Call Super – Cherry Drops I (Can You Feel The Sun)
Die erste Auskopplung der neuen Doppel- EP von Joseph Richmond Seaton alias Call Super trägt den Titel Cherry Drops I. Der Produktionsprozess wurde vom Künstler selbst als eine lang ersehnte Zerstreuung beschrieben, und tatsächlich ist eine Art Ausbruch aus Schwere und Selbstumkreiselung deutlich zu spüren. Deutlich weniger nachdenklich als noch das Album Every Mouth Teeth Missing entführen hier die frechen Sounds nämlich direkt auf den Dancefloor und bieten dem grauen Herbstanfang kühn die Stirn. So rutscht man hinein in farbige Klangwelten mit kecken, präzise hämmernden Electronica- Elementen, die gewohnt kristallklar miteinander verwoben werden. Die ergänzenden Akzentuierungen in surrenden Hochfrequenzen, wie etwa bei „Cherry Drops”, wirken dabei nicht nur einmal wie eine Hommage an die heilenden Colundi-Klänge Aleksi Peräläs. In jedem Fall sehenswert ist außerdem noch die elegante Videoauskopplung zu „Eye Flow Wide”, die von Kim Laughton realisiert wurde. Lucas Hösel
Efdemin x Vril – Endless / Purge (Sun Sad)
Punktgenau zur Cluböffnung und für die In-Ear-Kopfhörer-Experience von Gen-X-ler*innen in endlosen Schlangen vor allen deutschen Clubs, die man bis dato eigentlich nur aus London in den 1990er Jahren, auf Ibiza und vor dem Berghain kannte, kommt nun die wegen Covid-19 seit dem Jahr 2019 auf Halde liegende erste Veröffentlichung des neuen Labels Sun Sad heraus.
Die beiden Labelchefs Dominik Schmalz und Lucas Brell – der ebenfalls für den Berliner Underground-Toiletten-Club Zur Klappe das Booking macht – haben für Endless/ Purge zwei Superstars der deutschen Technoszene mit ins Boot geholt. Efdemin und Vril müssen nicht vorgestellt werden. Ersterer brettert soft nach vorne, um ab Minute neun die letzten vier Minuten mit klassisch-dystopischen Detroiter Flachenhall-Triolen-Techno zu beschließen. Damit füllt „Endless” die komplette A-Seite und bietet dem Vinyl-DJ einen entspannten Weg zur Toilette, während die Tanzfläche an die besten Platten-Übergänge der Nacht glaubt. Vrils B-Seite “Purge” kommt mit einem sphärisch-balearischem 90s-Ah-Stimm-Synth über einem Industrial-Hall-Kick-Anfangsloop mit halbierter Detroiter-Upbeat-Attitüde im Orgelton nicht so wirklich in Fahrt. Dafür schleicht sich Efdemins Remix von Vril auf der B2 melancholisch-fröhlich mit dem gleichen Synth-Ton, aber per Oktavenwechsel mitten ins schwere Herz der unmittelbar umkippenden 4-Uhr-Nachts-Nach-Mir-Die-Sinnflut-Dancefloor-Leichtigkeit.
Vor lauter XTC-Freude können sich spätestens ab diesem Zeitpunkt die härtesten Melodic-Techno-Liebhaber*innen schon mal direkt vor dem DJ-Pult einpissen! Lebhaft delayte Hi-Hats erinnern an Labels wie Planet E, Playhouse oder Classic. In dieser Version von „Purge” jagt eine schön verspielte deepe Bassline blubbernd diesen gut straighten Orgel-Dub-Techno-Ton auf der Und. Und zerfließt danach als verhallter Acid-Pattern-Lauf in den postindustriellen Beton-Böden unserer Techno-Mythen. Mirko Hecktor
Neil Landstrumm – Yell Yell EP (Sneaker Social Club)
In den 90ern, als die Techno-House-Welt noch recht jung, aber auch schon gut warm gelaufen war in Sachen Verwertung, war es für eine Weile trendy, Infotexte zu Platten in einer Art Dada-Deutsch oder auch in Form von kleinen kunstvollen Kurzgeschichten zu verfassen. Der sachliche Gehalt dieser Texte war häufig gleich Null, aber sie transportierten auf einer Meta-Ebene den Geist der Acts und/oder Labels und befeuerten die Assoziationskraft von Journalist*innen und Käufer*innen.
Ähnliches Textmaterial liefern Neil Landstrumm und Sneaker Social Club als Information zu dieser Doppel-Maxi. Kleiner Auszug aus dem Infosheet: „Die Straßenlaternen flackern über dir wie eine 8-0-8. Du ziehst den Bass an und atmest die Breaks aus. (…) Ein fliegender Kühlschrank, der auf 62 Herz brummt. Winkel, mit Widerhaken und brillant, werden auf das Problem geworfen. Irgendwann schmilzt alles.” Alles klar? Logo! Und genauso wenig, wie sich der Schotte Landstrumm um Marketingregeln schert, kümmert er sich um Genre-Grenzen, stilistische Stringenz und ähnlichen Firlefanz. Eindeutig sagen lässt sich über seine Yell Yell EP, dass Techno – und generell – gerade Bassdrums darauf nicht stattfinden, dafür ein eigenständiges Gebräu aus Trap-, Jungle- und Hip-Hop-Ingredienzen mit einem starken Hang zu Rave und einem ganz speziellen Humor, der auch eine düstere Seite hinter diesem hedonistischen Abfeiern erahnen lässt.
Oder gehört dies auch zu einem größeren Plan und einer ausgebufften Scharade? Zu einer Art „(…) Anti-Werbung, bezahlt von einem Penny, der in den Mund von Instagram gesteckt wurde, um eine sichere Passage über den falschen Fluss zu gewährleisten”? Dieser letzte Satz des Infos gibt darauf keine Antwort, musste aber ob seiner Schönheit auch noch zitiert werden. Mathias Schaffhäuser
Otik – Trifecta (Club Qu)
Auf den drei Tracks seiner ersten EP für das Label Club Qu präsentiert Otik einen Querschnitt zeitgenössischer Bassmusik. Da reicht das Spektrum vom elegant unheimlichen Opener, der verhaltene Breaks, mysteriös verhallte Rap-Samples und eine Electronica-infizierte Melodie-Linie organisch vereint, über die hyperaktiven – jedoch nie unsauber übereinander stolpernden – Jungle-Breaks von “Switchways” bis zum erhabenen Pathos des Titeltracks, der mit seiner leicht verstimmten Sequenzer-Linie ein bisschen wie die frühen Autechre auf Bass klingt.
Zusätzlich gibt’s noch einen Zenker-Brothers-Remix von „Switchways”, der auf schnelle Breaks über minimal-düsterer Techno-Atmosphäre und stetig voran wummernde Bassdrum setzt und so das Stück Mainfloor-kompatibel macht. Tim Lorenz
Religius Order – Luci Nere (Rat Life)
In Rom hat man schon diverse Untergänge gesehen. Für den Produzenten Alessio Di Mezza alias Religius Order mag das Ende der Welt da auch keinen großen Unterschied mehr machen. Beworben wird seine EP zumindest als Musik für die „Apocalypse Afterparty”, falls jemand die Sache hinterher verpasst haben sollte. Gefeiert wird auf Electro-Basis, darüber schweben hallend dräuende Synthesizer, begleitet von verzerrten Stimmen, die agitatorisch klingen, auch wenn kein Wort zu verstehen ist. Religius Order, ein eher mysteriöser Orden mit ebenso mysteriösem Orthographiefehler im Namen, hält seine Messen, wenn es denn welche sind, höchstwahrscheinlich in verfallenen Hallen oder Ruinen ab. Hat alles etwas von schwarzkuttiger Achtziger-Nostalgie, doch einer, die viel Lust auf Tanzen macht. Tim Caspar Boehme