Rekid – 99 (Running Back Incantations)

Rekid – 99 (Running Back Incantations)

Matthew Edwards, vielen wohl besser unter seinem Pseudonym Radio Slave, hat sich in der Zeit des 2020er-Lockdowns mal wieder an sein Hobby Rekid erinnert. Dieses Nebenprojekt hatte der Engländer in den letzten zwei Jahrzehnten recht sporadisch für Musik genutzt, die außerhalb der Clubwelt spielt. Der zweite Rekid-Longplayer erscheint bei Running Back Incantations, wo in den letzten beiden Jahren mit den Alben von Yogtze, AKSK und Panoram gleich drei bemerkenswert gute Platten erschienen sind. Da reiht sich 99 ein.

Das Konzept ist angenehm simpel: 99 BPM sind fest eingestellt, Aufnahmetaste drücken, alles muss in einem Take über die Bühne gehen. Ein Track pro Tag musste dabei rumkommen. Nicht im Regelbuch stand, dass jeder Track einen klöppelnden Beat, Bleep-Melodien und superknarzige Basslines aufweisen muss, aber so stellt sich das Ergebnis der elf Tracks mit den Titeln „Day 1” bis „Day 11” dar. Ganz so simpel ist es aber nicht. Wie Matthew Edwards mit einfachen Mitteln auf 99 eine schnell süchtig machende Hypnosewirkung zaubert, ist schon außergewöhnlich. Zwischen klöppelnden Beats und all den Bleep-Sounds ist, das soll nicht unerwähnt bleiben, auch mal Raum für mehr oder weniger darke Ambientstücke wie „Day 6”. In weiten Teilen erinnert 99 an Richard H. Kirk und sein kurzlebiges Projekt Sweet Exorcist, mit dem der Cabaret-Voltaire-Gründer einst die Bleep-Welle der späten Achtzigerjahre mitprägte. Auf jeden Fall sind sowohl Sweet Exorcist als auch dieses zweite Rekid-Album definitiv Solitäre. Holger Klein

Ro70 – Ro70 (Sister Midnight)

Ro70 - Ro70 (Sister Midnight)

Ro70 entstand als Roman Flügels erstes Soloalbum 1995, in eng beratender Zusammenarbeit mit David Moufang alias Move D, auf dessen (und Jonas Grossmanns, den sollte man wirklich nie vergessen) Label Source Records es auch im gleichen Jahr erschien. Und für ein fast 30 Jahre altes Album klingt es noch immer fan-fucking-tastisch futuristisch. Ernsthaft, würde es heute, 2022, erscheinen, würde es wohl nichtsdestotrotz als aurales Science-Fiction-Meisterwerk gepriesen werden.

Da sind einmal die eher zurückgenommen, weite Räume eröffnenden Ambient- und Electronica-Tracks des Albums, die auf verspielt-stolpernde Weise durch die fiktiven Hinterräume des Geistes führen, angeleitet von subtil hüpfenden Grooves. Dann sind da aber auch die auf einen schwerelosen Raumstations-Dancefloor ausgerichteten Tanz-Tracks, irgendwo zwischen Electro und Ambient-Techno, erfüllt von futuristischem Maschinen-Funk, der jedem verrostetem Androiden Seele einzuhauchen vermag. Und habe ich schon den Roboter-Jazz erwähnt, wie geschaffen für die Lounges geschäftiger Raumflughäfen? Wie gesagt, ein Album, das sich auch nach 27 Jahren nicht verstecken muss. Ein Zukunfts-Klassiker, erschaffen in der Vergangenheit. Tim Lorenz

RVDS – Cosmic Diversity (Bureau B)

Richard von der Schulenburg - Cosmic Diversity (Bureau B)

Alleinunterhalter an der Orgel in der legendären Meanie Bar des alten Molotow in Hamburg, das war vor rund 20 Jahren eine der ersten Stationen in der musikalischen Laufbahn von Richard von der Schulenburg. Eine Dekade lang war er Keyboarder der Band Die Sterne, mit dem 440Hz Trio widmet er sich dem Jazz. Als RVDS hat sich Schulenburg in den vergangenen zehn Jahren vor allem seiner eigenen Definition von Electronica-inspiriertem Deep House gewidmet.

Mit Cosmic Diversity knüpft der Hamburger Producer recht unmittelbar an seine letztjährige Bureau-B-Veröffentlichung Moods and Dances 2021 an, wobei der Fokus von Ambient und Minimal Wave nochmals in Richtung Boards of Canada und Plaid verschoben wurde. Einzelne Tracks herauszugreifen kann diesem – aller Diversität zum Trotz – außergewöhnlich kohärenten Album eigentlich nur wenig gerecht werden. Mit dem sphärischen Downbeat-Opener „Schoolyard Sweets” öffnet sich der Vorhang zu einem Kosmos, in dem IDM, Electro und New-Age-Synthese mit Field-Recording-Fragmenten und Stimm-Samples zu einem faszinierend kammersinfonischen Universum verschmelzen. Die größte Annäherung an den Dancefloor lässt Schulenburg mit dem Breakbeat von „Reset My Brain” und der Detroit-Industrial-Nummer „Dance Of The Plutos” zu, überwiegend handelt es sich bei Cosmic Diversity jedoch um ein ausgesprochenes Listening-Album und ein Lockdown-Dokument von betörender Schönheit. Harry Schmidt

S.O.N.S. – The Escape (S.O.N.S.)

S.O.N.S - The Escape (S.O.N.S)

Zehn EPs hat der in Südkorea lebende Franzose Timothée Victorri bisher unter seinem Pseudonym S.O.N.S. (und auf seinem gleichnamigen Label) herausgebracht. Platten voller weich wallender Synthie-Landschaften, fluffig-verträumter Beats und fröhlich blubberndem Acid. Verortet irgendwo zwischen melancholischem Detroit-Techno (bezeichnenderweise befand sich auf der ersten S.O.N.S.-EP eine Coverversion und Hommage an Mark Goddards damals noch eher geheime Detroit-Hymnen „The End” und „The Start”), hypnotischem Sonnenaufgangs-Trance, somnambulem Ambient und melodischem Drum’n’Bass, widmet sich Victorri den positivistischen und einfach schönen Tendenzen technoider Tanzmusik: Ja, da vorne leuchtet eine Zukunft – und sie wird wunderbar sein.

Es wurde also Zeit für ein Album – und das ist, wie es sich für ein solches gehört, sehr kontemplativ geworden, schielt eher auf die Wohnzimmercouch als auf den tiefnächtlichen Dancefloor. Oder ganz frei heraus: Es ist ein wunderschönes Ambient-Album. Victorri selbst denkt sich das Album als im Jahr 2071 spielende retro-romantische Science Fiction-Geschichte – und so klingt es auch. Wie ein 70er-Jahre-Wasserbett wabernde Synthesizerflächen breiten sich endlos aus, warten nur darauf, dass man sich in sie fallen lässt, um vom intoxinierenden Duft verhallender Breakbeats in hypnotische Träume versetzt zu werden. Ein Album also, von dem man sich immer wieder gern berauschen lassen wird. Tim Lorenz

Simona Zamboli – Loisirs (Detroit Underground)

Simona Zamboli – Loisirs (Detroit Underground)

Wenn ein Album mit den Worten beworben wird, es sei „anything but entertainment”, hat man im Grunde schon Angst, öffentlich einzugestehen, es gefalle einem eigentlich ganz gut. Bei Simona Zambolis Loisirs ist diese Nicht-Unterhaltung aber durchaus reizvoll. Nicht im Sinn von unter großer Anstrengung zu erarbeitendem sperrigen Material, bei dem man sich nach erbrachter Leistung für den Erkenntnisgewinn selbst auf die Schulter klopft, sondern weil die Musik einen Flow hat, der vielleicht nicht widerstands- und hakenlos durchläuft, doch beim Hören ebenso wenig mit harschen Klängen oder schrillen Frequenzen gleich in die Flucht schlägt. Gut, kommt wohl auf die Lautstärke an.

Vielmehr haben die sich scheinbar selbst überlassenen Patterns etwas, das auf leicht befremdliche Weise anziehend ist. Die Produzentin aus Mailand spielt dabei mit dem Gedanken von Freizeit und den mit ihr verbundenen Privilegien – „loisir” bedeutet im Französischen „Freizeit” –, was irgendwie danach klingt, dass der einen oder dem anderen mit dem Ganzen ein schlechtes Gewissen gemacht werden soll. Muss man aber nicht haben, das bleibt am Ende die eigene Entscheidung. Und auch ohne theoretische Zugaben ist dies alles, wie gesagt, durchaus reizvoll. Unterhaltsam gar? Tim Caspar Boehme

Whatever The Weather – Whatever The Weather (Ghostly)

Whatever The Weather – Whatever The Weather (Ghostly)

Die Klimakrise ist eigentlich ein konstant drohendes Thema, Temperaturwerte stehen heute in der Regel immer gleich mit für Erderwärmung. Nichts Gutes also. Bei Loraine James’ Projekt Whatever the Weather ist schon der Name ein Hinweis darauf, dass das konkrete Klima für sie kein Grund zur Panik ist. Die Titel ihres selbstbetitelten Albums sind Celsiuswerte, „25 °C”, „0 °C”, „17 °C” und so weiter. Sie stehen aber bloß für unterschiedliche Temperaturen, ohne erkennbar auf etwas anderes zu verweisen.

Die Musik jedenfalls ist bei „25 °C” bemerkenswert ruhig, ambientesk schwebend, bei „17 °C” hingegen wird das gletscherartige Fließen der Synthesizerakkorde von hektischen Drum’n’Bass-Breaks zwischenzeitlich kräftig durchgerüttelt, läuft heiß, wenn man so möchte. Doch selbst in diesen nervöseren Momenten bleibt ein deutlicher Unterschied zu ihren Veröffentlichungen als Loraine James bestehen. Mit deren oft in alle Richtungen schnellenden Tracks hat diese Wetterstation sehr wenig gemein. Über dem Album schwebt vielmehr, bei allen Differenzen im Detail, eine Art homogene Wolkendecke. Geschlossenheit statt Fragmentierung. Das Wetter ist das Wetter. Braucht man nicht weiter drüber reden. Kann man einfach hören. Wobei die Resultate nicht immer ganz so innovativ wirken wie zum Beispiel auf ihrem Album Reflection. Tim Caspar Boehme

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