A Guy Called Gerald – Britain’s Dirty Little Secret (Moozikeh Analog Room)
Der Mann schien ewig weg gewesen zu sein, man hat ihn in der Zwischenzeit ein bisschen vergessen. Doch nun ist da plötzlich eine neue A-Guy-Called-Gerald-Platte, ausschließlich auf Vinyl zu haben und veröffentlicht auf dem in Dubai ansässigen Label Moozikeh Analog Room, das von drei Exil-Iranern gegründet wurde. Zweifel kommen hoch, bringt er’s noch? Aber völlig zu unrecht.
Rückblende, Acid-House in Großbritannien – im Jahr 1988 sprangen ein paar Leute schnell auf den medialen Hype auf und landeten wie geplant in den Charts. Auch einem 21-jährigen Newcomer aus Manchester, der sich schlicht A Guy Called Gerald nannte, wurde dieser Erfolg zuteil – doch anders als andere seiner Landsleute kratzte er nicht nur an der Soundoberfläche. Seine Debütsingle Voodoo Ray schaffte es auch in den US-Clubs und gilt als ganz großer Klassiker. Es ging dann erst mal ganz schnell, Columbia Records sicherte sich sein Debütalbum, das natürlich nicht das kommerzielle Potenzial besaß, um die Erwartungen des Majors zu erfüllen.
Dann kamen die Neunziger, A Guy Called Gerald arbeitete fortan auf eigene Rechnung. Auf seinem Label Juice Box kam ein Top-Release nach dem anderen heraus. Zunächst vor allem Hardcore, dann eben die weitere Evolution des Sounds in Richtung Drum’n’Bass. Immer irgendwie anders und meist wagemutiger als der Rest. In den Nullerjahren landete Gerald Simpson in Berlin, auf der Strecke blieb so ein bisschen sein kreatives Feuer.
Zuletzt machte er jahrelang nur noch für sich selbst Musik. Was sich offenbar ausgezahlt hat, denn die vier Tracks auf Britain’s Dirty Little Secret sind das Beste, was dieser Typ namens Gerald seit mehr als 20 Jahren veröffentlicht hat. Am Start ist wieder seine gute alte Fuck-You-Attitüde. Der Opener der Platte heißt zwar „Old School”, ist aber überhaupt nicht die Nostalgie-Reise in sein früheres Ich, die der Titel vermuten lässt. Es passiert unheimlich viel, Störgeräusche, zappelige Beats wie zu Juice-Box-Zeiten, 303-Sounds, seine robotermäßig verfremdete Stimme. In ein gängiges Schema will sich dieser furiose Track aber so rein gar nicht einfügen lassen.Das schleppend-clonkige „Sugoi” kommt ebenfalls mit einzelnen Klangelementen aus der Vergangenheit und vocoderartigen Vocals, ist aber genauso wenig zu greifen. Mit dem dubbigen „Flash Fight” folgt ein weiterer Volltreffer. Eigenartig ist der vierte Track „False Religion”. Gerald Simpsons unverfremdete Stimme in den Hintergrund gemischt, ein House-Beat und doch ein altmodischer Indie-Song irgendwie. Holger Klein
Diverse – Thee Church Ov Acid House Volume 1 (Pudel Produkte)
Im Techno gilt ja: Vorsicht bei Various Artists. Gilt ebenso für Acid-House. Genauer Thee Church Ov Acid House. Unter dem Titel versammelt das Hamburger Label Pudel Produkte sechs verschiedene Projekte mit recht unterschiedlichen Stilen – Acid ist auch darunter. Die Musiker hinter den Namen Machines, Bachelor Kisses oder T.C.O.A.H. sind allerdings konstant Jörn Elling Wuttke, unter anderem bekannt von Alter Ego, und Oliver Bradford. Sie liefern trippig psychedelischen Acid („Substanz”), Deep-House-artigen Downtempo auf Marimba-Basis mit sonderbaren Sounds im Hintergrund („Surprise”) oder zum Schluss verregnet-verhalltes Gitarrenzupfen inklusive vernuscheltem Flüstergesang. Ja, doch, ist zum Niederknien. Amen. Tim Caspar Boehme
DJ Lycox – Lycoxera (Príncipe)
In der Musik von DJ Lycox passiert sehr viel, obwohl darin doch sehr wenig zu hören ist. Auf seiner dritten Veröffentlichung für das Lissaboner Label Príncipe verzahnrädert der Pariser Produzent trockene Drums mit minimalistischen, fast schon perkussiv eingesetzten Melodien, bringt höchstens noch ein an Druckergeräusche erinnerndes Surren als rhythmische Grundstruktur mit ins Spiel. Sounddesign? Interessiert ihn nicht, die Grooves miteinander zu verknoten aber schon.
Selbst ein dubbiges Stück wie „Wildin” hat keine eigentliche Klangtiefe, sondern schöpft seine Wucht rein aus dem komplexen Miteinander eines tapsenden Four-to-the-Floor-Beats, einer heulenden Melodie und mehreren voneinander versetzten Sounds, die von einem Metronom stammen könnten. In stilistischer Hinsicht mag sich Lycox zwar vor allem auf Stile wie Kuduro und Kizomba beziehungsweise die Batida-Szene um sein Stammlabel beziehen und auf Lycoxera auch Afro-House-Einflüsse in seinen Sound integrieren, doch bieten die sechs – die Digital-Version des Releases kommt mit einem vocallastigen Bonus-Kollaborationstrack mit DJ Danifox – Stücke vor allem eins: Magischen Minimalismus in seiner reinsten und wirkungsvollsten Form. Die verspielte Strenge, mit der Lycox die einzelnen Klangereignisse dieser EP ineinander schiebt und miteinander in Schwingung versetzt, machen aus ihr nicht weniger als das stärkste Príncipe-Release seit Nídias LP aus dem Vorjahr – und schlicht eine der besten Singles des Jahres überhaupt. Kristoffer Cornils
Partiboi69 – MUPL002 (Mutual Pleasure)
Montags Mate, Dienstag druff. Kein Spaß, Partiboi69, die Meme-Maschine aus deinen Insta-Stories, schiebt sich wieder die Rave-Sunglasses übers Gesicht und labert ins Zwei-Euro-Headset wie ein nasentropfenabhängiger Callcenter-Mitarbeiter. 69. Haha! Ketamin. Lol! Unprotected. Geil! Partiboi69 flext Gated-Community-House durch den Verzerrer. Pumpt zur Peaktime die Gabber-Reifen auf. Und dinniert mit rotem Wein zur Sixty-Nine. Because er kann’s!Der Rave-Messias bespielt Ableton wie ein zwölfjähriger TikTok-Star mit Fläumchen auf der Oberlippe, pleast die Crowd mit Zielgruppen-Marketing von Stingboi Productions und ballert Sounds, für die man auf dem Weg zur Arbeit wieder umdreht. Zurück in den Club. Zurück in die Sixty-Nine. Wenn der Boi auf YouTube das Pferdeentwurmungsmittel verpustet, schlabbert halb Berlin mit. Mittlerweile preacht er seinen Wisdom sogar in Need-for-Speed-Kurzfilmen, bei denen Nicolas Cage auf Acid die Ziehharmonika auspacken könnte. Übrigens: Die sechs Tracks der EP – Bängers für die nächste Omikron-Sause – kommen bei seinem eigenen Label Mutual Pleasure raus. Schließlich reitet der Mann schon weiter auf seinem schwarzen Araber. Better safe than sorry, lol! Christoph Benkeser
Yarn Init – Ill Compound (Mind Controlled Rectifier)
„Ah Shit, here we go again.” So begann 2004 der Gaming-Klassiker GTA San Andreas, dessen Titelsong das Leipziger Duo Yarn Init für den Auftakt ihrer neuen Platte Ill Compound verwerten. „San City“ ist eine bassgeladene Liebeserklärung an dieses kulturelle Artefakt der 00er, die sich an der Schnittstelle von Hip Hop und Electro bewegt und starken Bewegungsdrang auslöst. Die Platte befindet sich hier eindeutig im Kompetenzbereich des veröffentlichenden Labels Mind Controlled Rectifier: Bass, Breaks, und Dirtbag-Electro erster Güte (sehr empfehlenswert sind auch die zwei hier erschienenen Compilations).
Dies wird auch durch den Rest der A-Seite deutlich. Voluminöse Kicks und schnatternde Hats sorgen in „Mindset Miami” und „Meine 808” für Gun Fingers und wippende Oberkörper, zwei Tracks, die sofort Bock auf Club, Schweiß und vibrierende Trommelfelle machen. Bevorstehende Schließungen des Nachtlebens treten beim Hören schmerzhaft ins Gedächtnis.
Yarn Init bleiben sich und ihrem Sound über die gesamte Maxi treu und demonstrieren dennoch eine beeindruckende Bandbreite. Nach den erwähnten Club-Bangern der A-Seite orientiert sich „Scanning” in Richtung Detroit, „IBS” rückt die ganz tiefen Bassfrequenzen in den Vordergrund und „Motherfuckers on the Planet” bricht mit einer brodelnden Bassline aus seinem drexiyanisch anmutenden Intro heraus. Die Platte hat keinen schwachen Track, die Zusammenhänge sind hier total klar, und trotzdem steht jeder Teil für sich. Käufer*innen der digitalen Version erhalten noch zwei komplementäre Bonustracks, die von jeweils einem Teil des Duos solo produziert wurden. Ruben Drückler
Und weil wir in der GROOVE-Redaktion diese Platte für so außergewöhnlich halten, holen wir noch eine Zweitmeinung von unserem Spezialisten für „breakige Floorkiller” ein:
Lang, lang scheint’s her: Endlich mal gute Neuigkeiten aus Hypezig. Nachdem die destruktive Clubpolitik Sachsens bei sämtlichen Nachtliebhaber*innen berechtigterweise nur noch Kopfschütteln und Endlos-Frust hervorruft, bringt das Duo Yarn Init mit Ill Compound einen weiteren breakigen Floorkiller unter das Volk. Balsam für die geschundene Szene ist in diesen Tagen herzlichst willkommen. Ihre dufte Fusion aus kerosingeladenen 808-Beats, kantigen Rap-Samples und knarzenden Electro-Synths lässt die beiden jedoch eh gerade über den Dingen schweben. Was vielleicht ihren unbeschwerten Sound, der so gar nicht nach mehrfach abgeschlossenen Clubtüren klingt, ein wenig zu erklären vermag.
Schon ihr erstes Release, eine scheppernde Feel-Good-Overdose auf Clear Memory, setzte auf dieses Muster. Ill Compound zeigt dennoch jetzt schon ein präzises Finetuning ihrer Maschinenparkkompositionen. Die Rap-Samples machen generös Platz für Stingray-esken Detroit-Funk und Vocoder-Magic im Stile eines jungen Anthony Rother. Diese subtile Veränderung morpht den sorgenlosen Charme der ersten Veröffentlichung, so sympathisch er auch sein mag, zu einem zeitlosen, weil erwachsenerem Release. Das Kunststück, dabei ihre mühelos wirkende Leichtigkeit nicht zu verlieren, macht diese 12-Inch aus. Andreas Cevatli