Kangding Ray – ULTRACHROMA (Ara)

Es ist schon eine Weile her, da gab es für Kangding Ray nur nachhallende Tropfsteinklänge. „Pling, Plong”, im Takt eines Schweizer Chronographen. Der Sound für ausgebrannte Clubgänger*innen mit zwangsneurotischen Tendenzen, die schon alles andere gehört und Matrix zu oft gesehen hatten. Mehr arty als Party. Das am besten nochmal durch die Effektmaschinerie jagen. Minimalismus gegen die schwerwiegende Leere einer existenziellen Krise. Auf jeden Fall besser als die wöchentliche Psychotherapiestunde.

Immer schon passierte beim Franzosen David Lettelier überproportional viel zwischen den Zeilen. Seine Musik auf Raster Noton war ein monochromer Zug. Auf Ara kommt jedoch der nächste Halt. Für alle Fahrgäst*innen gilt: Aussteigen, Gleis wechseln, die Welt zum ersten Mal in Farbe sehen.

Das neue Album von Kangding Ray ergibt ein synthetisches Kaleidoskop, das – könnte man es nur an eine Wand hängen – einen Platz in der Tate Gallery verdient hätte. Sein achtes Album sollte „hyperdigital, komplex, aufreibend, aber auch farbenfroh und wunderschön” sein, erzählte er im April RA. Der zweite Satzteil birgt Sprengstoff. Wie nur soll man das verstehen? Macht einer der letzten großen Krieger spartanischer Soundcollagen hier einen auf Richard Wahnfried? Kurzum: Ja, schon ein bisschen. Ultrachroma ist ein digitaler Tangerine Dream für den Nachtclub. Es rüttelt gehörig durch, ist DMT für die Ohren. Dennoch ist es ein Werk, das sich viel lieber auf leisen Sohlen anschleicht als ungeschickt anzustürmen. Vielschichtigkeit in tausend Farben, Vielschichtigkeit in tausend Formen. Transluzenz statt mattes Schwarz. Gelungen. Andreas Cevatli

Yuzo Iwata – Kaizu (Butter Sessions)

Yuzo Iwata hatte schon 2020 auf Butter Sessions, einem der spannendsten Labels Australiens, veröffentlicht. Jetzt kommt das Debütalbum des Halb-Kubaners mit japanischen Wurzeln. „Electronic psychedelic music”, nennt Iwata das, was darauf zu hören ist. Das bedeutet: ambiente Texturen, Slowmo-Beats und viel Club-Material. Auffallend dabei ist ein besonderes Gefühl für ausgefallene Sounds, aufregende Stimmungen und Grooves abseits ausgetretener Pfade.

Wer sich an frühem japanischen Techno wie von COLOGNe erfreuen kann, wird mit Iwata glücklich. Über ein großes Spektrum von Rhythmen und Tempi verteilt, sind Acid-Sounds zwar oft die treibenden Elemente, Iwata macht aber auch um gesamplete Perkussion keinen Bogen. So inkorporiert das Highlight „Gamelion” etwa die traditionelle indonesische Trommel-Spielart in modernem Techno-Rahmen. Auch Ausreißer, weg von der Elektronik, dürfen sein, bevor es in der zweiten Albumhälfte wieder energischer zur Sache geht. Trotz der stetigen Abwechslung schafft es Iwata, dem Album seinen Charakter mitzugeben – als Produzent, der zwar vielseitig und ideenreich komponiert, aber bereits seinen eigenen Stil kreiert hat. Leopold Hutter

Ron Trent presents WARM – What Do The Stars Say About You (Nighttime Stories)

Die Geschichte, dass Ron Trent im Alter von 13 Jahren mit „Altered States” einen ultimativen House-Klassiker produzierte, muss nicht noch mal en détail wiederholt werden. Sein unverwechselbarer Stil, der sich aus den vorübergehenden Lebensmittelpunkten Chicago, New York und Detroit speist, bezog seine originäre Inspiration immer aus der Hochphase des Soul, aber auch aus Disco, Kraut- und New-Age-Pop.

Mit What Do The Stars Say About You orientiert sich Trent an eben diesen Einflüssen und macht klar, dass er viel mehr kann, als DJ-Tracks höchster Qualität zu produzieren. Seine Skills bewegen sich in Musiker- und Songwriter-Tugenden. Für die zehn Tracks des Albums hat Trent eine entsprechend erlesene Auswahl an Musiker*innen eingeladen: Ivan Conti und Alex Malheriros von der legendären brasilianischen Jazzfunk-Combo Azymuth, Violinen-Virtuose Jean-Luc Ponty, Ambient-Producer und Gaussian-Curve-Mitglied Gigi Masin und die Thai-Funk-Gruppe Khruangbin zum Beispiel. Herausgekommen ist ein Album alter Machart, das auf der Couch, am Strand oder beim Joggen funktioniert. Richard Zepezauer

Salamanda – Ashbalkum (Human Pitch)

Als das südkoreanische Duo Salamanda im letzten Sommer in Berlin auftrat, präsentierte es eine Show voll orientalischer Perkussion, koreanischer Melodieandeutungen und nuancierter Gesangsfarben. Auch trickreicher Downbeat im Geiste früher The-Wild-Bunch-Produktionen machte ihre Sitzperformance zu einem Konzert, das im Kopf erst nach der Show richtig losging.

Nun sind die Tracks von Salamanda auf Ashbalkum, ihrem dritten Album, ausproduziert zu hören. Uman Therma alias Sala and Yetsuby alias Manda gelingt es darauf, den charmant-infantilen Psychedelik-Geist ihrer Show auf Platte lebendig zu halten. Zuweilen überlagern die Gamelan-Patterns ihren fruchtigen Ambient. Auch majestätische Meditations-Drones sind zu hören. Dazu geistern Stimmmelodien der Koreanerinnen wie ein zusätzliches Instrument über die Musik. Das Ergebnis: ein von Licht durchflutetes, stets überraschendes Album, das den Dancefloor explizit nicht bedient, obwohl es zuweilen mit minimalistischen Techno-Elementen spielt. Michael Leuffen

Setaoc Mass – Horror Vacui (SK_eleven)

Mit seinem Debütalbum versucht sich Setaoc Mass an einem für ihn eher ungewöhnlichen Sound. Statt typischer Techno-Patterns lebt Horror Vacui rhythmisch von breakigen Schemata und verspielten Melodien. Ein Stil, mit dem der Mann aus Manchester schon auf 53 Degrees North Part II experimentierte. Ob die Tracks mit dem sonst so vielschichtigen Techno-Sound mithalten können? Vielleicht sollten wir uns eher die Frage stellen, ob wir uns auf das Andere einlassen.

Eines, das von Text-Fragmenten und Vocal-Cuts, eingeschoben Harmoniebögen, riesigen Hallräumen und einem verschrobenen Drumming wie bei Burial lebt. Dabei entsteht ein dramatischer Sci-Fi-Sound, wie er in manch einem Hollywood-Blockbuster erklingen könnte. Voller Pathos und einem dadurch heraufbeschworenen, schaurigen Kitsch-Momentum. Das musikalische Pendant für das ein oder andere HR-Giger-Werk. Vincent Frisch

Sten – Earthshine (Sushitech)

Als Sten veröffentlichte Dial-Mitbegründer Peter Kersten zwischen den Jahren 2002 und 2008 eine Reihe von EPs und zwei Alben. Mit Ausnahme einiger Remixe und Sampler-Beiträge ließ Kersten, der sonst als Lawrence produziert, aber wenig folgen – bis jetzt.

Mit Earthshine erscheint auf Sushitech ein neues Album, das die Trennschärfe zwischen der Zuhausehör-Idee von Lawrence-Releases und der Floor-Funktionalität von Sten-Produktionen herausarbeitet. Earthshine ruft über 65 Minuten in Erinnerung, dass der Unterschied neben den Anwendungsmöglichkeiten immer auch in der Soundästhetik merklich wurde. Während Kersten mit seinem Hauptprojekt mit Jazzelementen, Pianoklängen und Rauschen experimentierte, wehen bei Sten selbst blubbernde Ambient-Interludes aus der Techno-Richtung. Eine fröhliche Freundlichkeit schwebt über diesen 13 Stücken, selbst wenn ein ereignisreiches Stück wie „Freewalk” unvergleichliche Formstrenge aufweist. Typisch Sten: Die Deepness entsteht aus den Rhythmen, den unaufgeregt und doch genüsslich in die Länge geloopten Grooves im Fundament der Tracks. Kristoffer Cornils

Tosca – Osam (!K7)

Osam, kroatisch für die Zahl Acht: Der Inbegriff des Loops. Jeder Track stellt sich als endlose Möbiusschleife dar. Eine, die uns in die Abenteuer des Multiversums Tosca führt. Polymorphe Enden und Anfänge kollidieren in deepen Hallräumen der balearischen Mitten des Frequenzspektrums wie auf „Gentleman”. Jeder Klang öffnet ein weiteres Wurmloch zu anderen Sounds. Die Hörer*innen befinden sich unmittelbar vor einem Ereignishorizont. Düster und verheißungsvoll entwickelt sich der Sog ins Schwarze Dub-Loch. So könnte vielleicht die Stringtheorie als Musik klingen.

Für Richard Dorfmeister und Rupert Huber stellt der Gedanke der Wiedergeburt eine kreative Antriebskraft dar, die ihre Musik durchdringt. Mystisch rollt das neue Album der beiden Großmeister der österreichischen Elektronikszene mit gelassener Lethargie zwischen den Welten dahin. Jo, eh! Die universelle Soundreise geht vorbei an schwülen Nachmittags-Fragmenten vor unscharf-fixierten Offsaison-Inseln Italiens hin zu den Balearen und via Londoner Downtempo aus den Neunzigern zu schwarzen Überdruck-Palmen an Twilight-Stränden auf Exoplaneten wie K2-18b. Der Sonnenaufgang des roten Zwergs morpht auf „Entrecote” in digital verschobene Erinnerungen an japanischen Buddhismus oder Kabuki-Theater. „Dementamente” spiegelt die alte Pariser Lounge als Albtraum auf den Psychonauten zurück. „Tropical” schwebt an die Oberfläche des Vienna Dub zurück. Die Auflistung und holistische Omnipräsenz von Reminiszenzen klingt beliebig, macht aber Sinn. Am Ende steht „E=MC2”. Harmonisch und produktionstechnisch gibt es rein gar nichts auszusetzen. Leiwand! Mirko Hecktor

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