti-Kater-Produkte zu werben. Marketingagenturen haben das Potenzial längst erkannt: Das TikTok-Musikmagazin h4ck.mag soll von einer namhaften Contentmarketing-Agentur betrieben werden. Noch soll die Agentur beim Aufbau des Accounts in Vorleistung gegangen sein und keinen Sponsor dafür haben. Dass sie überhaupt investiert, zeigt, dass potenziell viel Geld in Techno-Inhalten stecken kann.
Elektronische Musik ist schon lange keine Subkultur mehr. Auf TikTok erschließt sie sich einem neuen, jungen, wegen Corona außergewöhnlich feier-unsozialisiertem Publikum in einer immensen Geschwindigkeit und Breite. Einige werden bleiben, andere werden nur kurz vorbeischauen. Manche werden #ravetok im Internet zu ihrer Identität machen und zu 2000er-Hardcore lipsyncen wie die eingangs beschriebene Frau. Andere werden in den Kommentarspalten den erfahrenen Raver raushängen lassen, der alten Zeiten hinterhertrauert. Die Musik wird sich verändern, genau so wie sie sich schon durch Spotify oder die Einführung der LP verändert hat. Und leider werden neue safer spaces nötig, wenn oberkörperfreie Meme-Techno-Jünger die alten (zer-)stören. Die Kommodifizierung der Clubkultur, sie wird weiter vorangetrieben – nicht nur, aber auch von TikTok. Cringe.