Die Pandemie-bedingte Hyperinflation von DJ-Mixen macht es nicht leicht, sich in diesem Bereich zu orientieren. DJ-Mixe wollen auf unmittelbare oder gebrochene Weise das Geschehen im Club repräsentieren, insofern hatten sie 2021 ihre unmittelbare Funktion mehr oder weniger verloren – oder wurden in ausufernde Ambient-Epen umgedeutet. Insofern sie jetzt aber die Sehnsucht nach etwas ausdrücken, das nicht stattfinden kann, haben sie sogar einen tieferen Sinn erhalten.
Karima F – Dekmantel Podcast 320
„Norwegian-Algerian artist Karima F doesn’t fit in with the usual Scandi-disco stereotype”, beginnt das Dekmantel-Kollektiv seinen Begleittext für die 320. Ausgabe des hauseigenen Podcasts und kann sich dabei eine kleine Spitze in Richtung der grellen skandinavischen Disco-House-Szene nicht verkneifen. In der Tat macht Karima F vieles, wenn nicht alles anders als das Gros der DJs jenseits Schleswig-Holsteins. Den langsam einsetzenden Frühling bekommt sie damit aber trotzdem mehr als adäquat vertont, nur eben mehrere Spuren abwechslungsreicher.
Los geht’s mit Animal Collectives Evergreen „My Girls”, das nach seinem kosmischen Einstieg jäh abbricht. Kurz darauf folgt eisige Kompakt-Schule von The Field, ehe Karima F ihren geschmackssicheren Breakbeat-Trott etabliert. Mal erklingt sogar Reggae, dazwischen immer wieder Eigenproduktionen und Remixe. Ein Herz für die eingangs zitierte Skandi-Disco scheint aber doch vorhanden, nicht umsonst zwängt sich in Minute 27 „Ravende Gal” in den Mix. Den Rest der etwa 70 Minuten dominieren aber Breaks. Etwa von Azu Tiwaline, die jüngst einen schlicht hervorragenden Crack-Mix abgeliefert hat, oder von Jurango, der in der aktuellen Ausgabe unserer Platten der Woche gastiert. Der Abschluss bleibt wie der Anfang der Indie-Electronic, genauer gesagt dem Shoegaze im Panorama-Bar-Gewand, vorbehalten: Avalon Emersons „Gilded-Escalation”-Rework von Slowdives „Sugar For The Pill” entlässt mit melancholischem Bombast. Maximilian Fritz
Yu Su – Fact Mix 799
Angesichts einer dritten Corona-Welle lohnt der Griff in die Fourth-World-Sammlung. Mit den außerweltlich anmutenden Veröffentlichungen des kalifornischen Labels Music From Memory etwa lässt es sich hervorragend fort träumen. Zuletzt hat auch die chinesisch-kanadische Künstlerin Yu Su Zugang zum Imprint gefunden. Seit Januar schmückt ihr Debütalbum Yellow River Blue die Speerspitze der Label-Diskografie. Ihre neueste musikalische Veräußerung ist gerade als DJ-Set zu hören. Mit ihrem FACT Mix führt Yu Su durch eine angenehm bizarre Kulisse aus unterschiedlichsten musikalischen Darbietungen. Angefangen im gemächlichen Downtempo wird nach knapp fünfzehn Minuten die Geschwindigkeit angezogen. Schnell zieht der Mix in seinen Bann. Die Außenwelt verliert an Konturen und ehe man sich versieht, ist das triste März-Berlin gegen eine freundlichere Welt eingetauscht. Verträumt engagierter House, gespickt mit allerlei psychedelischen Vocal-Fragmenten, ergießt sich in filigrane Leftfield-Rhythmen und fokussierter Electro liegt krautigen Gitarrenriffs in den Armen. – Optimistisch, aber etwas neben der Spur, findet man sich nach knapp einer Stunde überrascht wieder in die überlaufene S-Bahn blinzeln. Johann Florin
Bambounou – Dekmantel Podcast 334 (Dekmantel)
Bambounou darf mit Fug und Recht als einer der vielseitigsten DJs unserer Zeit bezeichnet werden. Dass er außerdem scharf am Zahn ebendieser agiert, beweist er nicht nur mit Veröffentlichungen, die mal schillernd, zuletzt auf seinem eigenen Label Bambe eher minimal-reduziert klangen, sondern auch mit stilistisch diversen Mixen und Festival-Sets. So prägte der Franzose beispielsweise im Mai letzten Jahres, als Lage und Lockdown noch frisch waren, das plötzliche Überangebot an Ambient und New-Age-Mief mit einer possierlichen Vogel-Studie und lieferte damit ein Set, das nicht belanglos, sondern wohlüberlegt daherkam.
Sein Dekmantel Podcast schlägt stilistisch eine komplett andere Richtung ein, aus jeder Pore tropft die Vorfreude auf den Clubbesuch, Resignation weicht Antizipation. Techno, etwa von Planetary Assault Systems, geht über in verlustfrei gemixten Electro, etwa von Münchner Duo Glaskin. Gegen Ende wird’s wieder gerader, progressiver Techno – Skee Masks „CZ3000 Dub” beschließt den Mix – bringt die Stunde routiniert zu Ende. Und lässt darauf hoffen, dass der Optimismus, den Bambounou hier befeuert, sich nicht in wenigen Wochen als Strohfeuer entpuppt. Maximilian Fritz
DJ Mell G (HÖR)
Direkt aus Hamburgs Underground-Szene bringt die DJ und Produzentin DJ Mell G alle möglichen Formen von Ghettotech, Breakbeat, Footwork, Jungle, Booty Bass, Electro sowie R&B in ihre Sets mit ein. Die weltweite Pandemie nutzte Melina als Startrampe, um sich mit Tracks wie „Question My Love“, „i fcck as i live“ und „break y0 neck“ sowie mit der Veröffentlichung ihrer Debüt-Mini-LP BOOTY FABULOUS einen Namen zu machen. Zudem startete die DJ Anfang dieses Jahres ihr eigenes Label namens Juicy Gang Records.
In ihrem Set für HÖR steigt die Künstlerin mit „MYBIG9“ von 7uka ein und verschafft sich damit augenblicklich Gehör. Es gibt keinen langsamen oder sanften Einstieg – Mell Gs Mix nimmt von Beginn an den Raum ein und schafft es durch einen erfrischenden sowie sorglosen Vibe, die Körper zum Tanzen zu bringen. Auch musikalische Werke von DJ-Kollege MCR-T haben Platz in der Trackliste gefunden. Die Künstlerin spickt Acid-Techno mit Hip-Hop- und Rap-Vocals, aber auch schrilles weibliches Stöhnen ist immer wieder zu hören. Das Springen zwischen verschiedenen Genres sowie das Vermischen neuer und alter Tracks wie beispielsweise Debonaires „Biggest Bass Drum“ machen ihren speziellen, außergewöhnlichen Stil aus. Franziska Nistler
Emissive – MIXED BY (Bolting Bits)
„Homogeneity is not really celebrated here the way it might be in other music communities”, philosophiert Emissive im Interview mit dem Magazin Bolting Bits aus Montreal. Evan Vincent, wie der in Toronto ansässige DJ und Producer wirklich heißt, hat das Momentum auf seiner Seite. Kürzlich erschien seine EP Wave Science auf Pacific Rhythm, Anfang Februar mit City of Rooms ein noch stärkerer Fünf-Tracker. Wenn er nicht solo produziert, formt er gemeinsam mit Ian Syrett das Duo Active Surplus. Egal ob schnell (City of Rooms) oder etwas gemächlicher (Wave Science und Active Surplus), Emissives Musik hat einen analogen Charakter, ist dicht gewoben und klingt meist wie distinkt kanadischer House, der um sinnige Nuancen und Stilmittel ergänzt wurde.
Rubrizieren lässt sich sein Beitrag zur MIXED-BY-Serie von Bolting Bits, der in kurzweiligen 68 Minuten das eingangs zitierte Mantra in Musik umsetzt, hingegen nur bedingt. Nicht jeder Track, obwohl attraktiv gemixt, passt tonal zum anderen. In leicht überdurchschnittlichem, teilweise auch üblichem House-Tempo spielt Emissive Tracks, die ihn gegenwärtig inspirieren. Schwarze Künstler*innen verschiedener Generationen treten auf, darunter der unverwechselbare Dub-Vokalist Paul St. Hilaire (über einem Beat von Moritz von Oswald und Mark Ernestus als Round Three), Galcher Lustwerk mit seinem aktuellen Stepper „Can’t Believe” oder, perfekter Closer, Anz mit dem einnehmenden Funk aus „Unravel in the Designated Zone”. Tolles Set, das das Versprechen eines unbeschwerten Sommers schon einlöst, bevor dieser überhaupt richtig angefangen hat. Maximilian Fritz
Roman Flügel (Rinse FM)
So vielseitig und originell wie Roman Flügel selbst ist auch sein Mix für den in London ansässigen Radiosender Rinse FM. Mit atmosphärisch getriebenen Grooves, welche sich sowohl zum reinen Zuhören als auch für den Dancefloor eignen, entführt der deutsche Produzent, DJ und Live-Act für ganze 120 Minuten in sonnengetränkte Klangsphären. Von Nostalgie über Melancholie bis hin zur Euphorie deckt Flügel mit weichen, entspannenden Hooks eine breite Palette an Stimmungen und Gefühlswelten ab.
Melodische Parts, die sich trotz ihrer Ungleichheiten komplettieren und dabei eine Achterbahn der Klangnuancen erleben. Weiter geht es mit groovig housigen Breakbeats, die einen Hauch Jungle-Vibe in sich tragen. In großen Schritten und hohem Tempo begibt sich Flügel nach rund 45 Minuten in die Welt der clubtauglichen Acid-Sounds und schlägt damit einen markanten Richtungswechsel ein. Im Anschluss singt eine Vocalstimme die Worte „Kommt mit mir” und transportiert die Stimmung einer durchzechten Nacht, die die Morgenstunden einläutet und den Tag mit einem lachenden und einem weinenden Auge begrüßt. Franziska Nistler
Dream_E – IA MIX 351 (Inverted Audio)
Mai, Juni, Juli, August, September – normalerweise Monate für mitgeschnittene Festival- oder Open-Air-Mixe, weniger für introvertierte Podcasts aus der Ambient-Konserve. Sets, die auf dem Dancefloor stattfanden, ohne dass man sie live miterlebt hätte, funktionieren durch Kopfhörer aber in der Regel nur bedingt. Bei Dream_Es motivierendem Hitfeuerwerk, das er auf einem Rave in den Wäldern um Berlin abbrannte, verhält sich das glücklicherweise anders. Nicht nur auf musikalischer Ebene bescheren die zwei Stunden des Schotten an den Decks, der früher als The Burrell Connection produzierte, Glück, Zander Hays schnell und überaus angenehm gemixte Auswahl entlockt dem Publikum Freudenschreie am laufenden Band, auch Gesprächsfetzen sind immer wieder zu hören: „You got an ashtray?”, erkundigt man sich umweltbewusst.
Die immer wieder aufbrandende Euphorie kommt nicht von ungefähr: Früh im Mix taucht Mike Huckaby auf, kurz darauf DJ Sprinkles’ Bombe „Grand Central (Part I)”. Octave One, Testes „The Wipe” in der „5-AM-Synaptic”-Version, Dave Clarke, James Ruskin, unveröffentlichtes Material von Hay selbst und etliche weitere Spaßgaranten reihen sich aneinander, ohne in eine Tour de Force eines Feten-DJs zu münden. Hört sich zu normal an, um wahr zu sein, man wäre gern dabei gewesen. Maximilian Fritz
Doc Scott – Ilian Tape Podcast Series 069 (Ilian Tape)
Doc Scott bedarf als lebende Drum’n’Bass- bzw. Jungle-Legende und Mitgründer von Metalheadz keiner Vorstellung, für seinen Mix für die Ilian-Tape-Podcast-Serie hingegen sind durchaus ein paar Sätze der Lobhudelei fällig. Nach einem klassischen, aber sehr schönen Ambient-Intro schieben sich Techno-Walzen und Breakbeat-Monster schwer röchelnd übereinander. Die BPM-Anzahl fällt zwar etwas niedriger aus als in Doc Scotts natürlichem Habitat, der Brite meidet gerade Beats aber auch in diesen knapp 92 Minuten wie der Teufel das Weihwasser.
Spannungsabfälle sind nicht vorgesehen: Wer nach Kickstartern von Amotik, Inigo Kennedy oder Jon Hester mit einem moderaten Mittelbau rechnet, irrt, intensiviert sich die Stimmung zwischen Katharsis und gähnendem Molloch doch Track um Track. Besonders beeindruckt dabei die Selektion, in deren Zuge Scott McIlroy von Deetron bis Stanislav Tolkachev die Diskographie jedes Producers nach genau dem Track durchwühlt hat, der optimal ins Set passt. Genau genommen läuft hier bis auf kurze Gemütlichkeiten und sirrende Drum’n’Bass-Ausflüge ein dröge pulsierender Beat durch, der durch fortwährende Variation aber mit der Zeit nur noch interessanter wird. Maximilian Fritz
Planet Uterus – To All Dreamers
Die Pandemie hat einiges verändert, aber die zu erwartende Ambient-Welle blieb mehr oder weniger aus. Künstler*innen komponierten und produzierten weiterhin für den Sehnsuchtsort Dancefloor als sei alles wie bisher. Drone, Field Recordings und Noise liefen auch schon vor dem großen Shutdown ganz veritabel, und vermutlich braucht es einiges mehr als 24/7-Abschottung, um für den Sehnsuchtsort einsame Waldhütte zu komponieren und produzieren.
Dennoch: King of Aliases Traumprinz droppte jüngst vier recht unterschiedliche DJ Mixes. Auf einem dieser vier Sets, auf To All Dreamers, versammelt er vielfach ziemlich bekannte Tracks im ungewohnten Zusammenhang. Träume sind nicht immer schön, vor allem nicht bunt oder pastellfarben. In einem durchgehend lieblichen, niemals kitschigen, mitunter experimentellen, zuweilen leicht verstörenden Sound changiert er zwischen nebulös winterlichem Sigur-Rós-Feeling, der Verwegenheit von Angelo Badalamenti, nimmt Klassiker von Aphex Twin mit einer Akustik-Version von „Rhubarb“ auf und demonstriert Ambitioniertheit mit Jefre Cantu-Ledesma und Irisarri oder „Like a Dream“ von Zbigniew Preisner und Marta Smuk, deren Gesang eine angenehmen Überraschung auf dieser sonst instrumentalen Zusammenstellung ist.
Ein besonderes Schmankerl ist die Kollaboration von Torus und DJ Lostboi, „Pier“, die wie eines der sich langsam in seine Einzelteile auflösenden Tapes von William Basinski klingt. Weiterer herzzerreißender Höhepunkt ist Abul Mogards „The Purpose of Peace“. Eine Mischung, die vielleicht Assoziationen zum faktischem Elend des Status Quo und mögliche Hoffnung hervorruft. Sicherlich aber unterhält. Lutz Vössing
Anna Adams – objekt klein a – October 29, 9pm-10pm (HÖR)
Anna Adams, Resident DJ des Dresdner Clubs objekt klein a, zeigt mit diesem Mix their gesamte musikalische Virtuosität. In dem einstündigen Set bei HÖR gelingt es Anna problemlos, auf einem rasanten Tempo von 160 BPM zwischen schnellen Breaks und Hardtrance zu wechseln. Dabei kontextualisiert they Neues mit Altem, beispielsweise den wunderschönen Trance-Track „The Light At The End Of The Tunnel“ von Tunnel Vision aus dem Jahr 1995 mit frisch produziertem Electro von Mell G.
Ungefähr die Hälfte des Sets ist von dem Ansatz, Altes mit Neuem zu vermischen, geprägt. Gegen Ende des Mixes präsentiert Anna dann aber ausschließlich neue Musik. Technisch überzeugt they durch geduldige Übergänge, bei denen sich die Harmonien auch mal beißen dürfen. Ein wunderschöner Mix gelingt ab Minute 9, bei dem Anna das House-Vocal des vorherigen Tracks loopt und solange spielt, bis sich die neuen Harmonien wunderschön dazu ergänzen. Ein Highlight in der Mitte des Sets ist das tekkige „Speed Surfer“ von The Mover & Lunatic Asylum. Ob Anna damit der Hardtekk-Szene Dresdens Tribut zollen wollte? Jedenfalls spielt they ab der Mitte des Sets deutlich weniger Breaks und wendet sich schnellem Techno à la DJ Disrespect zu. Die beiden letzten Tracks bestechen hingegen wieder durch warm klingende Pads, die von markanten Breakbeats unterlegt werden. Vincent Frisch