µ-Ziq – Magic Pony Ride (Planet Mu)
Planet-Mu-Boss Mike Paradinas alias µ-Ziq hat schon lange nicht mehr auf seinem eigenen wegweisenden Label veröffentlicht. Weniger aktiv war der IDM-Veteran seit den Neunzigern zwar nicht, dennoch brauchte es dieses farbenfrohe und sorgenfreie Album, um Paradinas nach fast zehn Jahren wieder auf seinen Planet Mu zurückkehren zu sehen. Inspiration für diese LP war das Remastering von Lunatic Harness, einem µ-Ziq-Album von 1997, das vielleicht als Vorgänger von Magic Pony Ride betrachtet werden kann, sowie ein Wochenende zum Reiten in Island.
Und so klingt diese Platte auch ein wenig wie die Mischung aus beidem: zum einen ist Paradinas gut gelaunt, seine Synths klingen fröhlich und ausgelassen, Rhythmen galoppieren über die eisigen Steppen. Die Melodien sind deutlich poppiger, als man es von fordernden IDM-Kollegen wie Aphex Twin oder auch Venetian Snares kennen mag. Zum anderen ist es ein retrospektives Album, das die Breaks und Jungle-Drums der Neunziger konsequent wieder aufgreift. Das tun momentan ja viele, und Mike Paradinas hat wahrscheinlich sogar noch selbst viele davon ungenutzt auf seinen Festplatten und Tapes der letzten Jahrzehnte liegen gehabt.
Allerdings klingt diese Neuaufbereitung, die in ihrer Experimentierfreude den Vorfahren dann doch hinterherhängt, auf Albumlänge nicht so überzeugend, wie das die Theorie vermuten lässt. Es ist zwar schön, µ-Ziq unbeschwert und seine Tochter samplend zu erleben und sich auf den von Islands Weiten inspirierten Synth-Schwaden davontragen zu lassen. Doch gerade bei einem Producer wie Paradinas, dessen Label ja auch stets zur Weiterentwicklung von elektronischer Clubmusik beigetragen hatte, siehe Chicago Footwork, Juke oder Dubstep, wirkt diese Platte letzten Endes dann doch ein bisschen zu viel nach hinten und zu wenig nach vorne schauend. Leopold Hutter
Omar-S – Can’t Change (FXHE)
Zwischen Kunst und Künstler trennen zu wollen, kann bisweilen in schier endlosen Diskussionen enden. Im Falle von Omar-S erstickt ein Feature-Track die ganze Sache in nur zwei Minuten und 38 Sekunden im Keim. Nachdem vor Kurzem die Journalistin Annabel Ross in einem Blog-Post Instagram-Posts des Detroiters dokumentierte, mit denen er sich über sie und die zahlreichen Vorwürfe gegen Derrick May wegen angeblicher sexueller Übergriffe – beziehungsweise also die Betroffenen – lustig machte, legen King Milo und Milf Melly auf seinem neuem Album unabgesprochen nach: „Want me to eat it out / Chris Brown, I beat it out / If you ain’t sucking dick / Ain’t got nothing to meet about”, heißt es auf „Bend Who” zwischen allerlei großzügig eingestreuten B-Bomben. Chris Brown übrigens war der Typ, der Rihanna einst windelweich prügelte.
Es ließe sich nun vielleicht einwenden, dass der Produzent diese Zeilen nicht selbst verfasst hat. Dass es sich doch um nur einen von 14 Tracks handelt, und auf dreien von ihnen eine Frau – Superwickedcool – eine tragende Rolle spielt. Oder dass die aktuellen Geschehnisse einen vermutlich humoresk gemeinten Ghetto-House-Electro-Hybrid abgründiger scheinen lassen, als es sonst der Fall wäre. Nur stellt sich auch die Frage, warum dieses verzichtbare Stück Musik, das selbst einen Johnny Dangerous wie einen feinfühligen Empathen aussehen lässt, trotzdem auf Can’t Change landete, einem Album, das ansonsten gewohnte Omar-S-Qualität und zum Glück nur wenig Vocals bietet. Der Hinweis darauf liegt aber vielleicht im Titel der Platte versteckt. Mit dem nämlich trifft der Künstler womöglich nicht nur eine Aussage über seine Kunst, sondern auch sich selbst. Kristoffer Cornils
Phtalo – Monotone (Endless Process)
Polemisch gedacht: Vielleicht sind House und Techno gar keine Musik? Vielleicht sind es Aneignungs- und Überschreibungsprogramme vorheriger Stile und Ideen? Zu diesem Gedanken passt das beliebige, stimmige, zerhackte, autogetunete, in einigen Genres und Ären shoppende, holistische, Post-Internet-artige, digital-analoge, so schlechte wie tolle Album namens Monotone der non-binären Künstler:innen-Identität Phtalo perfekt.
Auf „Re-Verbalize” könnte auf Art of Noise oder 80s-Balearic-Disco verwiesen werden. Dieser Gedanke verschmilzt als vapor-waviges, hypnagogisches Gewand mit euren Handyscreens. Die Deutungen dessen, was Techno war oder nicht, schreiben sich seit vier Jahrzehnten fort und in jede Generation erneut ein. Menschen lieben Deutungshoheit. Die kontert Phtalo entspannt mit stilistischer Wahrlosigkeit, Ungenauigkeit und Überladung. Im Fall von „Chances Are” gelingt dieses vereinende Experiment mit Annäherungen an Björk, Ari Up, Hamburger-90s-House-Schule, Super-Collider-Jimpster-Jus’Ed-House und zu dick aufgetragenem weißem Rauschen hervorragend. Sonst entsteht dabei auch mal Sound-Gentrifizierung oder kommerzieller Betroffenheitspop für Teenager:innen. Mirko Hecktor
R-Zac – Trailer Trax (PRSPCT)
Das neuerliche Interesse an Freetek hat auch Spiral Tribe wieder einen Aufschwung verpasst. Während Mitbegründer Mark Angelo Harrison noch an seinem Buch über das nomadische Soundsystem schreibt, hat der Berliner Plattenladen Sound Metaphors seit Juni drei Releases aus dem näheren Umfeld des Kollektivs neu aufgelegt. Die erste 12-Inch war dem Duo R-Zac gewidmet, das mit Trailer Trax nun ein ganzes Album auf dem niederländischen Label PRSPCT nachlegt, das den Umbruchpunkt vom Breakbeat-orientierten Sound ihrer Live-Sets hin zu dem markierte, was heute am ehesten mit Freetek assoziiert wird: infernalisches, hochgeschwindes Geballer.
Geschrieben und aufgenommen wurde das Material der auch als Crystal Distortion und 69DB beziehungsweise Simon Carter und Sebastian Vaughan bekannten Produzenten angeblich im Jahr 1993 in Berlin in einer Wohnwagensiedlung, die nach einem Tourstopp von Roger Waters mit seinem The-Wall-Programm übriggeblieben war. Wie glaubwürdig das ist, sei dahingestellt. Unglaublich ist allemal, was die beiden auf den damals unter verschiedenen Namen auf Rabbit City veröffentlichten Tracks aus ihren Maschinen herausholten: Musik, die selbst den hartgesottesten Hard-Dance-Fans Kammerflimmern verpasst. Phew! Kristoffer Cornils
Schacke – Apocalyptic Decadence (Instruments Of Discipline)
Im ersten Lockdown dürfte sich beim einen oder der anderen ein Moment stärkster hedonistischer Begierde eingestellt haben – so auch bei Schacke. Der dänische Produzent, DJ und Eventveranstalter ist nicht nur einer der Pioniere des neuen Kopenhagener Technos, sondern seit der Kisloty Forever EP mit dem Hit „Kisloty People” in aller Munde – und das zu Recht. Mit größtem Gespür verbindet er raue Noise-Klänge mit hypersensiblem Techno, der nicht gefällig ist, aber mächtig genug, um auch die überzeugtesten House-Fanat:innen zur stampfenden Ekstase anzustacheln.
So auch auf dem neuen Album Apocalyptic Decadence, das als dritter Teil seiner Pleasuredome Series verstanden werden will. Der drahtige, abweisende Industrial verbindet sich mit zarten, aber bestimmten Drums und wird in verschiedensten BPM-Bereichen durch den Äther geschmettert. „Creepin Up The Tempo” oder das dubbigere „Dungeon Crawler” haben eine atzige Energie, die nicht zum Wohlfühlen einlädt, sondern Oberflächlichkeiten zerstäuben will, ohne dabei den Spaß zu vergessen. Tunes, die bestimmt nicht zum Selbstzweck produziert wurden, sondern um zielgerichtet ihren Weg in die Peaktimes der Clubs und Hauspartys zu finden. Lucas Hösel