The Bug (Foto: Presse)
Kevin Richard Martin verkörperte in seiner musikalischen Laufbahn etliche Rollen: In den Neunzigern gründete er gemeinsam mit Justin Broadrick das Duo Techno Animal, insbesondere in den Zweitausendern machte er sich mit seinem geläufigsten Pseudonym The Bug einen Namen. In der zugehörigen Musik kollidierten Dancehall, Dub, Reggae und Bass Music unter düsteren MC-Parts.
2008 kulminierte die The-Bug-Formel im Erfolgsalbum London Zoo, Ende letzten Jahres kürten wir In Blue, die Kollaboration mit Dis Fig, zum Album des Monats. Im August veröffentlichte The Bug, der in den letzten Jahren unter Klarnamen Ambient produzierte und zuletzt den Sowjet-Klassiker Solaris neu vertonte, mit Fire seit langem wieder ein Album in typischer Manier: Dystopische Soundwalzen und grimmige Raps überzeugten die internationale Presse.
Fire und Martins seit Pandemiebeginn schier unersättliche Veröffentlichungswut waren Grund genug, sich mit dem Briten für ein Interview zu verabreden. Im Gespräch mit GROOVE-Redakteur Maximilian Fritz vergleicht er seine bisherigen Wohnorte London, Berlin und Brüssel, erklärt, wie ihn seine Rolle als Familienvater menschlich verändert hat, und äußert seine Gedanken zur Cancel-Culture-Debatte und zur Causa Dominick Fernow.
Seit Pandemiebeginn hast du massenhaft Musik produziert. Hast du eine Routine entwickelt und kannst einschätzen, wie viel Zeit du dafür investiert hast?
Genau sagen kann ich das nicht, aber ich habe etwa zehn oder elf Alben produziert und gemixt. Ich weiß es selbst nicht mehr genau. (lacht) Nach dem Umzug nach Brüssel sofort mein Studio aufzubauen, war für mich ein Weg, meine geistige Gesundheit zu behalten.
Wie lief der Umzug denn?
Wir sind hierher gezogen, einen Tag bevor Belgien seine Grenze zu Deutschland geschlossen hat. Zu viert. Von hier aus habe ich dann mit
ansehen müssen, wie jeder meiner Auftritte für das restliche Jahr abgesagt wurde. Da wusste man noch nicht, wie lange das so weitergehen würde.
Wie hast du darauf reagiert?
Ich habe mir die Frage gestellt, was ich jetzt mache. Nichts mehr mit Musik? Mir die Pulsadern aufschneiden? (lacht) Oder versuche ich mich an etwas Konstruktivem? Nutze ich mein Studio als eine Art Kloster und erhalte mir meine Leidenschaft für Musik?
„Musik war immer mein wichtigster Lebensinhalt. Ich bin in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen, die sich damals nur in der Wolle hatte. Reiche Verwandte hatte ich nicht, weshalb ich immer für mich selbst sorgen musste.”
Früher hast du in London gewohnt, wo du dich offenbar sehr wohl gefühlt hast. In Interviews hast du es wohlwollend als „Freakshow mitten in Großbritannien” bezeichnet. Wieso bist du überhaupt nach Brüssel gezogen?
Brüssel ist eine Freakshow mitten in Belgien! (lacht) Dazwischen habe ich ja noch in Berlin gelebt. Das lag daran, dass ich mir London einfach nicht mehr leisten konnte. Die letzten neun Jahre dort habe ich in meinem Studio gelebt. Ich hatte keine Küche, keine Dusche. Es war eine Qual, eine Folter. Ich konnte tun, was ich liebe, aber in folterähnlichen Umständen. Während der Jahrzehnte, die ich in London verbracht habe, habe ich die Stadt gleichzeitig geliebt und gehasst. Wenn du Geld hast, ist es ein Königreich des Vergnügens. Wenn nicht, wirst du jeden Tag gepeinigt.
Und deshalb der Umzug nach Berlin?
Dafür war auch meine Freundin verantwortlich, die inzwischen meine Frau ist. Sie ist Japanerin, und David Cameron hat den Visa-Prozess für Japaner*innen erheblich verkompliziert. Sie hätte Großbritannien damals für immer verlassen müssen und wahrscheinlich nach Japan zurückgemusst. Wir wollten uns aber nicht trennen, deshalb habe ich Berlin vorgeschlagen. Eine Musikstadt, gut für uns beide.
Wie fandest du es hier?
Ich habe es gemocht, aber nie geliebt. Es geht immer was, für so eine große Stadt ist die Mentalität ironischerweise aber sehr kleinstädtisch.
Wie manifestiert sich das?
Jeder bleibt in seiner engen Nische. Hip Hopper mögen Hip Hop, Techno-Leute mögen Techno, Noise-Typen mögen Noise. Ich bin damals ja nach London gezogen, weil ich alles wollte. Ohne Grenzen. In Berlin hatte ich das Gefühl, dass es kulturelle und soziale Grenzen gibt. Die habe ich mit meiner Veranstaltungsreihe Pressure im Gretchen versucht aufzuweichen.
Wie lief das?
Es war sehr schwer, die Leute dafür zu begeistern. Die Line-Ups waren gut, mein Soundsystem noch besser. Ich habe meinen Tontechniker, der sich darum kümmert, vor ein paar Jahren gefragt, wo er hinziehen würde, wenn er Berlin verlassen müsste. Er meinte Brüssel, was mich verwundert hat. (lacht)
Warum bist du dann doch hingezogen?
Für mich war die Stadt unmittelbar mit Regen assoziiert. Irgendwann habe ich hier dann eine Show mit King Midas Sound gespielt und im strahlenden Sonnenschein gesehen, was für ein schöner Ort das doch ist. Ich liebe es hier. Unser Viertel ist sehr multikulturell und deshalb nicht zufällig das ärmste. Ich weiß nie, welche Sprache ich höre, wenn ich vor die Tür gehe, alles hat etwas Echtes, etwas Rohes an sich.
Du hast schon erwähnt, dass du geheiratet hast. Ihr beide habt außerdem zwei Kinder, für die ihr sorgen müsst. Spürst du deshalb Druck, was deine Kunst anbetrifft?
Massiv. Ich habe eine Wandlung durchgemacht von einem selbstbezogenen Einzelkind, das jede Entscheidung nur nach eigener Präferenz getroffen hat, zu einem Familienvater. Mein Leben habe ich bis zu diesem Zeitpunkt damit verbracht, gegen das Establishment zu sein, gegen Strukturen. Damit, alles zu hinterfragen. Und plötzlich bin ich ein Paradebeispiel für ein Mitglied einer Kernfamilie mit den durchschnittlichen 2,2 Kindern. (lacht) Das beeinflusst sehr.
Wurde deine Kreativität dadurch noch stärker gefördert? Veröffentlichst du deshalb so viel?
Musik war immer mein wichtigster Lebensinhalt. Ich bin in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen, die sich damals nur in der Wolle hatte. Reiche Verwandte hatte ich nicht, weshalb ich immer für mich selbst sorgen musste. Das habe ich durch die Musik hinbekommen. Ich wurde aus meinem Elternhaus geworfen und bin frühzeitig vom College abgegangen, als ich Drogen, Frauen und Punk entdeckt habe. Mein Überleben war immer untrennbar mit meiner Musik verbunden, ich hatte keine Wahl. Mit diesem Stress und dieser Angst lebe ich schon lange.
Hast du mal versucht einen Nine-To-Five-Job zu machen?
Nie. (lacht) Das war aber eine politische und philosophische Entscheidung.
Kannst du das ausführen?
Ich hatte das Glück, noch vor meiner Teenagerzeit die Sex Pistols hören zu können. Das hat mein Leben verändert. Crass haben das auch geschafft. Durch diese Musik habe ich angefangen, unter dem Gesichtspunkt anarchistischer Ideale zu hinterfragen, wieso wir überhaupt auf der Erde sind. Das hat mich offener, aber auch wachsamer gemacht. Wieso machst du Geld für jemand anderen, wenn du es für dich machen kannst? Natürlich bin ich noch abhängig von Labels, aber ich habe dennoch maximale Freiheit. Das verschafft mir Seelenfrieden.
„Ich wollte, dass es als Echo meiner Liveshows funktioniert, mit dieser Intensität. Fire hat für mich mit Entspannung und Anspannung zu tun. Mit Oppression und Expression.”
In einem Interview von 2019 meintest du, dass Veröffentlichungen nicht genug Resonanz und Zeit bekommen. Jetzt hast du in den letzten Monaten gleich mehrere Alben produziert. Denkst du, dass Industrie und Presse bereit dafür sind?
Nicht mal ich war das. (lacht) Es war so ein komisches Jahr. Roger Robinson von King Midas Sound hat mich auch schon drauf angesprochen. Er meinte: „Was ist nur mit dir passiert? Zuvor machst du drei Alben in zehn Jahren, dann ziehst du nach Brüssel und machst zehn Alben in einem Jahr.” Auch für mich kam das unerwartet, da stecken weder Planung noch Strategie dahinter. Das Studio bedeutet für mich Fokus, Balance.
Du hast dich mit deinen Ambient-Alben und dem Soundtrack zu Solaris aus dem Club herausgewagt. War das der Situation geschuldet oder etwas, das du ohnehin schon länger tun wolltest?
Für die Industrie bin ich dieser klangliche Schlägertyp, der Musik macht, um Soundsysteme zu sprengen. Das erste The-Bug-Album, das ich veröffentlicht habe, war aber ein Rescore für Francis Ford Coppolas Film The Conversation. Ich wusste schon lange, das ich wieder mehr mit Filmen und Klängen selbst arbeiten will. Währenddessen wurde ich aber immer wieder auf London Zoo reduziert, was es schwieriger gemacht hat, als Sounddesigner ernstgenommen zu werden. Jeder, der meinen musikalischen Werdegang kennt, zum Beispiel GOD oder Techno Animal, weiß, dass ich schon seit meinen Anfängen von Strukturen beeinflusst bin, die nichts mit Songs zu tun haben.
Also war die Entscheidung, wieder mehr davon zu machen, eine bewusste?
Definitiv. Und ich tat das auch, weil ich Visitenkarten brauchte. Ich musste etwas vorzeigen können, wenn ich Jobs außerhalb des ganzen Live-Kosmos haben wollte. Die Entscheidung war eine philosophische, eine ästhetische, eine künstlerische, aber auch eine pragmatische. Nebenher habe ich noch die zwei Bug-Alben In Blue und Fire gemixt.
Du hast dich unter Klarnamen ja bereits wieder auf Ambient fokussiert, bevor die Pandemie losging. Hat es dich genervt, dass mit Corona eine Ambient-Flut einsetzte?
Ich konnte das jedenfalls total verstehen. Die ersten Monate hier in Brüssel war an Clubmusik oder Songs überhaupt nicht zu denken. Wir haben schon darüber gesprochen, dass ich Vater wurde und eine Familie habe. Da muss man genau wissen, wie man seine Zeit nutzt. Es hätten ein, aber auch zehn Jahre vergehen können, bis es wieder Konzerte gibt. Deshalb kann ich nachvollziehen, dass so viele Leute in diese Richtung gingen.
Du hast eben schon In Blue erwähnt. Als das Album Ende letzten Jahres erschien, habe ich gelesen, dass du die Tracks schon länger auf deiner Festplatte rumliegen hattest und nur noch nach der richtigen Person für die Vocals gesucht hast.
Die erste Tür, an die ich damit geklopft habe, war Tirzahs. Ihr Management hat das Projekt aber abgelehnt. Kurz darauf habe ich zufälligerweise Dis Fig entdeckt, und als ich ihr Album gehört habe, fiel mir auf, dass das genau die Stimme war, die ich gesucht hatte. Wir haben uns kennengelernt, weil sie einen King-Midas-Sound-Track für einen Mix wollte. Und dann stellte sich heraus, dass sie einen extrem guten Musikgeschmack hat. Nicht wegen King Midas Sound, sondern wegen der Sachen, die noch in ihrem Mix waren. (lacht)
Und wie kamen die Tracks zustande?
Die hatte ich für einen Solid-Steel-Mix gemacht, für den mich Ninja Tune schon vor Jahren angefragt hatte. Ich habe damit versucht, Dancehall neu zu konfigurieren. Mit den Instrumentals war ich sehr zufrieden, wusste aber, dass ich sie so nicht rausbringen wollte. Denn ich war mir zwar sicher, dass sie auf dem Dancefloor gut funktionieren würden, wollte aber was für nach dem Club machen. Deswegen wollte ich eine Stimme darüber und habe die Tracks druntergemixt. Mir ging es um Post-Club-Musik.
Hast du immer Tracks parat, die du veröffentlichen könntest?
Ich arbeite immer an Musik, es ist eine Sucht, meine Stärke und meine Schwäche. Es geht nicht anders.
Auf Fire geht es hingegen actionreicher und wilder zu, der Charakter des Albums ist sinister. Kirchenglocken sind zu hören, es geht um Kriege und Kämpfe. Drückt das Album deinen Wesenszustand während der Pandemie aus oder hättest du es ohne genauso gemacht?
Das sind Beobachtungen, die ich nachvollziehen kann, allerdings habe ich an dem Album schon ein, zwei Jahre vor der Pandemie angefangen zu arbeiten. Fire verarbeitet eigentlich, dass die Welt schon vor der Pandemie durchdrehte. Donald Trump, dieser Cartoon-Charakter, führte die Welt in den Massenpopulismus. Er befeuerte Rassismus und Sexismus und verursachte das maximale Chaos. Dann war da noch Boris Johnson, der das britische Volk fortwährend belog. Der Brexit passierte, Großbritannien entschied sich dafür, 200 Jahre in die Vergangenheit zu reisen. Oder Putin, der größte Gangster des Planeten. Überall, wo man hinsah, geriet die Welt außer Kontrolle. Rednecks stürmen das Kapitol. Fire war eine Reaktion darauf, die durch die Pandemie noch heftiger ausfiel. Als die einsetzte, hatte ich nämlich noch keine Vocals geschrieben oder das Album gemixt. Ich wusste nur, dass ich es möglichst roh und hart haben will. An In Blue und Fire habe ich parallel gearbeitet und gemerkt, dass ich mit beiden in komplett unterschiedliche Richtungen gehen will.
„Ich bevorzuge es, Musik zu machen, die außerhalb von Genres existiert. So viel Musik, die ich über alles liebe, existiert hingegen in klaren Genregrenzen.”
Worum ging es dir bei Fire inhaltlich?
Ich wollte, dass es als Echo meiner Liveshows funktioniert, mit dieser Intensität. Fire hat für mich mit Entspannung und Anspannung zu tun. Mit Oppression und Expression. Es geht um Extreme, um Gegensätze, auf die ich reagieren wollte. Ich höre so wenige Alben, die diese Energie haben. Musik wird mehr und mehr zum Hintergrundrauschen der menschlichen Existenz. Das ist auch der Grund dafür, wieso Plattenverkäufe so niedrig sind oder Musik Leute nicht mehr so inspiriert wie früher.
War früher alles besser?
Es geht nicht um Nostalgie. Auch heutzutage kommt überall noch unglaubliche Musik raus, aber wenn es um Explosivität geht, wird es immer schwerer, gegen die ganzen Formen emotionaler Zensur durch das soziale Zusammenleben zu bestehen. Zumindest ohne zur Karikatur zu verkommen. Im Metal hast du dieses Rohe noch immer, manchmal wirkt das aber auch wie ein Cartoon. Wie schlechtes Theater.
Gut, dass du erwähnt hast, dass zumindest die Vocals Pandemie-bezogen sind. Im Opener „The Fourth Day” ist ja diese Line: „People were no longer arrested for not being vaccinated, now they were just terminated.”
Korrekt. Ich habe Roger (Robinson, d.Red.) gefragt, ob er ein Gedicht zu seiner Gefühlslage während des Lockdowns schreiben kann – dann kam er damit an, große Poesie.
Was, denkst du, hat ihn dazu bewegt? Hast du das Gefühl, dass Leute zur Impfung gezwungen werden?
Ja, unzweifelhaft. Nicht nur durch die Regierung, sondern auch durch gesellschaftliche Umstände. Es gibt viele Leute, die tief in sich lieber beim Feiern sterben würden als alleine zuhause, wo sie im Lockdown von einem Virus dahingerafft werden. Deswegen riskieren sie eine Impfung mit einem Wirkstoff, der nicht ausreichend getestet wurde. In Belgien hatte ich durch Zufall die Gelegenheit, mit einer Frau aus der Pharmaindustrie zu sprechen. Sie meinte, dass sowas noch nie zuvor passiert ist. Impfstoffe, die massenproduziert werden für einen Massenkonsum. Deren Karzinogenität nicht getestet wurde. Es ist zu früh, um zu sagen, welche potenziellen Nebenwirkungen es geben könnte. Diese Frau, die ihr Leben lang in diesem Bereich gearbeitet hat, sagt eindeutig: Die Impfung ist überhastet. Natürlich aus nachvollziehbaren Gründen: Um Leben zu retten, um die Wirtschaft zu stärken. Für mich gibt es bei der Impfung nicht nur Schwarz oder Weiß, ich glaube dennoch, sie ist notwendig.
Bist du geimpft?
Inzwischen ja, schon einige Wochen. Ich bin kein übermäßig sozialer Mensch, momentan sowieso nicht, deshalb ich es hauptsächlich aus altruistischen Motiven getan. Wahrscheinlich wäre ich nicht zum Superspreader geworden und hätte viele Leute kontaminiert.
Als Künstler wirst du wieder Sets spielen wollen.
Natürlich! Wir planen gerade schon die ersten Shows. Also habe ich eigentlich gar keine Wahl. Darum geht es auch in Rogers Gedicht. Sich sozial zu verhalten und um andere zu kümmern ist super. Persönlich tue ich mich aber schwer damit, Regierungen zu vertrauen. Das kann gefährlich sein, genauso verhält es sich mit Pharmaunternehmen. Die wollen maximalen Profit, wie die Geschichte lehrt. Die Situation ist einfach verrückt und extrem schwer. (lacht)
„Die haben mich auf diesen Festivals gehasst. Mein Freund musste mich einige Male davor bewahren, verprügelt zu werden. Rockabillys waren ja berüchtigt dafür, gerne zuzuschlagen und Machos zu sein.”
Um Solaris zu vertonen, musstest du glücklicherweise nicht geimpft sein. Wieso hast du dir den Film ausgesucht? Die Wahl ist nicht die offensichtlichste, oder?
Für mich schon. (lacht) Ich liebe den Film und das Remake und bin Fan von beiden Soundtracks. Als das Filmfestival (Videodroom in Gent, d.Red.) auf mich zukam, gab ich denen eine Liste von zehn Filmen. Dann hat sich herausgestellt, dass sie für Solaris das Ok hatten. Als ich davon Wind bekam, habe ich mir fast in die Hosen gemacht, weil das von allen Möglichkeiten die schwierigste war. Das war so, als würdest du als Autor eines deiner Lieblingsbücher nehmen und versuchen, es neu zu schreiben. (lacht)
Du hast dich der Aufgabe jedenfalls möglichst originalgetreu genähert, indem du russische Synthesizer verwendet hast. Wie kamst du auf die Idee?
Ich wusste, dass ich den Score zum Film live spielen würde, und wollte nicht, dass sich das zu modern anhört. Es hätte keinen Sinn gemacht, einen Film modern zu vertonen, der nach 1972 aussieht. Ich wollte eine Klangpalette verwenden, die nach dieser Zeit klingt. Soma hatte den Pulsar, die Drum Machine, die ich vorrangig benutzt habe, etwa ein Jahr zuvor veröffentlicht, und ich wollte ihn als Gear-Nerd unbedingt. Ich hörte seinen rohen, dreckigen, archaischen Klang. Mit der Bezahlung für die Show konnte ich ihn mir leisten.
„Ich muss Ideologien oder politische Ansichten nicht teilen, um Musik gut zu finden. Tatsächlich kann ich mir ohne Ausnahme Musik von Leuten anhören, die ich in politischer oder psychologischer Hinsicht als komplette Arschlöcher bezeichnen würde.”
Du hast eben kurz das Schreiben angeschnitten. Du warst früher auch als Musikjournalist tätig. Dir ist es als Künstler stets wichtig gewesen, nicht in zu enge Schubladen gesteckt zu werden. Wie hast du das seinerzeit vermieden?
Ich habe mir die ganze Zeit neue Begriffe einfallen lassen. Neue Terminologien, neue Namen für Genres. Ich wusste, dass es wichtig war, den kreativen Absichten von Künstlern Rechnung zu tragen. Oft habe ich mich dafür entschieden, Leute zu interviewen, die Einzelgänger waren. Gleichzeitig war und ist mein Geschmack auf komische Art dichotom und gegensätzlich.
Wie?
Ich bevorzuge es, Musik zu machen, die außerhalb von Genres existiert. So viel Musik, die ich über alles liebe, existiert hingegen in klaren Genregrenzen. Ich liebe Reggae oder Hip Hop, das sind zwei Beispiele. Und ich liebe die Reinheit dieser Genres. Selbst will ich aber nichts Reines machen. Ich fühle mich wie ein ewiger Außenseiter, schon seit ich ein Kind bin. Meine Eltern sind oft umgezogen, ich war ein Einzelkind. Und ich bin einer Zeit aufgewachsen, als diverse musikalische Stämme koexistierten: Punks, Rockabillys, Soulboys, Hip-Hop-Kids. Jeder richtete sein Aussehen und selbst seine Gedankenwelt nach der Musik aus, die er hörte. Ich konnte mich aber nicht entscheiden, sah aus wie eine Art Rap-Reggae-Punk und ging mit meinem besten Freund, einem bekannten Rockabilly-DJ, auf Rockabilly-Festivals. Das war Gier.
Hast du dort Ärger bekommen?
Sicher. Die haben mich auf diesen Festivals gehasst. Mein Freund musste mich einige Male davor bewahren, verprügelt zu werden. Rockabillys waren ja berüchtigt dafür, gerne zuzuschlagen und Machos zu sein. (lacht) Und ich war dieser Crass- oder Discharge-Fan, dieser Anarcho-Punk. Ich fand diese sexistische Attitüde, diesen Bullshit in der Rockabilly-Szene daneben, aber die Musik hat mir gefallen.
Du kannst das trennen?
Ich muss Ideologien oder politische Ansichten nicht teilen, um Musik gut zu finden. Tatsächlich kann ich mir ohne Ausnahme Musik von Leuten anhören, die ich in politischer oder psychologischer Hinsicht als komplette Arschlöcher bezeichnen würde, und das Zeug manchmal sogar lieben. (lacht) Obwohl ich keine gute Meinung von ihnen als menschliche Wesen habe, finde ich, dass Kunst gelegentlich unsere Emotionen, Ansichten und Reaktionen herausfordern sollte. Und währenddessen kann ich Musik von jemandem hören, der nicht meine Überzeugungen oder meinen Geschmack teilt. Wir stecken in einem fortwährenden Kampf mit Vorurteilen und zwischen Gut und Böse. Manche verlieren den, und wenn irgendwelche Künstler in ihren Tracks offen Misogynie, Homophobie oder dergleichen propagieren, werde ich sie automatisch nicht hören. Für mich mutet es nur komisch an, dass Künstler, die von der weißen Mittelklasse anerkannt sind, wie etwa Nick Cave oder Johnny Cash, mit unzweifelhaftem Frauenhass und murder ballads davonkommen, dabei aber immer noch als lyrische Genies verehrt werden. Etliche Künstler im Reggae oder Hip Hop werden dagegen gegeißelt und verteufelt.
Der Konflikt zwischen Künstler*innenpersona und Privatperson rückt in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus. R&S ist da ein gutes Beispiel. Leute fragen sich, ob es noch ok ist, sich den Labelkatalog anzuhören.
Das habe ich mitbekommen. Shabba Ranks hat beispielsweise vor vielen Jahren im britischen Fernsehen die Bibel als Rechtfertigung für einen Kommentar benutzt, in dem er sagte, es sei legitim, Schwule zu töten. Ich konnte mir Dancehall danach einige Jahre lang nicht anhören, weil ich das so abstoßend fand. Zu allen MCs, mit denen ich gearbeitet habe, habe ich gesagt, dass ich absolut keine homophoben Texte in meinen Songs will. Ich habe mich auch standhaft geweigert, mir Dancehall mit solchen Inhalten zu geben, wo es nur ging. Aber die Energie, die Produktion oder manche Performances mochte ich eben noch immer. Momentan halte ich es für sehr gefährlich, dass jeder sofort vom und im Internet vor Gericht gestellt wird. R&S, wie du schon sagst, oder kürzlich Dominick Fernow alias Vatican Shadow.
Was denkst du über diese Kontroverse?
(überlegt lange) Ich habe ihn schon oft getroffen. Im Rahmen eines seiner größten Projekte (Rainforest Spiritual Enslavement, d.Red.) arbeitet er mit Philippe Hallais (Low Jack, d.Red.) zusammen, einem Schwarzen. Er findet Miss Red super, die Jüdin ist und mit der ich gearbeitet habe. Wenn dieser Typ so ultrarechts und satanistisch wäre, wie Leute ihn wegen seiner Kontakte hinzustellen versuchen, würde mich das sehr erstaunen. Ich habe das Gefühl, er ist ein intelligenter und netter Typ. Was mir missfällt, ist, dass man durch einen Artikel oder Kommentar schon zu einer Art Cartoon-Bösewicht wird. Das Feature, das das alles ausgelöst hat, wirkte auf mich eher halt- und substanzlos. Natürlich bin ich voreingenommen, weil ich Dominick kenne und mag. Aber für mich fühlt sich das an wie Hipster-Politik: Lasst uns den Kerl gemeinsam verbannen, der sich noch nicht mal dazu geäußert hat. Plötzlich äußern sich Journalisten, die ich sonst sehr schätze, einer nach dem anderen. Und wie schnell das geht! Gerüchte und Klatsch ohne Beweise hochzuladen oder die unlautere Agenda einer rachsüchtigen Einzelperson zu unterstützen, kann Karrieren, im schlimmsten Fall Leben beenden.
Es gibt auch Personen, die sagen würden, dass ein weißer Typ keinen Dancehall machen sollte. Was denkst du darüber?
Na ja: Na und? Dürfen nur englische Menschen Folk machen? Die Welt ändert sich fortlaufend. Ich habe immer respektvoll mit anderen Künstlern gearbeitet und sie wirtschaftlich unterstützt. Es war mir auch wichtig, mir kein Kreolisch anzueignen, was viele weiße Produzenten tun. Oder sicherzustellen, dass meine Dancehall-Einflüsse durch meine musikästhetische Prägung gefiltert sind. Ich tue erst gar nicht so, als wäre ich jamaikanisch. Man sollte kein kulturelles Geiertum betreiben, sondern bei der Hommage bleiben, kulturelle Verbindungen etablieren. Ich habe über Jahrzehnte in den ärmsten Communitys in London gelebt, die nicht selten aus Jamaikanern, Afrikanern, Pakistanis oder Indern bestehen. Soll ich mich diesem Einfluss mit aller Macht verwehren? Meine Augen und Ohren davor verschließen? Wir alle sind von unserer Umgebung beeinflusst. Mein Dancehall klingt nicht jamaikanisch und sollte das auch nie. Genau wie der Dub Techno von Moritz von Oswald und Mark Ernestus.