Porter Ricks – Porter Ricks (Mille Plateaux)

Porter Ricks - Porter Ricks (Mille Plateaux)

Bevor sie ihr gemeinsames Projekt Porter Ricks im Jahr 2016 überraschend und doch gemächlich reaktivierten, veröffentlichten Andy Mellwig und Thomas Köner in atemberaubender Geschwindigkeit Musik, die die Zeit stillstehen ließ. Neun eigenständige EPs erschienen zwischen den Jahren 1996 und 1998, dann tauchten die beiden nach einem Split-Release mit Techno Animal im Folgejahr wieder so schnell ab, wie sie gekommen waren – und Dub Techno war schlicht nicht mehr dasselbe.

Nachdem Mille Plateaux erst kürzlich mit Biokinetics das erste Album von Porter Ricks, eine erweiterte Zusammenstellung ihrer ersten 12’’s auf Chain Reaction, zu dessen 25. Jubiläum neu auflegte, folgt nun die selbstbetitelte zweite LP aus dem Jahr 1997. Auch dabei handelte es sich um bereits bekanntes Material, das auf den EPs Spoil, Explore sowie Vol 1 und 2 über das genauso wie Mille Plateaux von Achim Szepanski betriebene Label Force Inc. veröffentlicht worden war. Insbesondere die allesamt „Redundance” betitelten Stücke von Vol 1 und 2 machen recht klar, was im Kern dieser Tracks aus dem zweiten Teil der ersten Schaffensphase von Porter Ricks stand: die Wiederholung.

Während Biokinetics in seiner Gänze dramaturgisch sequenziert wurde und Dub Techno musikalisch auf ein neues Level hob, kreisen auf Porter Ricks die Strukturen diskret um sich selbst. Die schwebend-schwelgerische Atmosphäre, die die frühen Chain-Reaction-Releases noch prägte, wird vor allem am Anfang des mit einer neuen Tracklist versehenen Compilation-Albums gegen einen emotional trockenen Sound eingetauscht, der selbst die funkigsten Basslines wie auf “Redundance 5” (Betonung, natürlich, auf „-dance”!) nach der drölfzigsten Wiederholung abstrakt und befremdlich wirken lässt. Was nur wieder heißt, dass damit Alben wie Jan Jelineks Loop-Finding-Jazz-Records oder das gesamte Œuvre des Moritz von Oswald Trios ebenso vorformuliert wie die späteren Comeback-Releases, die EP Shadow Boat und die LP Anguilla Electrica aus den Jahren 2016 und 2017, vorbereitet wurden. 

An Momenten der Schönheit und Eingängigkeit mangelt es keineswegs, sie offenbaren sich in der zweiten Hälfte der neu arrangierten Neuauflage – nach den Stücken von Vol 1 und 2 also. „Scuba Lounge” klingt wie die perfekte Synthese aus Thomas Köners tieffrequenten Solo-Releases und dem Frühwerk von Actress, der Slapbass-lastige (!?), funkige (!?!?) House-Tune (!?!?!?) „Spoil” und seine narkotisch anmutende Dub-Version sowie das von schrabbeligem E-Gitarren-Genudel dominierte „Explore” und der ebenso an Digital Hardcore wie Stadion-Rock-Hymnen andockende Track „Exposed” – beinahe eine Persiflage auf Daft-Punk-Hits, die zu dieser Zeit noch gar nicht geschrieben waren – zeigen noch ganz andere Facetten von Mellwigs und Köners Schaffen auf.

Die Umsortierung der Tracklist für die Neuauflage der Stücke aus der Force-Inc.-Ära des Duos befreit Porter Ricks dankenswerterweise nachträglich vom Anspruch, ein Album im klassischen Sinne zu sein. Stattdessen wird es als Anthologie diskreter Releases präsentiert, die klanglich extrem heterogen sind und damit das Bild eines visionären Produzentengespanns zeichnet, das nicht nur für Tiefseepathos, sondern auch den einen oder anderen ebenso blödeligen wie konzisen Meta-Kommentar auf Techno-Klischees zu haben waren. Kristoffer Cornils

Proc Fiskal – Siren Spine Sysex (Hyperdub)

Proc Fiskal - Siren Spine Sysex (Hyperdub)

Proc Fiskals zweites Album ist ein fragiles Kleinod, ein zart gewebtes Geäst aus zerhackten Samples, Beat-Strukturen und tief wummernden Basslines. Bass Musik und instrumentaler Grime sind dabei natürlich ein Fixpunkt, doch lebendig auf warm-organische Weise wird die brillant vibrierende Musik erst durch Fiskals Sample-Wahl, die sich aus gälischen Folklore-Quellen speist, angereichert mit Inspiration, die am ätherischen düstren Pop-Entwurf der Cocteau Twins oder Kate Bushs ihren Anfang nahm.

So überraschend diese Symbiose aus futuristischem Beat-Geklacker und dem Traditionellen verhafteten Klang-Ursprüngen – mit schier chirurgischer Präzision zerschnittenen Harfen-Loops und Folk-Gitarrenläufen etwa – zuerst erscheinen mag, so folgerichtig ist dieser kreative Weg jedoch für den Künstler. Proc Fiskals Familiengeschichte ist nämlich sozusagen in Folk-Musik getränkt: Sein einer Großvater, Archie Fisher, war maßgeblich am schottischen Folk-Revival der 1960er Jahre beteiligt, der andere, Al Fraser, ein bekannter Dudelsack-Spieler, und seine Großtante Mitglied der Kinder-Folk-Gruppe The Singing Kettle.

Da war diese musikalische Entwicklung nur folgerichtig – und das zu unserem Glück. Denn herausgekommen ist mit Siren Spine Sysex ein wunderbares Album, das immer wieder verblüfft und mit pastoraler Erhabenheit Vergangenheit und Zukunft zu einem wunderbar wärmendem auralen Teppich verwebt. Tim Lorenz

RP Boo – Established! (Planet Mu)

RP Boo – Established! (Planet Mu)

Establishment war für 68er ja ein beliebter Kampfbegriff. Kavain Wayne Space alias RP Boo ist Jahrgang 1972, und nicht bloß aus demographischen Gründen bedeutet das Wort Established!, mit dem er sein jüngstes Album betitelt hat, für ihn vermutlich etwas anderes. Bei dem als Paten von Footwork gefeierten Chicagoer Produzenten verweist es auf seinen langen Kampf um Anerkennung. Denn obwohl RP Boo schon in den frühen Neunzigern als DJ erfolgreich war, brauchte es sehr lange, bis er seine eigene Musik veröffentlichen konnte.

Ein bisschen als Rückschau angelegt, besinnt er sich auch auf Dinge, die er seinerzeit auf den Plattentellern kreisen ließ, während Leute dazu tanzten: House und Ghettotech zum Beispiel. Footwork kommt auf dieser Platte aber ebenfalls und umfänglich zur Geltung. Und wo seine Labelkollegin Jana Rush im vergangenen Monat auf ihrem Album Painful Enlightenment schon ziemlich krasse Samples, von bratzigen Saxofonsoli etwa, eingesetzt hatte, schraubt RP Boo das Level noch einmal höher: Bei ihm darf Phil Collins „Tell everyone I’m a down disgrace / Drag my name all over the place” singen, bevor es zu „My name / All Over” kleingehackt wird. Der Track überlebt es. Wer etabliert ist, darf sowas halt. Erst recht, wenn er es einfach kann. Tim Caspar Boehme

Shackleton – Departing Like Rivers (Woe To The Septic Heart!)

Shackleton - Departing Like Rivers (Woe To The Septic Heart!)

Sam Shackleton ist zurück mit einem Album, das partiell an seine frühen Arbeiten aus den späten 2000ern erinnert. Er hat es Departing Like Rivers getauft, und wer sich voll darauf einlässt, steigt tief in eine sehr persönliche, esoterische Zone hinab, die Dunkelheit dem Licht vorzieht. Seine sieben neuen Stücke pendeln zwischen drei und 14 Minuten Länge, sind durchgehend introspektiv und bedienen den Dancefloor nur partiell. Wie immer bei Shackleton tanzen seltsame Takte um transzendierende Bässe und kurze Vocal-Schnipsel verteilen poetisch apokalyptische Nachrichten. Nichts Neues also. Aber warum auch.

Der Brite mit Wohnsitz Berlin hat eine unikale Handschrift, die immer noch furios modern wirkt. Diesmal ist sie nur etwas kontemplativer ausgefallen. Zuweilen gleiten meditativer Klangschalen-Sound und trippiges Glockenspiel über seine hypnotischen Drones und psychedelischen Ritual-Loops. Ebenso tauchen im Hintergrund vereinzelt geisterhafte Folk-Nuancen auf, die wie eine Halluzination aus einer längst vergangenen Welt jenseits der Elektronik wirken. Das alles setzt Shackleton gewohnt detailverliebt in Szene, ohne dass die entspannende Energie seiner Musik auf der Strecke bleibt. „I am hoping that it may be the kind of album that people play at the end of an excessive night, like after a club being back home with some friends, sleep deprivation and whatever else kicking in together with the music helping to launch your mind into space!”, sagt er selbst über sein Album. Dem ist nur hinzuzufügen: Es ist nicht unbedingt nötig, schwer verausgabt in „Departing Like Rivers“ einzusteigen. Auch völlig ausgeschlafene Geister werden hier schnell in spiralförmige Traumlandschaften katapultiert. Michael Leuffen

Shonen Bat – Infinite Disorder (La Forge)

Shonen Bat – Infinite Disorder (La Forge)

Um es vorweg zu sagen, diese Unordnung mag ewig währen. Etwas Weltumspannend-Dramatisches ist sie allerdings nicht. Eher die Unordnung des Teenager-Zimmers, erstmals Herrscher*in der eigenen Welt, da genügen pragmatische Strukturen im Fluss. Shonen Bat, der aus dem in Reims ansässigen Kollektiv La Forge mittlerweile eine TGV-Station weiter nach Paris gezogen ist, zieht daraus eine wunderbare Vielseitigkeit. Über die Länge ist zwar dem Album Infinite Disorder anzuhören, dass da noch jemand auf der Suche ist, doch das ist mit 28 Jahren ja auch mehr als okay.

„Find Me In The Rainforest” bezirzt die Clique mit einem lose dahinrauschenden Breakbeat. Wie schon sein Titel quert und verquert „Western Nylon Fields“” die Geschichte von Acid House, „Yoga” mag eine Hommage sein an die Trendsportart oder komplette Verarsche; es klingt am Ende wie Körper anspannen und Körper entspannen nach Einnahme von Rauschgift. Dabei ist erstaunlich, wie Shonen Bat (das Pseudonym lehnt sich an einen Anime-Charakter an) mit den Sounds der „Ursuppe” (Westbam) spielt, wie Breakbeat und Eins-Zwo-Drei-Vier auf Infinite Disorder Hand in Hand gehen, als wäre nie eine historische Spaltung eingetreten. Mitunter könnte ein Stück tatsächlich besser aufgeräumt sein wie beispielsweise „Automata” und „XSpace”, doch gibt das Album auf ganzer Länge eine super Figur ab. Es ist, als würde da in Zukunft noch mehr kommen. Christoph Braun

Venetian Snares – Rossz Csillag Alatt Született (Planet Mu)

Venetian Snares – Rossz Csillag Alatt Született (Planet Mu)

Wenig bis gar nicht interessiert am zeitgenössischen Musikgeschehen der westlichen Welt führt Aaron Funk seit nunmehr zwei Jahrzehnten das Leben eines musikalischen Eremiten. Geboren im ostkanadischen Winnipeg und dazu noch unter einem falschen Stern, zählt er zu den wenigen Virtuosen eines Stils, der gebrochene Takte im Dampfhammer-Modus rauspustet und dabei mehr Abenteuer denn Ästhetik ist – ein Credo, dem er sich als Venetian Snares von Beginn an verpflichtet sah. Die Debüt-EP Greg Hates Car Culture war kaum fünf Jahre alt, als Funk im Jahr 2004 mit den Arbeiten an seinem Opus Magnum Rossz Csillag Alatt Született begann.

Inspiriert von einem Besuch im Budapester Burgpalast, bei dem er sich selbst als Taube über den prunkvollen Thronsälen Kapriolen schlagen sah, zerstückelte Funk ganze Sätze klassischer Streichquartette und Sinfonien am Rechner, um sie mit irrwitzig sequenzierten Amen Breaks zu fusionieren. Von Bartók und Stravinsky über Paganini und Waxman bis zu Elgar und Prokofiev werden hier einige der größten Namen europäischer Musikgeschichte zwischen Percussion-Loops in 7/4 aufgerieben, durch Off Beat Shifts seziert und unter schroff modulierten Rollovers zum Bersten gebracht. Präzise Synthesen durchlöchern dabei die Eleganz Jahrhunderte alter Harmonien wie sprödes Metall im Kugelhagel. Dennoch wirken ehrfurchtgebietende Tracks vom Kaliber „Szerencsétlen” mit seinem abgefahrenen Stereo Panning und den injizierten Micro Loops oder das zwischen Cool Jazz, Barock und Breakcore schwirrende „Hajnal” zu keiner Sekunde verkopft. Im krassen Gegenteil.

Zwischen zwei und fünf Kompositionen zerlegt Funk in jedem der elf Tracks dieses Albums mit Genuss, und dennoch: Obsessionen und Ängste, Wut und Ekstase, das ganze Spektrum unkontrollierbarer Regungen gerät auf Rossz Csillag Alatt Született zum alles verschlingenden Parforceritt chaotischer Ausbrüche. Das ist keine Musik für einen finsteren Sonntag, wie Anekdoten zu „Öngyilkos Vasárnap” nahelegen, einem Cover von Rezső Seress’ berühmtem Suizidsong. Hier herrscht auch keine Laune der Postmoderne. Venetian Snares’ ungarisches Album ist viel mehr eine Katharsis in endlosen Momenten, zählt schon deshalb zu den bedeutendsten Arbeiten elektronischer Musik dieses noch jungen Jahrhunderts – und wird es bis an sein Ende auch bleiben. Nils Schlechtriemen

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