Tomorrowland Festival 2022 (Foto: Privat)

Schillernde Outfits, märchenhafte Stages und Menschen, die in Flaggen gehüllt zu elektronischer Musik tanzen. Über 600.000 Besucher:innen wurden im Juli erstmals an drei Wochenenden auf dem Tomorrowland in der belgischen Gemeinde Boom erwartet. Die Tickets waren wie immer innerhalb von wenigen Minuten ausverkauft. Nach einer digitalen Version im Jahr 2020 und der Absage des Festivals im darauffolgenden Jahr hieß es 2022 endlich wieder: „Live Today, Love Tomorrow, Unite Forever”.

Unsere Autorin arbeitete ein Wochenende auf dem Festival und berichtet neben sündhaft teuren Luftballons und Designer-Kleidung auch von weniger glamourösen Seiten und Doppelmoral.


„1, 2, 3, jump!” – ein Satz, den ich vor allem auf der Mainstage des Tomorrowland so oft hörte, dass ich mich irgendwann fragte, ob dieser mit den DJs vertraglich vereinbart wurde. Entschieden sich einige Künstler:innen doch mal dazu, etwas anderes in das Mikrofon zu rufen, waren es die Worte „3, 2, 1, let’s go!” Danach setzt endlich der Beat ein, der Bass trommelt und das Publikum tobt. Zwei junge Männer in Asterix- und Obelix-Kostümen reißen grölend die Hände in die Luft und stolpern dabei in Richtung eines alten Ehepaars. Kein Wunder, denn die berühmte Mainstage befindet sich am Fuße eines Hügels, sodass viele Besucher:innen gezwungen sind, am Hang zu tanzen. Ich muss grinsen bei dem Gedanken, dass das Gefälle an der Hauptbühne ausgerechnet die beiden wichtigsten Merkmale der EDM-Musik beeinträchtigt – das Shufflen und das Springen. Menschen aus über 200 Ländern tanzen in diesem Jahr unter dem Motto The reflection of love – und ich war einer von ihnen.

Eines der vielen Häuser mit Tomorrowland-Flagge (Foto: Privat)

Vor meiner Anreise klickte ich mich durch unzählige Aftermovies und war gespannt auf ein gewaltiges Setting mit leuchtenden Wasserfontänen und bunter Dekoration. Bei meiner Ankunft am Crew-Office, eine 20-minütige Busfahrt vom Hauptbahnhof in Boom entfernt, bin ich dennoch ein wenig enttäuscht. So extravagant und beeindruckend das bunte Wunderland für Erwachsene auf sozialen Netzwerken auch dargestellt wird, so unglamourös war mein Check-in. Eine Grundschulsporthalle wurde notgedrungen mit ein paar Pflanzen geschmückt und kurzerhand umfunktioniert. Für ein Festival, das im Jahr 2019 etwa 113 Millionen Euro Umsatz machte, hatte ich mir auch vom bescheidenen Artist-Check-in, der sich direkt nebenan befindet, mehr versprochen.

Viele Partygäste legen vor ihrer Ankunft am Festival noch einen Stopp am Eisstand ein (Foto: Privat)

Um vom Crew-Office zum Festivalgelände zu gelangen, geht man etwa eine halbe Stunde. Ich habe Glück: Eine Mutter und ihre Tochter, die in einem der umliegenden Dörfer wohnen und ebenfalls auf dem Festival arbeiten, bieten mir an, mich mit dem Auto mitzunehmen. Während der Fahrt fällt mir auf, wie sauber und grün Boom ist. Die beiden erzählen mir, dass die Tomorrowland-Veranstalter:innen viel dafür tun, dass die Umgebung ansprechend aussieht, um den Bewohner:innen etwas zurückzugeben, wenn jeden Sommer mehrere hunderttausend Feierwütige durch die Stadt ziehen.

Die Tomorrowland Today von Samstag (Foto: Privat)

Auf meinem Weg zum Campingplatz sehe ich viele Häuser, die mit Tomorrowland-Flaggen geschmückt sind und deren Gärten selbstgebaute Eisstände zieren. Ich erwarte eine große Ackerlandschaft abseits des Ortskerns, so wie ich es bereits von vielen großen Festivalgeländen kenne. Tatsächlich stehen ein paar Häuser nur wenige Meter neben dem Festivaleingang. Einige von ihnen werden während der Tomorrowland-Wochenenden an Besucher:innen vermietet und sind bereits Monate vor Festivalbeginn ausgebucht.

Die Tomorrowland Today mit einem Bild der Mainstage-Eröffnungsshow von Freitag (Foto: Privat)

Um vor Ort nicht den Überblick über das Gelände, die Stages und Artists zu verlieren, wird für jeden Festivaltag die Zeitung Tomorrowland Today gedruckt. Darin findet man neben Erfahrungsberichten, Aktivitäten auf dem Gelände und Interviews mit Festivalbesucher:innen auch eine Vorstellung der 13 Bühnen. Beim Durchblättern fällt mir auf: Mir war das Tomorrowland bislang nur als EDM-Festival bekannt, bei dem DJs à la Martin Garrix, Dimitri Vegas & Like Mike sowie David Guetta die berühmte Mainstage bespielen. Doch dem Timetable entnehme ich, dass auch Hardstyle-, House- oder Goa-Liebhaber:innen auf ihre Kosten kommen.

Ein leuchtender Wasserfall fließt durch die Mitte des Zelts (Foto: Privat)

Mit Acts wie SPFDJ, Mama Snake und Vini Vici stampft man hier auch zur härteren Kost. So hosten beispielsweise die belgische DJ Charlotte de Witte mit ihrem Label KNTXT oder die Italiener Tale Of Us mit ihrer Veranstaltungsreihe Afterlife das Atmosphere-Zelt. Gemeinsam mit dem Coincidence Cage, der Freedom Stage, der Rave Cave und der Core Stage des Londoner Clubs Printworks massieren die einzelnen Bühnen mit harten Bässen die Magengruben der feierwütigen Masse.

Magic Mushrooms zieren die Youphoria Stage (Foto: Privat)

Weil ich von Donnerstag bis Montag auf dem Dreamville-Areal, einem der Campingplätze des Tomorrowlands, arbeite, darf ich als Crew-Mitglied bereits zwei Tage vor offiziellem Festivalbeginn das Gelände betreten. So bekomme ich einen Einblick in den Aufbau einiger Bühnen. Mit großen Augen bestaune ich, wie ein leuchtender Wasserfall durch die Decke eines Zeltdaches schießt, während magische Pilze oder bunt flackernde Schmetterlinge weitere Stages schmücken. Mit all den bunten Lichtern und der ausgefallenen Märchenland-Gestaltung sorgt das Festival auch ohne Musik für Reizüberflutungen.

Als Robin Schulz am Freitag schließlich die Mainstage eröffnet, flattern abertausende Konfettischnipsel über den Dancefloor. Wasserfontänen schießen aus dem Boden, während gleichzeitig spektakuläre Feuerinstallationen rotgelbe Flammen in die Luft spucken. Hunderte Performerinnen verrenken sich in glitzernden Space-Anzügen zum Set des deutschen Superstars. Die unzähligen in die Luft gestreckten Flaggen helfen mir einzuordnen, wie viele unterschiedliche Nationen auf dem Tomorrowland vereint werden. Jubelnd tanzen Menschen aus Australien, Brasilien, Japan, Spanien, Israel und manch eine:r auch mit Bayern-Fahne zur ohrenbetäubenden Musik der DJs.

Neben ausgelassenem Feiern spielen beim Tomorrowland auch Sehen und Gesehenwerden eine große Rolle. Vor der Mainstage wirft eine junge Frau ihre Chanel-Tasche über die Schultern. Komplett in Alexander Wang gekleidet, verzieht sie ihren Mund zu einem breiten Grinsen. Unzählige Fotos später ist ihre Freundin an der Reihe. Ich beobachte, wie nach und nach die ganze Clique in das Shooting mit einbezogen wird. Als sich alle ausreichend lange vor der Linse präsentiert haben, kann das Bild endlich gepostet werden.

Die kleine, aber feine Rave Cave (Foto: Privat)

Währenddessen stöpselt auf der Bühne schon die nächste DJ ihren USB-Stick ein. Für die Freundesgruppe geht es nun weiter zum nächsten Foto-Hotspot. Im Online-Shop des ehemaligen Balenciaga Chefdesigners finde ich die Alexander-Wang-Jeansshort, die die dauerlächelnde Frau getragen hat, zum stolzen Preis von knapp 300 Euro. Fast genauso viel kostet auch das Standard-Ticket für ein Wochenende auf dem Tomorrowland. Wer jedoch Donnerstag bis Montag inklusive Camping auf dem Festival verbringen will, muss dafür knapp 400 Euro einplanen.

Wer sich beim offiziellen Ticketverkauf keine Karten sichern konnte, dem bieten die Veranstalter:innen verschiedene Pakete an. Hier ist die Chance deutlich höher, an ein Ticket zu gelangen – natürlich nur mit entsprechendem Aufpreis. Beim Global Journey Sale kauft man das Festivalticket in Kombination mit der Anreise per Bus, Bahn oder Flugzeug. Auch die Hotel Packages gehen während dieser Phase in den Verkauf. Preistechnisch bewegt man sich mit dem „All-Inclusive-Paket” der Global-Journey-Tickets inklusive Dreamville-Campingplatz bei rund 2000 Euro.

Das Harbour House liegt direkt am Wasser (Foto: Privat)

Je nach Ticket und Unterkunft könnte man für das Geld auch eine Woche auf den Seychellen verbringen – oder David Guetta zur privaten Geburtstagsparty buchen. Bezahlen können die Besucher:innen auf dem Festival lediglich bargeldlos mit der Tomorrowland-Währung namens Pearls. Neben Fitnessstudio, Supermarkt, Friseursalon und sogar einem eigenen Postamt können die feiernden Gäste ihr Geld auch für Tomorrowland-Merch oder bunte Luftballons ausgeben. Denn zwischen all dem Essen und Trinken gibt es auf dem Dreamville-Campingplatz einen Stand, der wortwörtlich von Luft und Liebe lebt. Hier kann ein großer herzförmiger Luftballon gerne mal 18 Pearls kosten. Da eine Pearl bei der diesjährigen Tomorrowland-Ausgabe auf 1,67 Euro kommt, macht das umgerechnet zirka 30 Euro.

Wer kein eigenes Zelt mitbringen will, kann auf dem Tomorrowland auch bereits aufgebaute Zelte mieten (Foto: Privat)

„We are the reflection of love!”, hallt es immer wieder durch die großen Lautsprecher der gleichnamigen Mainstage. Das Motto der 16. Ausgabe des Musikfestivals soll laut den Veranstalter:innen vor allem die positive Energie symbolisieren, für die das Tomorrowland so bekannt ist. Selten mit dem Spiegelbild der Liebe wird hingegen die Stadt Dubai assoziiert, der Standort der neuen Luxusunterkunft des Tomorrowland. „Terra Solis” heißt das einzigartige Glamping-Erlebnis in den arabischen Dünen, für das auch auf dem Tomorrowland reichlich geworben wird.

Von Oktober 2022 bis Juni 2023 eröffnet die Wüstenoase, die sich über 371.000 Quadratmeter erstreckt und neben luxuriösen Glockenzelten auch private Lodges mit Pool anbietet. Auch auf der Homepage des Tomorrowland heißt es: „We are the People of Tomorrow. (…) We are responsible for the generation of tomorrow and respect each other and Mother Nature.” Dass die Menschen von Morgen sich mit dem Terra Solis an einem Ort befinden, der in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierung eher ein Land von vorgestern darstellt, scheint für die Veranstalter:innen keinen Widerspruch darzustellen.

Werbung für die Terra Solis Luxusunterkunft in Dubai (Foto: Privat)

Auch musikalisch ist das berühmte belgische Festival teilweise in einer früheren Zeit steckengeblieben. So kenne ich, obwohl ich vermutlich vor knapp zehn Jahren das letzte Mal aktiv einen EDM-Song gehört habe, überraschenderweise viele der gespielten Lieder. Zudem bin ich davon ausgegangen, dass die Besucher:innen auf dem Festival die ganze Nacht durchtanzen. Vor Ort stelle ich jedoch fest: Das Hauptprogramm spielt sich eher am Nachmittag ab, und auf den großen Stages schlummern die Lautsprecher bereits um Mitternacht. Wer länger machen will, muss auf den Campingplatz. Dort feiern die Leute zur Musik des Dreamville Radios weiter. Da ich in einem der Essensstände unter einem Lautsprecher arbeite, höre ich aufgrund der ebenfalls eintönigen Musikauswahl hauptsächlich Alan Walkers „Faded”.

Die Lichtershow während des Closing-Sets von Martin Garrix (Foto: Privat)

Möglicherweise wollen viele der DJs aber auch einfach an das Jahr 2019 anknüpfen und die verlorengegangenen Corona-Jahre ausblenden. Dennoch war ich erstaunt, dass Martin Garrix in seinem Set noch immer seinen 2013 veröffentlichten Track „Animals” spielt. Abgerundet wird das Closing des niederländischen Künstlers mit einem atemberaubenden Feuerwerk, das gleichzeitig auch das Ende des ersten Wochenendes einläutet.

Ein Feuerwerk (Foto: Privat)

Für mich endet das Festival erst um 4 Uhr morgens, wenn auch die letzte Fritteuse unseres Essenstands geputzt ist. Viele Festivalbesucher:innen legen vor dem Schlafengehen oder Weiterfeiern auf dem Campingplatz noch einen Stopp auf der Fressmeile ein. Einige erzählen mir, wie unbeschreiblich das Festival für sie war und dass sie traurig sind, nun wieder ein Jahr warten und vor allem sparen zu müssen. Denn für viele Besucher:innen ist das Tomorrowland nur deshalb eine once in a lifetime experience, weil sie es sich nicht öfter leisten können.

Für mich ist Europas bekanntestes EDM-Festival vor allem eines: eine Veranstaltung für Konsumgeilheit, die mit einer Märchenwelt im 5-Sterne-Stil lockt – zumindest preistechnisch. Durch internationale Künstler:innen, außergewöhnliche Bühnen und viel Liebe zum Detail wird versucht, die Illusion einer perfekten Welt zu erzeugen. Die Festivalbesucher:innen, die liebevoll „People of tomorrow” genannt werden, dürfen im Land von morgen jedoch auch bei 30 Grad kein eigenes Wasser mit auf das Gelände nehmen.

Und noch eins (Foto: Privat)

So vielfältig die einzelnen Länder, aus denen die Partygänger:innen anreisen, auch sind, so eintönig ist die Musik der DJs. Einspieler und einzelne Songs wiederholen sich auf der Mainstage ständig, und auch die Shows laufen oft in der gleichen Reihenfolge ab. Die Crowd wird dazu aufgerufen zu springen, von links nach rechts zu winken, in die Hocke zu gehen, und nach dem Drop geht das Ganze wieder von vorne los.

Ironischerweise habe ich trotz des großen Line-ups nicht das Gefühl, dass es beim Tomorrowland in erster Linie um Musik geht, sondern darum, dass die Menschen ihren Alltag und vor allem ihren Kontostand vergessen. Für diejenigen, die nach dem ersten Wochenende wortwörtlich von der „Reflection of Love” geblendet wurden, heißt es eine Woche später schon wieder: „What’s up Tomorrowland? Make some fucking noise!”

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