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Flow Festival: Eine aufrichtige, schöne Dynamik zwischen Musiker:innen und Fans

Das Flow Festival (Foto: Celeste Lea Dittberner)

Das genreübergreifende Flow Festival existiert seit über 15 Jahren und bietet neben Raves auf dem Resident Advisor Front Yard ebenso Jazzkonzerte im futuristischen Balloon 360° sowie feministischen Punk von Bikini Kill oder Progressive Rock von der Londoner Band Black Midi in der roughen Red Arena. GROOVE-Autorin Celeste Lea Dittberner war vor Ort, um herauszufinden, wie das Premium-Festival in Helsinki die postpandemische Situation meistert.


​​Die Sonne steht hoch am Horizont. Viele Besucher:innen setzen ihre Raver-Sonnenbrillen auf, einige schmieren sich Sonnencreme ins Gesicht. Für die finnische Hauptstadt sind die heißen Temperaturen ungewöhnlich. Der dunkle Kiesboden auf dem Gelände des Flow Festivals speichert die Hitze nicht nur, sondern wirft sie den Festivalgänger:innen mit voller Wucht entgegen.

Flow-Areal (Foto: Celeste Lea Dittberner)

Seit 2007 residiert das Flow auf dem ehemaligen Fabrikgelände Suvilahti in unmittelbarer Nähe des Hafens. Die Location hat einerseits das typische Industrial-Naturell eines alten Produktionswerks, reflektiert durch dessen Ordnung und Sauberkeit aber gleichermaßen den bisweilen sterilen Charakter der Stadt. Interessante Graffitis sucht man in Helsinki und auf dem Festivalgelände vergeblich, stattdessen kann man zahlreiche Kunstausstellungen und Installationen in den ehemaligen Fabrikgebäuden des Festivals bewundern. Das spiegelt sich auch in der Struktur des Flow, es ist einerseits eine riesige Party und andererseits extrem systematisch und proaktiv in der Organisation. Zahlreiche fleißige Helfer:innen wuseln mit Plastikbeuteln übers Festivalgelände, um Zigarettenstummel, leere Bierdosen und Konfettischnipsel einzusammeln.

Main Stage (Foto: Celeste Lea Dittberner)

Ein Großteil des Flow-Publikums unterscheidet sich mit seinem außergewöhnlichen 70s-Kleidungsstil sehr vom Look der Besucher:innen deutscher Festivals und fällt mit farbenfrohen Hemden, Jersey-Schlaghosen und hellblonden Langhaarfrisuren auf. Eine Gruppe von vier jungen Männern sticht dabei besonders ins Auge und könnte glatt als zeitgenössische Beatles-Reproduktion durchgehen. Einige Teenager machen Selfies vor dem großen leuchtenden Flow-Zeichen, daneben studiert eine Gruppe Über-50-Jähriger den Programmplan, und am letzten Tag dürfen Familien sogar ihre Kinder für ein paar Stunden mitbringen.

An den Festivaltagen bilden sich lange Schlangen vor dem Haupteingang zum Flow, die einige hundert Meter weit reichen. Der Grund: Die Festivalbändchen gelten nur für einen Tag. Weil das Austauschen bei den tausenden Besucher:innen länger dauert, nutzen einige die Zeit, um sich mit dem einen oder anderen Schluck Wein oder Bier vorab auf die Party einzustimmen. Die Spirituosenpreise auf dem Festival können nämlich tiefe Löcher in die Geldbeutel graben.

Backyard (Foto: Celeste Lea Dittberner)

Die Raver und Electro-Enthusiast:innen des Festivals finden sich meist auf dem Resident Advisor Front Yard ein und geben sich dort unter freiem Himmel und ohne Unterbrechung den schnellen Percussion-Ensembles und energischen Rhythmen hin. Wie der Name bereits verrät, wird das Line-up dieses Floors von RA arrangiert.

Für das Opening der Stage wurde das finnische DJ-Duo Irma & Helmz auserwählt, es stimmt die ersten Tanzwütigen mit einer forcierten Symbiose aus Acid-House und Synth-Breakbeat auf die kommenden Tage ein. Man hat darauf geachtet, neben bekannten Techno-Koryphäen wie Dixon oder der 160-BPM-Maschine Sherelle auch lokale Artists der Szene zu präsentieren.

Anderthalb Stunden später drängen sich fünf Künstlerinnen des Kollektivs Electronic Market aus Helsinki hinter das DJ-Pult. Weil man sich nach zwei Songs am Mischpult immer abwechselt, verliert sich ein adäquater Spannungsaufbau häufig in abgewürgten Drops. Das Zusammenspiel der Frauen, die zumeist Tracks unbekannter Artists in ihr Set integrieren, zieht dennoch eine Menge Zuschauer:innen an. Zwar besitzt jede DJ ihren ganz eigenen Stil in Songauswahl und Mixing, doch spürt man die harmonische und kollektive Dynamik der Gruppe.

Lichtinstallationen auf dem Flow (Foto: Celeste Lea Dittberner)

Neben den beiden bereits erwähnten Acts kann man sich auch auf etablierte finnische Künstler:innen wie Antti Salonen freuen, der als einer der beliebtesten DJs Helsinkis gilt und seinem Ruf auch auf dem Festival mehr als gerecht wird. Trotz praller Nachmittagshitze tummeln sich die Leute im Front Yard, drängen sich in die letzten Schattenflecken, hüpfen mit halbvollen Proseccoflaschen rhythmisch zum Beat und verschütten dabei den einen oder anderen teuren Tropfen.

Zeit für eine kleine Essenspause. Während an manchen Ständen Falafel und Halloumi in Öl brutzeln, erinnern frische Poke-Bowls an die letzten Instagram-Posts internationaler Wellness-Blogger, die für das vielfältige Angebot an Kulinarik regelmäßig zum Flow Festival fliegen.

Als DJ Stingray 313 die Decks übernimmt, füllt sich die hügelige Wiese vor dem Pult bis in die letzte Ecke. Das Publikum ist Feuer und Flamme, die Energie dynamisierend. Einige Tänzer:innen bewegen sich so ausgelassen, dass sie nichts mehr davon abhalten kann, ihr Shirt auszuziehen. Dabei sind freie Oberkörper oder Bikinis eine Rarität auf dem Flow Festival. Obwohl die Temperaturen zeitweilig auf bis zu 27 Grad steigen, wird Nacktheit hier eher gescheut. Das Flow ist eben nicht die Fusion. Die Tage und Nächte verschmelzen hier nicht unbedingt zu einem raum- und zeitlosen Kosmos. Statt auf Kontrollverlust und hedonistische Partynächte setzt man in der finnischen Hauptstadt auf ambitionierte Kuration und hochwertige Musik.

Marcel Dettmann, Resident Advisor Back Yard (Foto: Konstantin Kondrukhov)

Schon die ersten harten Bässe von Marcel Dettmanns Set treiben die Leute auf die Podeste vor dem Pult. Er betritt in gewohnter Lässigkeit die Bühne, trägt ein luftiges Tanktop, raucht eine Zigarette, und schon nach den ersten paar Takten wird klar, dass sein Auftritt nicht die Endstation der tanzenden Schwarmgeister sein wird.

Zwar geht es beim Flow mehr um Musik als um Exzess. Das heißt aber nicht, dass die Leute nicht auch ausgelassen feiern wollen. So auch im Red Garden. Animiert durch Performance-Künstler:innen und Dragqueens in aufwendigen roten Kostümen, die sich geschmeidig hinter dem Pult zu den Rhythmen der DJ-Sets winden, werden viele Gäst:innen dazu inspiriert, ihren Körper gänzlich den impulsiven Disco-House-Mixen von Naks, Marcia Carr und DJ Paulette hinzugeben.

Patrick Mason, Red Garden (Foto: Celeste Lea Dittberner)

Beim Gig von Patrick Mason am letzten Festivalabend toben die Leute zum „Transmix” des Tracks „Move” von X-COAST, den Mason dafür um etwa 15 BPM beschleunigt hat. Da der Red Garden schon maßlos überfüllt ist, werden kurzerhand sämtliche Durchgänge neben der Stage belagert.

Ein Highlight des Festivals ist das Konzert von Caterina Barbieri in der Kraftwerkshalle. Der Raum The Other Sound präsentiert neben einer herausragenden Auswahl an Virtuos:innen experimenteller Musik auch beeindruckende Licht- und Videoinstallationen von Sun Effects. 

Caterina Barbieri, Other Sound x Suneffects (Foto: Konstantin Kondrukhov)

Der Saal ist bereits Minuten vor Beginn des Konzertes bis auf den letzten Platz gefüllt. Ein Großteil des Publikums hat es sich auf dem Boden bequem gemacht. Caterina Barbieri betritt die Bühne, sie trägt einen kurzen schwarzen Rock und einen Metall-Blazer, der das Licht der Scheinwerfer reflektiert. Eine sphärische Lichtshow begleitet Barbieris einstündige Live-Performance ihres neuen Albums Spirit Exit. Laser durchbrechen den Trockeneisnebel und prallen an der Musikerin ab. Ein oranger Schimmer legt sich um Barbieri und vermischt sich mit der Rückstrahlung der glitzernden Video-Installation im Hintergrund. Das Publikum beobachtet fasziniert ihren Umgang mit den Synthesizern und kann nicht anders, als zwischendurch minutenlang zu applaudieren. Ein Auftritt, der vielen Menschen in Erinnerung bleiben wird.

Auch bei dem Konzert von Cucina Povera legen sich viele Zuhörer:innen auf den Boden der Halle und schließen die Augen. Sie genießen die verflochtene Kombination von minimalen Synth-Sounds und der außergewöhnlichen Voice-Performance der finnisch-luxemburgischen Künstlerin als makellosen Ruhepol inmitten des Festival-Tumultes.

Das Konzert von den Gorillaz ist hingegen alles andere als eine Verschnaufpause, denn so viele lebhafte Besucher:innen hat die Main Stage das ganze Wochenende noch nicht gesehen. Ein Großteil des Publikums singt bei der neuen Single „Cracker Island” lautstark mit und kramt auch für die alten Hits wie „Feel Good Inc.” nochmal sämtliche Lyrics aus dem Gedächtnis.

Ein Abschlusskonzert, das ebenfalls in Erinnerung bleiben wird, spielt die irische Post-Punk Band Fontaines D.C. am zweiten Festivalabend und füllt das Black Tent bis auf den letzten Platz. Obwohl von Pogen und Headbangen nicht gerade die Rede sein kann und die meisten Leute im Publikum nur ein wenig mit dem Kopf wippen, ist unüberseh- und hörbar, dass die Band eine enorme Fan-Traube umgibt, die bei jedem Song mitgrölt. Wahrscheinlich ist der Energievorrat bei vielen Besucher:innen nach zwölf Stunden Festival-Aufenthalt langsam aufgebraucht, um noch richtig rocken zu können, dennoch entsteht hier eine aufrichtige und schöne Dynamik zwischen Fans und Musikern.

Acid Arab, Black Tent (Foto: Konstantin Kondrukhov)

Ganz im Gegensatz dazu tropft es am darauffolgenden Tag bei der Live-Performance von Acid Arab von der Decke des Black Tent. Bevor es zu Nick Cave & The Bad Seeds vor die Main Stage geht, wird noch schnell zu dem bekanntesten Song „Stil” des Produzenten-Duos getanzt, das wie immer eine Show bietet, die auch den letzten Tanzmuffeln einen kleinen Hüftschwung entlockt.

Viele Menschen drängen sich bereits eine Stunde vor Beginn des Konzertes von Nick Cave & The Bad Seeds durch die Masse und versuchen noch einen Platz direkt vor der Bühne zu ergattern. Wer hinten bleibt, kann das Bühnengeschehen über riesengroße Screens verfolgen, die den Auftritt über die Main Stage streamen. Nick Cave & The Bad Seeds spielen ein atemberaubend schönes Konzert. Man hat das Gefühl, als würde die Leidenschaft der Band für Musik und Publikum mit den Jahren stetig wachsen, denn Nick Cave liebt es, seine Fans in die Show zu integrieren. Auch bei diesem Konzert bittet er eine junge Frau auf die Bühne, nachdem sie ihn mit einem großen Plakat darum gebeten hat, mit ihr zu tanzen. Einem anderen Mann gibt er einen Kuss auf die Hand und streicht ihm durchs Haar. Er lässt sich mehrmals ins Publikum fallen und von seinen Fans auffangen, er scheint ihnen zu vertrauen.

Nick Cave (Foto: Victor Moreno)

Auch die Leute im Publikum geben sich ihren Gefühlen hin. Freund:innen liegen sich in den Armen, Paare küssen sich, bei nicht wenigen Leuten kann man während „Into my Arms” oder „Jubilee Street” kleine Freudentränen in den Augen erhaschen. Eine Frau – anscheinend eine professionelle Tänzerin – legt etwas abseits eine erstaunliche Tanz-Performance zu „Red Right Hand” hin und schlägt dabei sogar Räder in High Heels. Die Leute beobachten das Geschehen von der Tribüne aus, ziemlich neutral übrigens, als wäre diese Tanzeinlage das Normalste auf der Welt. Würde man in Deutschland anders darauf reagieren? Möglicherweise schon.

Jedenfalls fällt an allen drei Festivaltagen auf, dass die Besucher:innen sehr behutsam miteinander umgehen – es entstehen keine Streitigkeiten, alle warten geduldig in den Warteschlangen vor Einlass, Bar und Food-Truck und es kommt erstaunlich selten vor, dass man angerempelt oder geschubst wird. So harmonisch wie das gesamte Festival ist auch das Konzert von Nick Cave und bildet den krönenden Abschluss des Flow in Helsinki. Ohne Gedränge bewegen sich die Besucher:innen gemächlich Richtung Ausgang und machen sich auf den Weg in die nächste Kneipe, in die finnische Sauna am nahegelegenen Ufer oder einfach nach Hause, in erschöpfter, aber glücklicher Vorfreude auf ihr Bett.

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