Biosphere – Shortwave Memories (Biophon)
Erinnerungen basieren auf Vergangenem. Sicher, das unterschreibt erst einmal jede*r. Aber wie irreführend Erinnern auch sein kann und wie groß seine Nähe zu Märchenerzählungen, das wiederum ist ebenfalls kaum jemandem fremd. Biospheres Shortwave Memories führen in ein solches Vergangenheitskonstrukt zwischen gewesener Realität und Fantasie. In eine Epoche, in der Produzenten wie Martin Hannett (Factory Records, Joy Division, OMD, A Certain Ratio) und Daniel Miller (Mute-Records-Gründer, Entdecker und Produzent von Depeche Mode, Sunroof) mit analoger Hardware aus den späten 70ern und frühen 80ern Proto-Techno entstehen ließen und dabei viele Sounds, die später stilbildend werden sollten, meist ohne Presets oder Speicherplätze kreierten.
Mit ähnlichem Equipment arbeitet Geir Jenssen nun auch auf Shortwave Memories – im Gegensatz zu seinen letzten Alben, die alle auf Samples und Software basierten. Dabei geht es ihm aber keineswegs darum, den Stil der 70er oder 80er nachzuahmen, sondern das Equipment quasi als Zeitmaschine zu benutzen und eine Illusion seiner Künstlerexistenz in diesem Zeit- und Materialkontext entstehen zu lassen.
Im Unterschied zu seinem letzten Longplayer Angel’s Flight oder Polar Sequences, seiner Kooperation mit Bobby Bird, die in die „10 Ambient Essentials” dieses Magazins geschafft hatte, strahlt Shortwave Memories in etlichen Passagen etwas sympathisch Spielerisches, mehr Leichtigkeit und hin und wieder geradezu Versöhnliches aus und lässt dadurch an sein Album N-Plants von 2011 denken. Mathias Schaffhäuser
Breaka – We Move (Breaka)
Breaka, britischer Producer mit Hang zu Hosenschlacker-Bass-Musik, veröffentlicht sein erstes Album. Dabei könnte We Move auch ein Zufallsfund im Plattenladen deiner Vergangenheit sein – vergilbt an den Rändern, straight aus den Neunzigern. Breaka schafft schließlich das Kunststück, eine Platte zu produzieren, die alle Elemente aus der goldenen Zeit zwischen Drum’n’Bass und Dubstep aufzusaugen scheint, ohne am Nostalgiedurst zu ersticken. Das ist gut, weil man an Nostalgie nicht ersticken sollte. Und weil es längst ein Afrobeat-Crossover zwischen 2Step, Burial und Amen Break geben hätte müssen.
Anders gesagt: We Move klingt, als hätte Babyfather Goldies Timeless von 1995 in einem Technokeller aus 2022 inszeniert, um danach Urlaub auf dem Dekmantel zu machen. Die Beats, die Synths, der Vibe – hier geht die Sonne in einer Zeit auf, die nach Oasis riecht, aber wie NTS schmeckt. Zwischen „Look Inside”, auf dem Breakas Mum singt, und „Admit Ignorance”, dem Closing-Stück, spült der Mann einen Bänger nach dem anderen runter. Allein „Mass Gathering” – der wunderbare Kitsch trieft aus jedem Vocal-Sample – will man nach sieben Stunden Kaltverformung im Darkroom umarmen. Bevor das Licht angeht. Wieder ausgeht. Und man weiß, dass es gut war. We Move, beschte Gerät! Christoph Benkeser
Chinaski – No Pop No Fun (Running Back)
Unschuldig war sie, die ach so schillernde und doch so generische Welt des Pop in den 80er Jahren, auf eine Art zumindest. Die Kulturpraxis des Remixes war kaum verbreitet, die Freigabe eigener Werke zum Schindluder anderer Produzent*innen noch selten. Gleichzeitig kam kaum ein Gassenhauer von radiotauglich-knackiger Länge ohne die Extended Version aus, zum Segen der damaligen wie heutigen DJs. Im Idealfall wurden die Charakteristika des Originaltracks um ein längeres, vocalfreies Intro und Lead-Out erweitert, oft genug aber änderte sich plötzlich die Struktur des Tracks.
Stefan Haag, erklärter Liebhaber alten Produktionsequipments und der eher unbedarften Produktionsethik dieser Tage, hat endlich sein Debütalbum als Chinaski veröffentlicht. Und es spielt wie gewöhnlich, wie von ihm, seinem Sound erwartet, nicht einfach nur mit dieser Ästhetik: Es klingt, als hätte er eine vergessene Kiste noch unbesungener Extended-Edits gefunden. Die acht (digital zehn) Tracks stehen da wie patinabetragene Hymnen. Chinaskis synthlastiges Werk lag und liegt stets das Element betagten Größenwahns inne, der vom Erbe der 80er Jahre übrig blieb. Ist diese Wiederholung überhaupt noch aufregend? Die Neuerzählung tonal allzu bekannter Geschichten innovativ? Und wie mit Erwartungen, Erwartbarkeit und der Erfüllung von beidem umgehen?
Das passenderweise No Pop No Fun betitelte Werk weckt Sehnsüchte. Das Synthfeuerwerk übt sich in der Repetition bekannter Strukturen, die helleren fröhliche Melodien vorgebend, die tiefenlastigen, flächigen das Ganze in Melancholie einfangend. Einzig die Basslast kündet von moderneren Zeiten und üppigeren Anlagen, die, halt, wo eigentlich stehen sollen? Sehnsucht, Melancholie, angenehme Verankerung in einem Gestern von vor 40 Jahren, es erscheint doch so sinnhaft: Chinaskis Debüt ist ebenso grundehrlicher Eskapismus wie schon die Trackauswahl seines Groove Podcasts. Die Tracks verschmelzen in sich. Waren das jetzt fünf Minuten? Drei? Eine Stunde? Der Geist wandert ab ins Unbewusste, nur passend in einer Zeit, in der die letzte Clubnacht wie eine allzu ferne Erinnerung wirkt und die nicht enden wollende Nachtfahrt in bessere Zeiten dringend noch einen ergiebigen Soundtrack braucht, gleich wie sie enden mag. Ben-Robin König
Dopplereffekt – Calabi Yau Space (WeMe) (Reissue)
Das Duo Dopplereffekt gehört zu den Protagonist*innen der zweiten Electro-Welle Mitte der Neunziger, als die ehemalige maßgebliche Inspirationsquelle von Techno, nunmehr selbst beeinflusst von der Clubmusik der frühen Neunziger, ein bemerkenswertes Comeback erlebte, das sich seitdem in schöner Regelmäßigkeit gefühlt alle drei Jahre wiederholt – Electro als das ewige heiße Ding kurz vorm endgültigen großen Durchbruch.
Die beiden Detroiter*innen, von denen Gerald Donald auch als eine Hälfte von Drexciya bekannt ist, gehörten aber von Anfang an zu den experimentelleren Vertreter*innen des Genres, sie waren nie dancefloor- und schon gar nicht auf die reine Lehre fixiert, und ihre Alben umschiffen Electro fast vollständig.
Calabi Yau Space erschien vor 15 Jahren auf Rephlex und wird jetzt von WeMe Records wiederveröffentlicht – natürlich auch auf Vinyl. Nur zwei der acht Track haben so etwas wie einen klar identifizierbaren Groove: Das epische „Hyperelliptic Surfaces” könnte als Dark Electro durchgehen, versandet dann aber in einem experimentellen, düster-kryptischen und über mehrere Minuten gehenden, schönen Ende. Dieses Prinzip wird dann auf Seite zwei in „Non Vanishing Harmonic Spinor” umgedreht, das Stück beginnt beatlos mit einer zweitaktigen, getragenen Synthiesequenz und sich darüberlegenden Soundschlieren, bis nach dreieinhalb Minuten ein ultrareduzierter Downbeat einsetzt – Slo-Mo-Kraftwerk kommt in den Sinn, und tatsächlich wirkt das komplette Album wie eine etwas schwermütige, dunklere Version der Düsseldorfer, auf die sich natürlich wiederum fast alle Detroiter Electro- und Techno-Innovator*innen berufen.
Und es finden sich auch wie im Frühwerk von Kraftwerk auf Dopplereffekts zweitem Album die Querverbindungen zu Neuer Musik, also E-Musik des 20. Jahrhunderts und ihrer experimentellen-elektronischen Varianten. Gute Beispiele dafür sind „Mirror Symmetry”, das geprägt ist von einem dezenten Synthie-Loop und perkussiven, verhallten, synthetischen Percussions, und „Holomorpic N-0 Form”, das direkt dem Kölner Studio für elektronische Musik entsprungen sein könnte, wären nicht auch hier Spurenelemente von Loops enthalten. Lässt man sich auf diese ruhige und zurückhaltende Musik ein und sich vor allem nicht von ihrer auf den ersten Blick melancholischen Seite abschrecken, beeindruckt das Album durch eines aber ganz besonders: Klangliche Schönheit. Mathias Schaffhäuser
Fort Romeau – Beings Of Light (Ghostly International)
Projektionen sind es, die den Kern von Beings Of Light, Michael Greenes drittem Album, seinem zweiten für Ghostly International, ausmachen. Blitzlichtschnappschüsse aus der New Yorker Clublandschaft ziehen in „Spotlights” vor dem inneren Auge vorbei, während „Ramona” sich ganz explizit auf das Robert Johnson bezieht: Den Groove habe er mit dem Soundsystem des Offenbacher Clubs im Hinterkopf entwickelt, so Greene, „auch mit einer starken Anlehnung an die modernere Linie der außergewöhnlichen Minimal-House-Musik aus Frankfurt”.
Tatsächlich orientiert sich die Digitalästhetik des britischen Producers stark an den Reduktions- und Redundanzverschaltungen des Genres. Spezifisch ist indes sein Umgang mit Harmoniewechseln, hier mit am schönsten gleich im Opener „Untitled IV”. In vielen der acht neuen Tracks beschäftigt sich Fort Romeau auch mit der menschlichen Stimme: Chorfragmente, geloopte Interjektionen („The Truth”) oder auch Spoken-Word-Lyrics wie in „Power of Grace”, das seinen Titel dem Covermotiv, einer Fotoarbeit des US-amerikanischen Künstlers Steven F. Arnold, entlehnt.
Der darin aufgerufene Hedonismus (Formentera, Dalí, The Cockettes) wird durch die melancholische Grundstimmung, die das Album durchzieht, gleichsam moderiert. Mit „(In The) Rain” und „Porta Coeli” unterstreicht Greene seine Ambient-Kompetenz. Wenn auch kein komplettes Meisterwerk, gelingt Fort Romeau mit Beings Of Light doch ein ausgesprochen bemerkenswertes, wohltemperiertes Minimal-House-Album. Harry Schmidt
Frantzvaag – Solo Super (Fuck Reality/ Smallville)
Nach zwei EPs für Fuck Reality und einer auf Full Pupp legt der norwegische Producer Mats Frantzvaag sein Debütalbum wiederum bei Fuck Reality vor, gleichzeitig der erste Longplayer im Katalog des Smallville-Sublabels. Bei den neun Tracks handelt es sich um vernuschelten Hygge-Deep-House, vielfach mit tieffrequenten, von crispen, knochentrockenen Drumbreaks akzentuierten Grooves.
Frantzvaag pflegt eine Klangästhetik, die an Labels wie Nu Groove und Svek, an Produktionen von Ron Trent oder den frühen Herbert denken lässt, ihn im Umgang mit Dubeffekten und organischer Soundgestaltung aber auch klar als Vertreter der jüngsten Generation skandinavischer Nu-Disco-Producer auszeichnet, wofür exemplarisch gleich der Opener „Become” steht. Nicht nur „2001” triggert balearische Strandgefühle. „Come Later” feiert eine Acid-Disco-Party. „Going Away” gräbt sich tiefer in die Nacht. So sehr die Tracks vom Dancefloor aus gedacht sein mögen, so wenig möchte Frantzvaag mit seinem ausgeprägten Gespür für Leftfield-Pop-Momente hinterm Berg halten. Das Sensationelle daran ist, wie unaufdringlich der Producer aus Oslo beide Intentionen zusammenkommen lässt: mehr Verführung als Tanzbefehl. Harry Schmidt
Hörbeispiele findet ihr in den einschlägigen Stores.