Earthen Sea – Ghost Poems (Kranky)
Earthen Sea hatte schon immer eine besondere Herangehensweise an Ambientmusik. Relativ kurze Loops, die sich aber langsam erheben und senken, früher auch mal mit sanften 4/4-Beats versehen. Auf dieser neuen LP, die im ersten Lockdown in New York aufgenommen wurde, hingegen erheben und lösen sich Sounds wieder auf: Wasser im Waschbecken, Hintergrundgeräusche aus dem Wohnzimmer, Alltagsgegenstände. In der Komposition klingt das nicht nach Field-Recordings, sondern wie aufmerksam gebastelte, feinsinnige Musik für ein instabiles Nervenkostüm.
Piano-Samples und viele körnige Lo-Fi-Texturen mischen sich vorsichtig mit Geräuschen, bewegen sich langsam auf und ab und strahlen dabei eine ungeheure Ruhe aus. Die Musik von Jacob Long war schon immer so: hypnotisch, beruhigend und vor allem erdend. Sie trägt eine starke Melancholie in sich, eine tiefe Sehnsucht nach dem Ende eines Schmerzes – aber sie transportiert gleichzeitig auch die nötige Wärme und die Hoffnung, sich mit diesen Gefühlen aufrichtig zu beschäftigen. Sie hilft dabei, sich der Unsicherheit und den eigenen Abgründen hinzugeben, bietet aber auch alle Werkzeuge, sich dabei selbst an der Hand zu nehmen. Am Ende des Prozesses –der LP – fühlt man sich vielleicht erschöpft von all der emotionalen Erkundung, aber ganz sicher auch wieder in sich ruhend. Eine exzellente Platte für solche langen, einsamen Nächte. Leopold Hutter
Jack J – Opening The Door (Mood Hut)
Jack J hat es nicht so mit dem Festlegen. Weder auf ein konkretes Genre noch auf genaue Zeitbeschränkungen. Über vier Jahre, zwischen 2015 und 2019, produzierte der Kanadier ein Konglomerat aus Ambient Jazz, Soft Rock, Deep House und Lo-Fi-Bedroom-Pop. Diese Mischung würde ihm entgleiten, hätte er nicht durchweg den Hang zu einer bewusst gedämpften, aber dennoch unbeschwerten Ästhetik.
Über Jack Jutsons Debüt-LP liegt ein Dunst aus wollig-weichen Rhythmen und koketten Melodien. In dieser Gestik lebt der Titeltrack vom Reverb auf den Drums und langgezogenen, summenden Synths. Es entsteht ein eigentümlich langgezogenes Gefühl von Raum und Zeit, in dem sich selbst das Saxofonsolo wie in Zeitlupe entfaltet. Eine ähnliche, sich aus Hall speisende Geschmeidigkeit versprüht „The Only Way”. Jutsons sanft gesäuselte Lyrics zu locker schlenderndem Beat geben das passende Deep-House-Sonnenterrassenfeeling.
Während lediglich die A-Seite genug Schwung bietet, um zum Tanzen einzuladen, schweifen die restlichen Tracks in Serpentinen aus Dub- und Reggae-Rhythmen mit jazzigen Einlagen ab. „Clues Part I” und „ Part II” fahren das ohnehin schon gemäßigte Tempo herunter zu tiefenentspannten Grooves. Die entzerrte Aura des Albums lässt schnell an die Slacker-Attitüde eines Mac Demarcos mit dessen unbeschwert-quirligen Melodien oder die gedämpften R’n’B-Produktionen von Homeshake denken. Der Kanadier verarbeitet dabei den Gestus elektronischer Musik mit einem gewissen Lo-Fi-Indie-Flair. So macht sich in Jutsons entspanntem und noch entspannterem Mäandern entlang verschiedener Genregrenzen schnell sonnige Wohlfühllaune breit. Louisa Neitz
Lila Tirando a Violeta – Desire Path (NAAFI)
Mit Lila Tirando a Violetas Album Desire Path legt das Kollektiv und Label N.A.A.F.I eine Veröffentlichung vor, die traditionelle Blasinstrumente der Maya aufgreift. Damit befindet sich das Label in guter Gesellschaft. Das bereits im Februar erschienen Album The Long Count der Künstlerin Debit auf Modern Love basiert auf Samples prähispanischer Okarinas und Flöten aus dem Archiv der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko, die sie in Machine-Learning-Software eingespeist und in sphärischen Ambient verwandelt hat. Während Debit ein Konzeptalbum liefert, das an spekulative klangliche Fiktion anknüpft und vor allem im dunklen Konzertraum funktioniert, verwebt Desire Path Okarinas mit Field-Recordings und pulsierenden Breakbeats zu stimmungsvollen, clubtauglichen Tracks.
Der Klang von Okarinas dürfte Gamer*innen aus The Legend of Zelda bekannt sein. Allerdings sind Okarinas ein globalhistorisches Phänomen, die nicht nur auf einer N64-Konsole, in China oder Mesoamerika zu hören sind. Die Tradition der Gefäßflöte mit Grifflöchern und Mundstück reicht bis zur Hochkultur der Azteken und Maya zurück. Auf Desire Path klingen Tirando a Violetas Summen und Okarina-Melodien im Track „Caminos del Deseo” orientalisch, allerdings ist von der Maya-Zivilisation keine notierte Musik überliefert, und so bleiben Melodien letztlich Spekulation. Die Revitalisierung prähispanischer Instrumente findet sich aber auch in EDM-Tracks wieder, die meist in Form eines kitschigen Spiritualismus daherkommen und im Vergleich zu Desire Path antagonistisch wirken.
So steigt das Album mit entschleunigten Dembow-Rhythmen und statischen Störgeräuschen ein. In Tracks wie „Whirlwinds” und „Aguas Violentas” fließen Naturlaute wie Wasser und Vogelzwitschern mit synthetischen Klängen ineinander, die hämmernde Kicks kontrastieren. Der Track „Aplaudir el Desastre” hört sich wie ein verzerrtes Baile-Funk-Sample vom MC Bin Ladens Track „Bololo Haha” an, nur komplett zerlegt, im Tempo dezimiert und wieder neu zusammengesetzt. Lila Tirando a Violeta versteht es, klassische Erkennungsmerkmale für Reggaeton und Dubstep wie Dembow-Rhythmen und Wobble-Bässe durchschimmern zu lassen, durch Effektüberlagerungen aber stets unironisch und klischeefrei frische Track zu kreieren, ohne dabei jemals die Tanzfläche aus den Augen zu verlieren. Nadine Schildhauer
Longhair – Hotel Solaris (Permanent Vacation)
Wie eine leichte, balearische Brise weht der Calypso-Track „Monday Funday” herein und setzt den Ton für Marko Pelaics Debütalbum auf Permanent Vacation. Mit seinem „Lambada”-Edit „The Forbidden Dance” hatte der Berliner Producer dem Katalog von Paramidas Label Love On The Rocks 2020 einen weiteren Hit hinzugefügt. Die acht Tracks auf Hotel Solaris bestätigen Longhairs Kompetenz für catchy arrangierte Nu-Disco-Tunes mit Deep-House-Grundierung.
„Sponge Bob” kombiniert Echos der frühen Warp-Tage und Cowbell-Percussion. Mit angeschnittenen Rave-Fanfaren und psychedelisch hochgepitchten Vocal-Samples ist „Planets & Orbits” ein grandios verspulter Neo-New-Beat-Hit. „Telemark” kleidet Fernost-Stereotype in ein Minimal-Wave-Gewand. „Pixie Crop” ist ein weiterer Flaggschiff-Track mit Boogie-Feeling, Chicago-Bassline, Synth-Soundscapes und bleepiger Hook. Compass Point, ahoi: „Angry Professor” bietet Dub-Reggae-Vibes an. Der Titel sei von Fotografien einer brutalistischen Hotelarchitektur namens Arkana auf der kroatischen Insel Hvar inspiriert, schreibt Pelaic. Das „Solaris” wiederum ist ein Stanislav-Lem-Sample. In acht Wochen nach dem ersten Lockdown entstanden, dokumentiert Hotel Solaris auch die Hoffnung auf einen Aufbruch in eine bessere Zukunft. Dieser Optimismus wird noch immer dringlich benötigt. Harry Schmidt
Mark Broom – 100% Juice (Rekids)
Seit drei Jahrzehnten nun ist Mark Broom als Produzent aktiv und zeigt keine Ermüdungserscheinungen. Über 160 Singles hat er allein unter seinem Klarnamen veröffentlicht, erst im Vorjahr legte er seine dritte Solo-LP auf Rekids vor. Die Vierte folgt ihr nun ebendort auf dem Fuß und verspricht 100% Juice, die volle Saftpackung Broom.
Das heißt auch, dass das Album als Erzählform für Broom kaum von Interesse ist. Statt ambientem Herumgeplänkel zum Aufwärmen eröffnet der Titeltrack die LP gleich in medias res mit einem wuchtigen Groove, den poröse Bleeps und scharfkantige Claps begleiten – plötzlich Peak Time. Sowieso, der Groove: er ist das schwingende Zentrum eines jeden Broom-Tracks und damit auch auf dieser LP sein Markenzeichen.
Dabei ist 100% Juice zugleich auch von einer unerbittlichen Härte gekennzeichnet, die eine unvergleichlich präzise ist. Nur ein einziger Track pendelt sich über der Fünf-Minuten-Marke ein, alle anderen sind in noch kürzerer Zeit auserzählt. Überflüssiger Speck war bislang eher selten in Brooms Produktionen auszumachen. Das bedeutet nur eben auch, dass sich auf Albumlänge schnell Ermüdungserscheinungen bemerkbar machen. Denn mit Ausnahme des wunderbar aufgekratzten Slammers „Wonky Workout” gleichen sich die acht Stücke doch sehr in ihren Tempi und Stimmungen: rasant und ravig. Nein, als Erzähler beweist sich Broom auf 100% Juice nicht und wollte das offenkundig auch nie. Stattdessen bündelt die LP acht fein tarierte Ansagen. Direktive: Dancefloor! Kristoffer Cornils
Plastikman & Chilly Gonzales – Consumed in Key (Turbo)
24 Jahre nach der Veröffentlichung auf Richie Hawtins eigenem Label Minus bekommt das vierte Plastikman-Album Consumed eine Neubearbeitung oder besser gesagt eine weitere Audiospur von Pianist Chilly Gonzales hinzugefügt. Das Original von 1998 galt aufgrund seiner radikalen Reduziertheit recht bald als Meilenstein im Bereich minimalistischem Techno. Wenigen Klangelementen wurde durch große Hallräume sehr viel Platz gegeben, sich zu entfalten. Die kurzen Loops und deren hypnotisch entspannende Modulationen entwickelten eine konzentrierte Magie.
Chilly Gonzales empfand die fehlenden Melodien des Originals laut eigener Aussage fast als bedrohlich und wollte diese Lücke schließen. Die daraus entstandenen Aufnahmen hörte Produzent und Labelmacher Tiga. Der schickte diese dann begeistert an Freund Richie Hawtin, mit der Idee, diese neue Interpretation des Klassikers auf Tigas Label Turbo als luxuriöses 3×12-Inch-Album herauszubringen.
Nun kann man durchaus darüber streiten, ob Consumed Melodien gefehlt haben und ob es sich wirklich lohnt, ausgerechnet die durch Reduktion auf ein Grundgerüst eben ohne Melodien entstandene Magie des Albums ergänzen zu wollen.
Das Ergebnis dieser Erweiterung um das Element Melodie entwickelt an mancher Stelle tatsächlich neue, unerwartete Momente von epischer Schönheit, und Chilly Gonzales und Richie Hawtin wählen eine für dieses Unterfangen gut gewählte Balance. Aber es bricht auch mit der konzentrierten Dichte und verändert den ursprünglichen Fokus auf eine Weise, die sich zu guter Letzt doch wieder die Frage stellt: War es das nun wirklich wert? Technopurist*innen würden diese Frage wohl eher verneinen. Melodienmeister Chilly Gonzales sieht das jedoch anders. Richard Zepezauer