Fiesta Soundsystem – Not To Be (Of Paradise)
Seit 2019 veröffentlicht Fiesta Soundsystem Party-zentrierte Bass Musik auf Labels wie Timeisnow, Warehouse Rave oder ec2a. Breakbeat-lastige Stücke mit Acid-Einflüssen, eher roh und düster in der Stimmung, weniger Drum’n’Bass, dafür mehr früh-Neunziger Rave-Techno verpflichtet. Frisch klingend, ohne in altmodischen Klischees zu versinken. Und genau das gibt es hier in Form dieser vier Tracks, vier In-Ya-Face-Tunes, die direkt aus dem Hardcore Continuum auf die Tanzflächen pulsieren. Tim Lorenz
Jayson Wynters – The Affect Heuristic (Delsin)
Das Eröffnungsstück „Trace Minerals” lässt eine jazzig-verspielte Bassline auf einerseits flirrende Hintergrund-Synthies und eine dazu im Gegensatz stehende sture Kickdrum treffen, die kaum variiert wird und auch so gut wie keine weitere perkussive Unterstützung von Snares oder anderen Drummachine-Standards erhält. Das alles auf flotten 134 BPM. Während die synthetischen Schlieren im Background nahtlos in den zweiten Track hinüberwehen, ändert sich dort die Rhythmik radikal in Richtung Breakbeat – klangästhetisch eindeutig unter Electro einzusortieren. Das Tempo steigt auf über 140 BPM, die Stimmung bleibt aber eher verhalten – der Gejagte in „The Hunted” plant keine Gegenoffensive, sondern sucht die geheimen Schleichwege, geht der Konfrontation klug aus dem Weg. Das folgende „Crypto” lässt dann das Hintergrundrauschen komplett verstummen und beginnt puristisch mit einer morphenden Synthesizer-Sequenz, die Acid andeutet, aber nicht ins 303-Sound-Korsett einzwängt. Nach etwa einer Minute setzt eine ähnlich inszenierte Bassdrum ein wie im Opener, Snares finden wieder nicht statt, dafür ein clever eingesetzter, das bisherige Soundkonzept unterlaufender organischer Percussionloop. Das Tempo bleibt unverändert hoch – wie auch in dem abschließenden, fast zehnminütigen, trippigen „Tehutis Law” –, und bildet damit zum einen eine konzeptuelle Klammer, lässt zum anderen die vier Stücke fast wie einen Mix erscheinen, was einen smarten und überzeugenden Eindruck hinterlässt. Hier weiß einer, was er will. Mathias Schaffhäuser
Lowtec – Easy To Heal Cuts (Avenue 66)
Vier unveröffentlichte Lowtec-Stücke und zwei Tracks von der nur im Netz erschienenen EP Going Nowhere, alle aus den Jahren 2001 bis 2006. Jens Kuhn, der Mann hinter dem Projekt Lowtec, hat vor ein paar Jahren in einem Interview mit XLR8R betont, wie wichtig es ihm als Leitlinie seiner Arbeit sei, dass man eine Platte auch noch nach 15 Jahren cool finde und sich nicht für sie schämen müsse. Diesem Anspruch werden die sechs Tracks dieser wunderbaren EP mit völliger Selbstverständlichkeit gerecht, wobei ein baldiges Verfallsdatum sowieso noch nie das Problem von Lowtec-Produktionen war. Dass der Macher der Labels Workshop und Out To Lunch schon länger keine Tracks mehr macht, die so viel Deep-House-DNA in sich tragen, steht natürlich auf einem anderen Blatt, aber genau das ist wiederum toll hier.
So klingt „Red Sparrow” mehr als ein kleines bisschen nach Rick Wade. Kaum vorstellbar, dass Jens Kuhn heute noch mal an diesen Punkt zurückkehren würde. Der Opener „Flat Dog” lässt die Zeit stillstehen. Unter die zarten, Welt-umarmenden Harmonien hat Kuhn einen knapp geschnittenen Breakbeat gesetzt, der sich gegen Ende kratzig verschiebt. „Going Nowhere” stolpert ganz sachte vor sich hin, zwischendrin Spinett-Sounds und ein Sub-Bass. Das letzte Stück der Platte, „From Moment to Moment”, zitiert gar ansatzweise diesen Frühneunziger-New-York-House-Sound. Wer das 2002 auf Source Records erschienene Lowtec-Album Secret Corner kennt und mag, der wird sich auf Easy to Heal Cuts schon nach wenigen Sekunden zuhause fühlen. Holger Klein
Request Lorraine – Acrylic Honey (Sadan)
Die nächste Stufe des Zerfalls. Der industriell geprägten Epoche, des Industrial Sounds damit einhergehend: Acrylic Honey klingt nach Stahl, der von Mikroorganismen über Jahrzehnte hin zerlegt wird und wie jener schwarze Pilz, der in der Atomreaktor-Ruine von Tschernobyl die radioaktive Strahlung einfach auffrisst. Das kantig schallende Marschieren des Titelstücks wird passagenweise eingehüllt in Drehungen um die eigene Achse, Pirouetten aus hochgepitchten Synthesizern und Echos in den mittleren Frequenzen. Ebenso hält der Track an, hält inne, und ganz flüssig ist dann der Beat wieder da. In „Hidden Elite” treiben tiefe Subs und Wasserbläschen-Sounds das Klangbild des 170BPM–Stücks. Als könne es gar nicht schnell genug gehen, all das hinter sich zu lassen. Wartet doch Neues: „Diogenes81” mit seinem Kupferstechen und -stampfen, seinem massiven Beat-Gerüst, das Ambient-Wolken einhüllen und damit ein Spiel aus Gleichzeitigkeit und Fremdkörper-Reibung beginnen. Auch „Vortex Viper” arrangiert Gegensätze. Nach dem kreischenden Beginn geht es zunächst in die volle Abfahrt, nach einem Drittel übernehmen jedoch silbrige Glöckchen in den Höhen und geben der Härte eine gute Süße mit. Christoph Braun
Simo Cell – YES.DJ (TEMƎT)
Dieses sechs Tracks umfassende Mini-Album, Simo Cells erster Solo-Release seit 2018, kommt mit einem 60-seitigen Fanzine, das Texte von unter anderem Aurora Halal und Fotografien von Getränkemarken diverser Clubs weltweit, in denen der Franzose aufgelegt hat, versammelt. Designt wurde das opulent aussehende Heft von DR.ME – und designt kann man auch die Musik der sechs Stücke nennen, auf denen Simo Cell messerscharfe Beats in einen düster wummernden Bassfrequenz-Teppich bettet, akzentuiert allein von ebenso scharf geschnittenen Vocal-Chops, rhythmisierten Bleeps und Clonks, abstrakt-industriellen Atmosphären. Vibrierende Kellerhallen-Musik, die den virtuellen Schweiß von Decke wie Stirn tropfen lässt. Von 100 bis 160 BPM nervös im Grenzbereich von Techno, Bass und Breakbeat oszillierend, springt einen die Lockdown-bedingt zurückgehaltene Energie hier quasi aus jeder einzelnen Rille an. Tim Lorenz