Anthony Naples (Foto: Jenny Slattery)
Anthony Naples ist erst 31 Jahre alt, blickt aber bereits auf eine zehnjährige DJ- und Produzentenkarriere zurück. Im September hat er sein aktuelles Album Chameleon veröffentlicht, auf dem er den Weg weiterverfolgt, als kompletter Künstler wahrgenommen zu werden statt lediglich als Produzent loser 12-Inch-Banger. Unser Autor Philipp Cerfontaine hat den US-Amerikaner in New York getroffen, der Stadt, in der er lebt und die Bühne zweier Begegnungen war, denen er seine Karriere verdankt.
Chinatown zur Mittagszeit. Die Straßen rund um den East Broadway brodeln. Zum Sound hupender Autos schieben sich Massen von Menschen vorbei an den Waren, die asiatische Verkäufer*innen auf dem Bürgersteig anbieten: Gemüse, Früchte, Tiere – in etwa alles, was man braucht, lässt sich hier auftreiben. Einen Steinwurf weiter sichert eine Armee von Streifenpolizisten das berüchtigte Metropolitan Correctional Center, ein Bundesgefängnis, in dem El Chapo einsaß und Jeffrey Epstein starb.
Auf Anthony Naples’ Empfehlung sind wir mit ihm in einem naheliegenden Dim Sum-Restaurant verabredet. Ein Plan B. Ursprünglich hatte der Produzent einen Spaziergang durch sein Viertel in Ridgewood in Queens vorgeschlagen, eine Idee, die er dann aber kurzfristig gegen ein Mittagessen in Manhattan eintauschte. „Ich muss mal rauskommen aus meiner Gegend!”, erklärt er mit einem Grinsen, als er sich leicht verspätet auf einen der roten Ledersitze fallen lässt. Es ist Montag. Naples sieht verdammt frisch aus für jemanden, der nach wie vor jedes Wochenende ausgeht. In seinem Pass steht, dass er 31 Jahre alt ist, doch seine Gesichtszüge wirken jünger. Keine Spur davon, dass er schon seit zehn Jahren Teil der DJ-Szene ist, in der Welt herumtourt und geregelten Schlaf nur ungeregelt bekommt.
Naples kommt ursprünglich aus einer wärmeren Gegend. Er wächst auf im Süden Floridas, dem Sunshine State der USA. Der Kontakt mit elektronischer Musik findet früh im Elternhaus statt: „Meine Mutter hörte kein Bob-Dylan-Zeug oder so, sondern Miami Bass”, beginnt Naples zu erzählen. Eine schmächtige Bedienung reicht ihm chinesischen Brokkoli mit Ingwer-Rindfleisch. „Clubmusik lief also ständig bei uns. Ich bin damit aufgewachsen. Für mich war es schwierig, neue Musik zu entdecken, die nicht elektronisch war, weil bei uns ständig Clubsounds liefen.”
Die Ausgehkultur seiner Mutter färbt auf Naples’ Hörgewohnheiten ab. Als er 16 Jahre alt ist, beginnt er, an den ersten eigenen Produktionen zu arbeiten. „Ich hatte einen digitalen Synthesizer von Casio, einen CZ-101. Ein ziemlich gutes Teil, muss ich sagen. Ich hing immer in Pfandhäusern ab. Die hatten gutes Equipment zu fairen Preisen. Ebay existierte bereits, aber was dort angeboten wurde, war teurer. Und du wusstest nie, ob es einwandfrei funktioniert. Im Pfandhaus konntest du die Geräte vor dem Kauf ausprobieren.”
Und mein Leben änderte sich für immer
Zu den Vorbildern in Naples’ Jugend gehören Flying Lotus, Madlib und Caribou. Künstler, die elektronische Musik machen, aber nicht zwangsläufig Clubmusik. Obwohl noch sehr jung, weiß der Heranwachsende, dass er einmal Musiker wird. Nach dem Ende der High School zieht ein guter Freund von ihm nach New York um. Naples sollte ein halbes Jahr später folgen. Dabei war der Plan eigentlich, studieren zu gehen.
„Ich hatte aber null Bock darauf”, erklärt er. „Ich wollte etwas mit Musik machen. In Florida war das zur damaligen Zeit nicht möglich, es war schlichtweg nichts los. Ich wusste, dass ich dort nicht bleiben werde. New York war die logische Konsequenz. Die Stadt liegt ebenfalls an der Ostküste, und ich wollte immer schon hier leben.” Mit 19 wagt er den Sprung und zieht um. In New York hat Naples plötzlich die Möglichkeit, die Künstler*innen zu sehen, die er in seinem Zimmer in Florida nur hören konnte. „Die Veranstalter in New York flogen Idole wie Todd Terje ein. „Es war 2010, 2011. Die Stadt explodierte damals. Labels wie L.I.E.S. drangen bis nach Europa vor, Levon Vincent schaffte den Durchbruch. Die Leute schauten plötzlich wieder auf die Stadt. Ich schätze, ich war einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort.” Wie recht er damit haben sollte, ahnt Naples zu der Zeit allerdings noch nicht.
„Ich bin durchgedreht, hing die ganze Zeit in Clubs herum. Ich habe den Fokus verloren, Gigs verpasst. Rückblickend war das nicht meine Glanzzeit.”
Anthony Naples
Der Start in der neuen Stadt verläuft vielversprechend. Zwei Wochen nach seinem Umzug ergattert Naples einen Job beim New Yorker Label Captured Tracks. Erst Praktikant, bringt er es schnell zum Assistant Manager. In seiner Wohnung arbeitet er nach Feierabend weiter an eigenen Tracks. Veröffentlicht hat er zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Eine Rundmail von Justin Carters Mister-Saturday-Night-Partys sollte das ändern. Die Veranstaltung ist bis heute eine der besten Adressen für Housemusik in New York.
„In der Mail verkündeten sie, dass sie zusätzlich zur Party auch ein Label starten wollen und daher offen für Demos sind”, erzählt Naples. „Ich habe ihnen ein paar Sachen geschickt. Sofort bekam ich eine Antwort. Justin meinte, dass ich den Track auf keinem Fall zu jemand anderem schicken sollte. Kurz darauf trafen wir uns. Er hatte minimale Änderungsvorschläge, ich sollte beispielsweise die Takte am Ende ein wenig verlängern, damit DJs besser herausmixen konnten. Ich bin dann nach Hause, habe die Sachen umgesetzt und am Schluss noch eine kleine Basslinie eingearbeitet, weil Justin meinte, dass es der Track vertragen könnte.”
Eine Woche später spielt Four Tet auf einer Mister Saturday Night. In einer intimen Location, was sich rückblickend als entscheidender Vorteil herausstellen sollte. Justin Carter hatte Naples zu diesem Zeitpunkt bereits unter seine Fittiche genommen und fragte ihn, ob er nicht Lust hätte vor der Party zum Artist-Dinner zu kommen. „Ich bin also hin, und dann ist da plötzlich Kieran (Hebden, bürgerlicher Name von Four Tet, d.Red). Als Superfan, der ich seit Jahren bin, löcherte ich ihn mit Fragen. Kieran war freundlich, aber er nahm nicht wirklich Bezug auf das, was ich sagte. Vermutlich habe ich ihn einfach zu sehr zugetextet. Später auf der Party hat Justin vor Kieran aufgelegt. Plötzlich spielte er meinen Track. Kieran war auf einmal voll da. Er drehte sich zu mir um und meinte, ‚Entschuldige, dass ich dich unterbreche. Aber von wem ist der Track?’ Ich dachte nur, ‚Ok, er wird gleich sagen, dass er scheiße klingt und Justin was anderes spielen soll.’ In dem Moment kam ein Freund von mir auf uns zu, schrie, ‚Dieser Junge hier hat den Track produziert!’, und zeigte auf mich. In dem Moment setzte die Bassline ein, die Crowd drehte durch. Und mein Leben änderte sich für immer.”
Für Hebden ist „Mad Disrespect” der Track des Jahres. Er verspricht, ihn von jetzt an überall zu spielen, und übernimmt damit die Funktion eines entscheidenden Katalysators. Nicht zuletzt dank ihm landet die Nummer in den Jahrescharts vieler Top-DJs, heute ist die EP ein Klassiker. Als 2012 die erste Pressung herauskam, war Naples gerade einmal 21 Jahre alt. „Das war wie in einem Traum”, schwelgt er. „An vieles in den vergangenen zehn Jahren erinnere ich mich nur schwach, aber diesen Moment werde ich nie vergessen.”
Naples’ Leben macht mit der Veröffentlichung einen radikalen Wandel durch. Freunde sehen ihn kaum noch, er tourt durch Japan und Australien. „Dabei hatte ich noch nicht mal einen Reisepass!”, lacht er. „Ich war ja nie über die US-Ostküste hinausgekommen.” Dem Touren folgen zwei weitere Umzüge. Naples verlässt New York, geht erst nach Los Angeles, um kurz danach in Berlin zu landen. „Alle meine Freunde sind damals nach Berlin gezogen”, führt er aus. „Das Leben dort war viel günstiger.” Doch Naples, damals 23 Jahre alt, verliert sich im Nachtleben der Hauptstadt: „Ich bin durchgedreht, hing die ganze Zeit in Clubs herum. Ich habe den Fokus verloren, Gigs verpasst. Rückblickend war das nicht meine Glanzzeit.”
Auflegen als Bonus
Auf Anraten seiner Freunde zieht Naples nach einem Jahr zurück nach New York, um sein Leben „wieder in den Griff zu kriegen.” Rückblickend abermals der richtige Schritt zur richtigen Zeit. Wieder in New York, bekommt seine Karriere einen entscheidenden Schub, als er 2015 sein Debütalbum Body Pill herausbringt – und das gleich auf Kieran Hebdens prestigeträchtigem Label Text. War es zu Beginn Justin Carter, der Naples protegierte, übernimmt fortan Hebden diese Rolle. Der Brite ist Vorbild und Mentor in Personalunion.
Inzwischen ist Naples bei vier Alben angekommen. Chameleon, sein im September erschienenes neuestes Album, verdichtet seine musikalische Entwicklung, die einmal mit samplelastigen House-Tracks begann, danach starke Ausflüge in Dub Techno zuließ und sich aktuell bei kosmischen Gitarrensongs einpendelt. Stilistisch greifbar war Naples als Produzent nie wirklich. Eine Besonderheit, die er geschwind herunterspielt, während er die Bedienung heranwinkt, um zum Nachtisch einen Schwung Sesambällchen zu bestellen. „Es gibt da dieses Zitat von Cormac McCarthy (ein US-amerikanischer Schriftsteller, d.Red.), der einmal sagte, ‚Novellen werden aus Büchern gemacht.’ Er meint damit, dass seine Geschichten aus anderen Büchern stammen, die er gelesen hat. Ich kann mich total damit identifizieren. Ich höre den ganzen Tag die Musik von anderen. Deshalb schäme ich mich auch nicht, wenn ich sage, dass andere Künstler Einfluss darauf haben, was ich mache.”
Naples erwähnt in diesem Zusammenhang so diverse Künstler wie Actress oder den brasilianischen Gitarristen und Komponisten João Gilberto. Aber auch Talk Talks 1988 veröffentlichtes Album Spirit of Eden hat sich in seinem Kopf festgespielt. „Diese Künstler leben alle in ihrem eigenen Universum”, erklärt Naples seine Bewunderung. „Ihre Musik ist unvergleichbar. Du tauchst ein und verschwindest darin.”
„Am Freitag in Paris auflegen, am Samstag in London und sonntags dann noch in Berlin – das ist kein gesunder Lebensstil, finde ich.”
Anthony Naples
Chameleon ist ein klassisches Pandemiealbum geworden. Entworfen und eingespielt während Monaten der Ungewissheit, einer Zeit als „die Welt in Schmerzen lag”, wie Naples sagt. Clubtracks suchen Hörer*innen vergeblich, bis sie zum ersten Mal merklich eine Bassdrum im Viervierteltakt vernehmen, müssen neun Tracks durchlaufen. Wobei man eher von Songs sprechen sollte. Gitarre, Bass – diese Instrumente standen lange Zeit in Naples’ Zimmer herum, ohne von ihm berührt zu werden. Obwohl er weiß, wie sie zu spielen sind, besann er sich ausschließlich auf die typischen Produktionsalgorithmen, nach denen Clubmusik funktioniert, bis er sich, irgendwann fragte: „Warum benutze ich nicht die Instrumente, die vor mir stehen?”
Für Chameleon hat er sie vom Staub befreit und mit ihnen ein Klanggerüst entworfen, das irgendwo zwischen Ambient, Downtempo und Trip-Hop oszilliert. So könnte der Titeltrack mühelos als verlorener Bonustrack des Unkle-Meilensteins Psyence Fiction durchgehen. Clubtracks will Naples weiterhin machen, sie aber ausschließlich in Form von EPs herausbringen. Nicht ganz ungefährlich für einen Künstler, den die Clubwelt überhaupt erst wegen seiner Clubtracks wahrgenommen hat. Naples ist sich des Risikos bewusst: „Wenn deine DJ-Karriere von deiner Musik abhängt, tendierst du dazu, lediglich die Musik zu produzieren, die dir weitere Bookings garantiert. Bei Chameleon habe ich ganz klar darauf gepfiffen.”
Naples hat keinen Manager. Seinen Kompass bilden Ehefrau Jenny Slattery, die gleichzeitig Partnerin seines Labels Incienso ist, und eben Kieran Hebden. Im Jahr spielt Naples 40 bis 50 Gigs. Verglichen mit anderen DJs ist das eine überschaubare Zahl. Obwohl er wesentlich öfter auflegen könnte, hat sich Naples bewusst dagegen entschieden: „Am Freitag in Paris auflegen, am Samstag in London und sonntags dann noch in Berlin – das ist kein gesunder Lebensstil, finde ich. Und gut für die Umwelt ist es auch nicht. Außerdem fördert es nicht gerade die lokalen Talente. Und gerade die sollten mehr Unterstützung bekommen. Es ist schon fast redundant, dass sie mich als DJ von außerhalb einfliegen.”
Selbstlose Worte, die unterstreichen, wie Naples sich im Laufe der Jahre vom Clubproduzenten zum Albummusiker weiterentwickelt hat, der das Auflegen als Bonus zum Musikmachen ansieht und nicht andersherum. „Für mich ist das DJing nicht gleichbedeutend mit Erfolg”, führt Naples aus. „Erfolg für mich ist allein, die bestmögliche Musik zu machen. Das Auflegen macht Spaß, es ein toller Weg, um mit der Musikgemeinschaft zu interagieren, zu reisen und Freunde zu treffen. Aber es ist nicht meine oberste Priorität.” Das Perfektionieren seiner eigenen Handschrift als Musiker ist ihm erheblich wichtiger. „Obwohl ich auf dem neuen Album erstmals viele Live-Instrumente spiele, meinte Ben UFO, dass es immer noch nach mir klingt. Das ist mir sehr wichtig. Auch wenn meine vorangegangenen Alben stilistisch anders sein mögen, hoffe ich, dass man mich immer noch darin wiedererkennt.”
Die Rechnung kommt, 75 Dollar stehen unterm Strich. Wir splitten den Betrag. Vor dem Restaurant trennen sich unsere Wege. Naples will zurück in sein Heimstudio, zurück an die Arbeit. Sein nächstes Album, es ist bereits in der Mache.