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The Book of Drexciya Vol. 1 & 2: Der Schmerz als konstituierendes Element einer neuen Macht

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Skizzen zu The Book of Drexciya (Grafik: Abdul Qadim Haqq)

Kaum ein Mythos hat die elektronische Musik so geprägt wie die afrofuturistische Erzählung der Unterwasserwelt Drexciya, in der die afrikanischen Opfer der Sklaverei in einer fantastischen Unterwasser-Diaspora leben. Nachdem das gleichnamige Duo den Assoziationsraum Geschichte nutzte, um in den 1990er Jahren einen neuartigen, aquatischen Electro-Sound zu entwickeln, hat nun Abdul Qadim Haqq die Geschichte zu einer mehrbändigen Graphic Novel ausgearbeitet. Die Rezension von GROOVE-Autor Steffen Korthals fächert die verschiedenen Schichten des Mythos auf, bei dem afroamerikanische Selbstermächtigung nur eine, wenn auch die zentrale Schicht ist. Gleichzeitig hallen in ihm auch aktuelle Katastrophen wie das Sterben der Geflüchteten im Mittelmeer und die aus dem Kontext kollektiver Traumata geborene Black-Lives-Matter-Bewegung und der I-Can’t-Breathe-Slogans nach. 


Der Ursprung des Drexciya-Mythos ist zur Zeit des Genozids an afrikanischen Völkern während des atlantischen Sklavenhandels angesiedelt, in dessen Zuge zwölf Millionen Afrikaner*innen über Jahrhunderte hinweg nach Amerika, in die Karibik und nach Brasilien verschleppt und ermordet wurden. Die in Afrika geläufige Drexciya-Legende behauptet, dass es Unterwassermenschen gäbe, die lebende Nachkommen von Babys sein, die im Bauch ihrer schwangeren Sklavenmütter von den Schiffen meist europäischer Eigner aus als „minderwertige Fracht” über Bord geworfen wurden. Die Babys sollen auf eine nicht weiter beschriebene Art und Weise überlebt haben.

Bildmaterial für The Book of Drexciya I (Grafik: Abdul Qadim Haqq)

Ob sich das Drexciya-Produzententeam Gerald Donald und James Stinson (2002 im Alter von 32 Jahren an Herzversagen verstorben) diesen Mythos direkt aneignete oder ob er Produkt ihres Umfelds war, ist nicht zu überprüfen. Von Fans und Kritiker*innen werden ihre Electro-Tracks und außermusikalischen Konzepte in der Tiefsee jedenfalls in Bezug zur Sklavengeschichte gesetzt.

Ursprünglich geht dieser Zusammenhang auf das Booklet der Drexciya-Compilation The Quest auf Submerge von UR-Mitglied Cornelius Harris a.k.a. The Unknown Writer zurück, wie Drexciya Research Lab-Betreiber Stephen Rennicks in einer Email hervorhebt: „James Stinson never spoke about slavery in these terms and left the possible meanings of Drexciya and their origin story open to the fans. Over time I can understand how this has become forgotten.“

Aus der Künstlerpersona machten die beiden Detroiter jedenfalls ein Mysterium, sie maskierten sich, schotteten sich von Presse, Fans und Musiker*innen ab. Wie die Nachfahr*innen und Bewohner*innen von Drexciya sind sie abgetaucht unter die Oberfläche, nur zu finden von denen, die im familiären Kreis Bescheid wissen. Florian Sievers fasst in einem GROOVE-Artikel zusammen: „Jedenfalls haben Drexciya nicht einfach nur Electroplatten veröffentlicht. Drexciya hatten was zu sagen. Sie hatten ein Konzept: ästhetisch, musikalisch und letztlich auch politisch.”

Der Mythos und die Suche nach Antworten

Und ihr Konzept wurde gehört, auch wenn Drexciya nie einen größeren kommerziellen Erfolg hatten. Während der zweiten Electro-Welle produzierten Donald und Stinson von 1992 bis 2002 Electro, Techno und Ambient auf renommierten Labels wie Underground Resistance, Tresor, Warp, Submerge und Rephlex. Ihre Stücke gelten als Meilensteine futuristisch-elektronischer Tanzmusik, die auch die nachfolgenden Generationen prägen. Viele Referenzen liegen bei Drexciya außerhalb des Musikalischen, zum Beispiel in mitgelieferten Textbotschaften, Tracktiteln, Einritzungen im Vinyl und in der Mythologie Drexciyas. 

Bildmaterial für The Book of Drexciya I (Grafik: Abdul Qadim Haqq)

Wie in jeder Science Fiction wird dabei nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart aufgegriffen: als Flucht aus einer feindlichen Welt, als Diagnose und Artikulation politischer und gesellschaftlicher Missstände, fußend auf der Sklaverei und der Unterdrückung von Afroamerikaner*innen und ihrer Kultur. Als Gegenentwurf zur weißen, dominanten Ästhetik, zu einer Geschichtsschreibung, die die Mittelpassage verschweigt, sowie zur Selbstaneignung und revolutionären Selbstbestimmung in einer alternativen Wirklichkeit.


Auch wenn die Geschichte Drexciyas die des Völkermords an People of Color ist, so benutzen sie Schmerz für eine kämpferische Utopie, die aber allen offen sein soll. 


Dass Drexciya ihre Musikfiktion im Erzählraum der Tiefsee im weiteren Schaffen als eine Utopie öffnen, die nicht eine bestimmte Kulturzugehörigkeit voraussetzt, sondern Zwischenwelten betont, die nicht nur örtlich, sondern auch psychologisch und emotional sind in ihrer Ambivalenz von Nicht-Hier- und Nicht-Dort-Sein, dem Gefühl von Alienation, Identitätssuche und auch die Selbstwahrnehmung als Künstler*in und traumatische Erfahrungen mitdenken, macht den eigentlich afrofuturistischen Kontext von Drexciya ebenso für weltweite Hörer*innen zum Faszinosum.


Abdul Qadim Haqq (Foto: Presse)

Im Diskurs der Fanbasis werden nicht nur Fragen zu Aspekten von Gouvernementalitäten des Selbst und zur Emanzipation gestellt, sondern auch konkret zu Lücken in der Narration des Drexciya-Mythos. Wie konnten die über Bord geworfenen Babys überleben? Wie sieht die Unterwasser-Gesellschaft aus? Sind dort nur die als männlich beschriebenen Kriegerwesen und ihre Feinde unterwegs? Ist ihr Atlantis eine Art Kastensystem? Wie verhält sich die Aqua-Utopia zu den beiden anderen Mythen (Nomaden und Weltall), die Drexciya später ihrem Werk hinzufügen? 

Kontroverse um die Graphic Novels

In einem offenen Brief an die Fans von Drexciya bezieht Andrea Clementson-Stinson, Witwe des verstorbenen Drexciya-Musikers James Stinson, Stellung zu einem ars technica-Artikel, auf den ihrer Meinung nach inoffiziellen Gebrauch von visuellen und inhaltlichen Konzepten Drexciyas hin: „Outside of the music there is no other product under the name of Drexciya. This applies to comic books and any apparel baring the name Drexciya.” Neben den beiden Büchern gibt es auch weitere Artikel mit von Haqq gemachten Drexciya-Designs wie Kleidungsstücken, Flip Flops, Handyhüllen usw. Stephen Kennicks vom Drexciya Research Lab schreibt dazu: „I don’t believe even Gerald Donald has authorised these.”

Gerald Donald als zweites Drexciya-Mitglied hat sich nicht in die Diskussion eingeschaltet, während Andrea Clementson-Stinson insistiert: „No one person is capable of relaying or expanding on the myth/story of Drexciya other than its creators. […] There were two agents of Drexciya and if it does not come from the two agents then please know that it is not legitimate.”


Das Cover von Relics – A Transmat Compilation von 1992 von Abdul Qadim Haqq (Foto: Plattencover)

Haqq prägte die Visualisierung von Detroit Techno, illustrierte für Underground Resistance sowie Planet E und kreierte das erste visuelle Konzept Drexciyas; auf dem Cover der UR-Compilation Interstellar Fugitives noch als an eine virusartige Spore, später unter anderem mit der ikonographischen Figur des Wavejumpers. James Stinson lebte zwei Blocks von Haqq entfernt. Beide formulierten anscheinend gemeinsam die Visualisierung des Drexciya-Mythos ab deren Comeback-Album Neptune’s Lair (zuvor gingen Donald und Stinson ab 1997 getrennte Wege), das als erste Zusammenarbeit mit dem Berliner Label nach dem Besuch Carola Stoibers in der einstigen Motor City 1999 auf Tresor erschien. Gerald Donald war im Vergleich wohl eher der schweigende Techniker und beantwortet bis heute keine Fragen über die Vergangenheit oder seinen Aufenthaltsort.


Das Cover von Installar Fugitives von 1998 von Abdul Qadim Haqq (Foto: Plattencover)

Haqq berichtet, dass er frei nach seiner eigenen Vorstellung The Book of Drexciya umgesetzt hat, ohne dass Donald Einfluss auf die Geschichte oder Gestaltung der Graphic Novels hatte, Donald aber persönlich das Okay für die Veröffentlichung gab. Haqq betonte im Vorfeld des Projekts, dass dieses auch offiziell von James Stinsons Mutter unterstützt würde, an deren Familie Erlöse aus dem Buchverkauf gehen sollen. Die Witwe von James Stinson allerdings wirft Haqq vor, dass er mit den Graphic Novels seine Karriere auf Kosten ihres Mannes vorantreiben möchte.

Haqq unterstreicht, dass alles rechtens sei: „I have a legal agreement with Gerald Donald to create these graphic novels. I consult with him several times a week about them as well as other future projects and plans. Our agreement was arranged by an attorney. […] Gerald Donald is the living member of Drexciya and he is whom I answer to.“ Dieser Debattenteil ist hier nachzulesen. Die Debatte umfassend zu erläutern oder gar zu bewerten, kann nicht Teil einer Buchrezension sein, sondern bedürfte Interviews mit allen Beteiligten und eine moralisch-rechtliche Betrachtungsweise in einem anderen Format.



Der Wavejumper, das inoffizielle Logo von Drexciya (Grafik: Abdul Qadim Haqq) 

Das Hauen und Stechen wirft die Frage der Authentizität auf, und damit ebenjenen Punkt, den Stinson und Donald durch alternative Geschichtsschreibung als Veräußerlichung verdeckter Notstände eigentlich umgehen. Auch wenn bei der Geschichte Drexciyas die des Völkermords an People of Color mitschwingt, so benutzen sie Schmerz für eine kämpferische Utopie, die aber allen offen sein soll. Andrea Clementson-Stinson unterstreicht dies in ihrem offenen Brief: „Drexciya’s music was never supposed to be associated with race or a race war. Techno and electronic music bring all types of people from all worlds together.”


Wer nichtsdestotrotz nach Ausformulierungen der offenen Drexciya-Erzählstränge in den Graphic Novels sucht, muss wohl oder übel mit der Urheber-Debatte im Hinterkopf leben.


Nun stellt sich im Zuge der Buchveröffentlichungen dennoch deutlich die Frage nach der Definitionsmacht. Wem gehört der Mythos? Wer darf verlässliche Aussagen treffen? Für Stinsons Frau ist klar: „The mystery of Drexciya will remain a mystery and I have never and will never provide authority to anyone to reveal the mystery. It is the way the creator of Drexciya left it on September 2, 2002, there was no end, no matter how many try.” Ein guter Hinweis, dass die Suche nach Antworten auch offenbleiben darf. Wer nichtsdestotrotz nach Ausformulierungen der offenen Drexciya-Erzählstränge in den Graphic Novels sucht, muss wohl oder übel mit der Urheber-Debatte im Hinterkopf leben.

Zum ersten Mal erscheint der Wavejumper auf Aquatic Invasion auf Underground Resistance von 1995 (Foto: Plattencover)

Bereits Anfang Januar 2020 erschien – ohne großes Medienecho – der Sampler Bubble Chamber des Labels Gentrified Underground, begleitend zur gleichnamigen Ausstellung von Mikro & UP STATE Zürich. Auf dem Cover findet sich, grafisch gestaltet, Haqq als Drexciyaner wieder. Der Doppel-Vinyl-Veröffentlichung rund um Sonic Fiction und Afrofuturismus war ein 56-seitiges Buch mit zuvor noch nicht veröffentlichtem Material Haqqs beigelegt, das schon einige Antworten zum Drexciya-Kosmos in den aktuellen Büchern vorwegnimmt, aber kaum Beachtung fand und keine Debatte auslöste.

Allstar-Team am Zeichenbrett

Fest steht, dass Haqq sich namhafte Künstler*innen für die ersten beiden Teile von The Book of Drexciya ins Boot holte und Tresor für die Veröffentlichung des ersten Teils ansprach. Mit dabei sind nicht nur Alan Oldham (Detroiter Techno-DJ, Produzent und Grafiker), die japanische Designerin Mei Yumoto sowie die brasilianischen Künstler Milton Estevan, Leonardo Gondim, Daniel Oliviera, Jorge Cortes, Hector Rubilar und Leo Rodrigues, mit denen Haaq zuvor schon arbeitete, sondern mit Rafael Lanhellas (Evil Ernie) und Dai Satō auch bekannte Anime-Autoren.

Das Cover von Ploy von Maurizio (Graphik: Abdul Qadim Haqq)

Satō schrieb etwa die Serien-Drehbücher von Ghost In The Shell: Stand Alone Complex und Cowboy Bebop mit. Davor war er – geprägt durch Yellow Magic Orchestra und Reisen in Clubkultur-Städte wie Manchester, London oder Berlin Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger – als Autor für Musik- und Gaming-Magazine sowie als Betreiber der Techno-Labels Frogman mit entsprechender Agentur zur Unterstützung japanischer Techno-Künstler*innen aktiv. Musik und Science-Fiction verschmelzen in seiner Mitarbeit an der Anime-Serie Samurai Champloo.

Bildmaterial für The Book of Drexciya I (Grafik: Abdul Qadim Haqq)

Die Tiefsee-Erzählung bei Drexciya generell beschreibt in Songtiteln Orte wie „The Unknown Aquazone”, „Black Sea”, das „Sighting in the Abyss”. Räume, die uncharted sind. Tracknamen wie „Dead Man’s Reef”, „Red Hills of Lardossa”, „Positron Island”, „Danger Bay” und „Bubble Metropolis” verweisen auf weitere Orte des Erzählraums. Auf Bewohner*innen verweisen Titel wie „Deep Sea Dweller”, auf deren wehrhaften Geist Tracks wie „Aquatic Invasion”. Zudem gibt es wiederkehrende Charaktere in den Tracktiteln: die Drexciyaner selbst, Kriegereinheiten wie die Wavejumpers, Doctor Blowfin, die Darthouven Fishmen sowie die Mutant Gillmen. Es gibt Stücke, die auf eine überlegene Technologie verweisen, beispielsweise auf Unterwasser-Cruiser.


In einer der stärksten Stellen des Buches schreit eine der Schwestern des Abgrunds ein um das Überleben kämpfendes Baby of Color verzweifelt an: „Resist! Live!”


Außerdem zeichnet sich die Welt von Drexciya durch unbekannte Naturphänomene aus, wie „Hydro Cubes” oder „Aqua Worm Holes”. Die wenigen Vocal-Parts in Drexciya-Stücken kreieren den Mythos weiter, etwa „You must face the power of the black wave of Lardossa before you can become a Drexciyan Wavejumper” („Wavejumper”, Underground Resistance, 1995). Die Graphic Novels bringen – aus der rein individuellen Sicht Haqqs – Licht in die jahrzehntelange Spekulation der Fans – so man denn die Kontroverse ausblenden und Haqq als einen legitimen Weitererzähler des Drexciya-Vermächtnisses sehen möchte.

The Book of Drexciya: Volume One

Das erste The Book of Drexciya beginnt mit dem von Cornelius Harris formulierten Ursprungsmythos, beim dem geschichtlich an das überlieferte Massaker auf dem britischen Sklavenschiff Zong 1781 angeknüpft wird. Die mit ihren Müttern ins Meer geworfenen Babys sollen gelernt haben, in der Gebärmutter flüssigen Wasserstoff zu atmen. In der Graphic Novel überleben die Babys das Grauen allerdings durch die Sisters of the Abyss, die die Babys in Luftblasen versorgen und in den Unterwasserhöhlen von Ociya Syndor großziehen.


Bildmaterial für The Book of Drexciya I (Graphik: Abdul Qadim Haqq)

In einer der stärksten Stellen des Buches schreit eine der Schwestern des Abgrunds ein um das Überleben kämpfendes Baby of Color verzweifelt an: „Resist! Live!” Die verschiedenen Schichten des Mythos sowie die Tragik als Grundlage einer notwendig gewordenen Selbstermächtigung durch alternative Geschichtsschreibung werden hier mehr als deutlich, besonders wenn aktuelle Katastrophen wie das Sterben von Geflüchteten im Mittelmeer, der Kontext der aus einem kollektiven Trauma geborenen Black-Lives-Matter-Bewegung und der Ursprung des I-Can’t-Breathe-Slogans mitschwingen. Im ersten Buch verlässt neun Monate später das erste gerettete Baby namens Drexaha seine Bubble und wird später zum ersten König der Drexciyans.


Den Underwater-Floor bespielen, mit Umhängekeyboards ausgestattet, Gerald Donald und James Stinson als beste Musiker des Königreiches von Drexciya mit einem Cameo-Auftritt.


In weiteren Episoden wird das Erwachsenwerden der ersten Drexciyianer*innen dargestellt. Der zu Hilfe gerufene Spezialist (Arithmetik, Alchemie, Quantengenetik, Biologie, Musik) und Wissenschaftler Dr. Blowfin, der an die Wissenschaftsverliebtheit Gerald Donalds mit seinen vielen Künstler-Synonymen erinnern mag und Abu Qadim Haqq sehr ähnlich sieht, weist in die Macht und Geheimnisse des Ozeans ein; inklusive der Benutzung von „Aqua Worm Holes” für schnelleres Reisen, des Kämpfens gegen eine „Sea Snake” und des Findens von „Neptune’s Lair”, wie die zuvor und nachfolgend in Anführungszeichen dargestellten Begriffe allesamt Tracktitel von Drexciya. Manche der Unterwasser-Bewohner*innen werden zu Wavejumpern. Teil deren Initiationsritus durch die Sisters of the Abyss ist das Aushalten der schmerzhaften Kraft der Black Wave of Lardossa. Der Schmerz ist auch hier konstituierendes Element einer neuen Macht, denn diejenigen, die das Leid zunächst ertragen, können sie als Wellenspringer danach als Waffe (Black Wave) benutzen.

Cameo-Auftritt von Drexciya in The Book of Drexciya Vol. 1 (Abbildung: Tresor)

Gemeint ist hier keine christliche Leidensgeschichte, sondern der Mythos einer marginalisierten Kultur von People of Color, die in Form von Kämpfer*innen dem Wasser entspringen, um Sklavenschiffe anzugreifen und Verschleppte zu befreien oder sich gegen Feinde wie die „Darthouven Fish Men” zu wehren. Trotz des Grauens der Geschehnisse ist es die Hoffnung, die die Graphic Novel und den Mythos um Drexciya durchzieht. So zeigt das vorletzte Kapitel eine Clubnacht, zu der die Besucher*innen in Bubbles (eine unfreiwillige Allegorie zur Krise der Clubkultur in Zeiten der Pandemie) mit einem „Music Does Unite Us All”-Ausruf reisen. Den Underwater-Floor bespielen, mit Umhängekeyboards ausgestattet, Gerald Donald und James Stinson als beste Musiker des Königreiches von Drexciya mit einem Cameo-Auftritt.


Netzwerk und Jahreszahl befeuern Erinnerungen an die berühmt gewordenen Weltkarten und an den Text des Unknown Writers (Cornelius Harris von UR) aus dem Beiheft der Drexciya-Compilation The Quest


Die Instrumentenwahl weist als Gag darauf hin, dass in den Achtzigern der analoge Drumcomputer Roland TR-808 (sicher eines der wichtigsten Geräte im Studio von Drexciya) für viele Musiker*innen zunächst ein ebenso wenig populäres Instrument war wie ein Umhängekeyboard. The Book of Drexciya: Volume One endet schließlich mit einer weiteren Anführerin im Fokus des Plots. Ihr Weg in die mit überlegener Technologie ausgestattete „Bubble Metropolis” wird mit den Vocals aus dem gleichnamigen Stück (Underground Resistance 026, 1993) beschrieben.

Skizzen zu The Book of Drexciya I (Graphik: Abdul Qadim Haqq)

Die Kapitänin des Lardossan Cruisers gleitet über die „Aquabahn”, und Kenner*innen der Gedichte von Amiri Baraka (LeRoy Jones) werden unweigerlich an folgende Zeilen denken müssen: „At the bottom of the Atlantic Ocean there’s a railroad made of human bones” (Wise, Why’s, Y’z, 1961). Es ist nun 1990 in der grafischen Erzählung: Das Königreich Drexciya blüht als Teil des Bubble-Unterwasser-Netzwerks. Netzwerk und Jahreszahl befeuern Erinnerungen an die berühmt gewordenen Weltkarten und an den bereits erwähnten Text des Unknown Writers (Cornelius Harris von UR) aus dem Beiheft der Drexciya-Compilation The Quest (Submerge, 1997). The Quest (Submerge, 1997). „What’s funny is most people don’t realize that Drexciya themselves didn’t write the most famous story (myth, legend) that they are known for! It was the Unknown Writer!”, weiß Haqq.

Drexciya – The Quest von 1997 (Illustration: CD-Booklet)

Im Booklet zeigt die erste Karte mit Bewegungspfeilen den Weg des Sklavenhandels in die Südstaaten Amerikas. Karte Nummer zwei zeigt die Migration der ehemaligen Sklaven*innen in die urbanen Zentren des amerikanischen Nordens und Westens. Die dritte Karte mit der Jahreszahl 1988 zeigt, wie sich Techno von Detroit aus weltweit ausbreitet. Schließlich ist auf der vierten Karte („The Journey Home”) ein Netzwerk des Austausches ohne Richtungspfeile zwischen Nord- und Südamerika und Afrika zu sehen. Dazu der Text (Auszug): „Do they walk among us? Are they more advanced than us and why do they make their strange music? What is their quest? These are many of the questions that you don’t know and never will.”

The Book of Drexciya: Volume Two

Das zweite Drexciya-Buch gibt sich nicht mit diesem offenen Ende zufrieden und springt ins Jahr 1557 zur Ausbildung von Drexaha und anderen jungen Krieger*innen zurück. Die vier Geschichten des zweiten Bandes teilen sich auf in Kriegertum, Wissenschaft, Gewalt, Liebe und Frau sein. Neben dem Krieger*innen-Training (inklusive Aqua-Jiu-Jitsu, angelehnt an einen weiteren Drexciya-Songtitel und teilweise erinnernd an eine Mischung aus Findet Nemo und Pirates of the Caribbean) werden bei Dr. Blowfin spezialisierte Naturwissenschaften studiert, dies um unter anderem die überlegene Energiequelle The Plexus in der Technologie des Polymonoplexus-Gels zu meistern, mit der in Bubbles gereist und durch Tore an einen anderen Ort gesprungen werden kann.


Bildmaterial für The Book of Drexciya II (Graphik: Abdul Qadim Haqq)

Das ist alles schon sehr nerdig, verweist aber in einer zentralen Stelle auf die schon vermuteten Vorfahren der Drexciyaner*innen: die High-Tech-Atlantisbewohner*innen, die ein schwarzes, unendliches Licht entdeckten, das ägyptische Priester*innen sagen ließ, dass Gott ein „black god” ist: „Thousands of years ago, the alchemists of Atlantis discovered something fascinating. With special technology and meditation techniques they perceived a limitless light, an empty black silent void that expands itself into boundless proportions, filing itself with a substance that they described as luminefarious ether or an electromagnetic azoth. […] Its vibratory emanations are far too subtle to be perceived by or through any of our sensory organs. Being an invisible black light, on the surface world 6000 years ago, the scientist-priests of ancient Khem declared: Behold! Our god is a black god! Too brilliant for mortal eyes!”


Der zweite Band, der in vielen Punkten wesentlich grimmiger als der erste ist, setzt sich fort mit der Hochzeit von Drexaha und Ociya, einer Kriegerin mit den Skills Tanzen und Kämpfen, die des Weiteren als „Unifier” gilt.


Zugleich kann die Aussage von Blowfin mit „These experiments must continue even if it means death” als ein Fingerzeig von Haqq darauf verstanden werden, dass das Erbe Stinsons weiter ausformuliert werden muss. Für die Protagonist*innen rund um Drexaha geht es nach sechs Jahren Ausbildung 1566 dann zur ersten Befreiung eines Sklav*innenschiffs, was grafisch mit vielen (vielleicht unnötigen?) Splatter-Elementen dargestellt wird. Der zweite Band, der in vielen Punkten wesentlich grimmiger als der erste ist, setzt sich fort mit der Hochzeit von Drexaha (Kurzform = Drex) und Ociya (Kurzform = Ciya), einer Kriegerin mit den Skills Tanzen und Kämpfen, die des Weiteren als „Unifier” gilt.

Bildmaterial für The Book of Drexciya II (Graphik: Abdul Qadim Haqq)

Durch die Verbindung der beiden entsteht dann – laut Haqqs Story – der Name Drexciya mit entsprechender Unterwassernation. „Both graphic novels are filled with strong women warriors and scientists that can more than hold their own in any dangerous situation”, sieht Haqq die weiblichen Bewohnerinnen des Unterwasserimperiums.

Die einzelnen Geschichten der Graphic Novels wären auch aus einer weiblichen Sicht und mit weiblicher Hauptfigur machbar gewesen, aber diese Chance hat man(n) verschenkt. Zum Abschluss rückt dann doch noch eine Frau ins Zentrum. Die Command Controllerin X205 schaut bei einem Problem an der Aquabahn (eine Referenz an das gleichnamige Drexciya-Stück, die wiederum Kraftwerk zitieren, aber wofür wird die Unterwasserautobahn eigentlich gebraucht, wenn das Reisen durch Tore möglich ist?) nach dem Rechten und besiegt einige Mutant-Gillmen-Wassermonster im Alleingang. 


Das allgemeine Aussehen Drexciyas bleibt aber generell dunkel und ist so weit entfernt von einer Knuddel-Alien-Unterwasser-Space-Ästhetik von YPS-Heften oder Eiffel 65 wie ein Auftritt Drexciyas beim Oktoberfest. 


Fragen offen zu lassen war eine der Stärken des Mythos. Eine visuelle Darstellung der Graphic Novel schafft konkrete Bilder. Die vage Ästhetik Drexciyas hatte zuvor viele Künstler*innen bis hin zum Ankommen des Afrofuturismus im Mainstream (Marvels Black Panther, Janelle Monae etc.) geprägt. Durch die visuelle Erzählung Haqqs wird der Look Drexciyas definierter. Die Farben des Wassers sind dunkel und mysteriös. Im Laufe der Episoden wird das Farbspektrum immer heller bis hin zur Farbexplosion in „Dance Night in Drexciya” (Band 1), die sich in ihrem utopischen Zusammenhang klar von den schwarz-weißen Pressefotos gelangweilt schauender Künstler*innen deutscher Techno-Dystopie absetzt.

Das allgemeine Aussehen Drexciyas bleibt aber generell dunkel und ist so weit entfernt von einer Knuddel-Alien-Unterwasser-Space-Ästhetik von YPS-Heften oder Eiffel 65 wie ein Auftritt Drexciyas beim Oktoberfest. Die Zeichnungen des fast ausschließlich männlichen Teams haben einen gewissen Neunziger-Retro-Session-Charme, der mit der Produktionsweise und dem Sound Drexciyas korrespondiert.

Ob das Gesellschaftssystem Drexciyas ein durchlässiges ist, bleibt offen. Ebenso das Weiterspinnen des Mythos von Drexciya als Stern im Weltall (Grava4-Album, Clone, 2002). Es bleiben Möglichkeiten offen für die weiteren Teile des Book of Drexciya. Abdul Qadim Haqq, der vor der Pandemie in verschiedenen Ländern unterwegs war, um Murals zu gestalten, Designs für den Detroiter Producer Luke Hess oder für die The-Exaltics-Picture-Disc We Exist sowie Talks zum Thema Afrofuturismus zu machen, plant mit mindestens fünf Teilen des Book of Drexciya plus einigen Spin-Offs.

Widerstand ist Leben – Leben ist Widerstand

Vielleicht müssen auch nicht alle Fragen zu Drexciya beantwortet werden. Die Unterwasserwelt lebt von der Imagination und Kraft der Vorstellung. Eine gewisse Abstraktion mag nötig sein, um ins Thema individuell eintauchen zu können. Mit der Nutzbarmachung und Zähmung des Sturms (Harnessed The Storm, Tresor, 2002) beschäftigt sich ein weiteres Drexciya-Album. Stinson und Donald begegnen kultureller Aneignung mit einem Modell transkultureller Identifikation mit utopischem Potenzial, in dem sie die politische Kraft von Imagination und Selbstermächtigung auch außerhalb der Beziehung zu Detroit und dem Auslöschen der Geschichte von People of Color zugänglich machen wollen.


Zugleich ist sie Grundlage der afroamerikanischen Geschichte, der Entstehung des modernen Kapitalismus, der Industrialisierung und der westlichen Wirtschaftsdominanz. 


Die Kritik am Afrofuturismus als bloßer Eskapismus bei Drexciya und in den Graphic Novels greift nur unzureichend, da der Rückzug das Entstehen einer neuen Welt schöpferisch implizieren kann. James Stinson sagte am Ende eines seiner wenigen Interviews, quasi testamentarisch, ohne von seinem Tod ein paar Tage später zu wissen: „Basically love each other. Love the music. And go for it – whatever your heart desires.” Oder wie Andrea Clementson-Stinson ihren offenen Brief abschließt und damit ihren Mann und Drexciya zitiert: „L.I.F.E = Life Is Fast Ending, so live!”

Skizzen für die verschiedenen Bände von The Book of Drexciya (Graphik: Abdul Qadim Haqq)

Drexciya ist zugleich mehr als Gedankenschach oder ein ästhetisches Spiel. Gleichwohl aller positiver Konnotation bleibt der von Cornelius Harris dargestellte Einfluss des Sklavenhandels auf die Identität und Kultur von People of Color die Grundlage der Utopie in der Drexciya-Rezeption. Wenn diese zu Drexciyas Werk mitgedacht wird, dann bedeutet die Mittelpassage Unsichtbarkeit, Ausschluss und Vernichtung. Zugleich ist sie Grundlage der afroamerikanischen Geschichte, der Entstehung des modernen Kapitalismus, der Industrialisierung und der westlichen Wirtschaftsdominanz. Medien des Widerstands können nicht nur die Trommelmaschine 808 oder ein musikvermittelter Mythos sein, sondern auch eine Graphic Novel als eine zur Tarnung gezwungene Trommel der Subversion im Sinne Amiri Barakas.

Christian Blumberg erklärte in der GROOVE: „Die Geschichte der Unterwasserpopulation ist eine sich selbst von jeder Kolonialisierung entfernende – und daher ein Akt der Befreiung”. Die imaginierten safe spaces bei Drexciya und in den aktuellen Graphic Novels sind aber auch Räume der Isolation, zugleich Metapher für gesellschaftliche Ausgrenzung, eben den erzwungenen Rückzug zum Überleben, für den transzellulären Raum und auch ganz konkret für die Künstlerexistenzen von Stinson und Donald. Liebe und Utopie reichen da nicht aus. Widerstand muss dazu. „Resist! Live!”, wie es zuvor hieß. 

Ein Verdienst der beiden Teile von The Book of Drexciya ist es, nicht nur Drexciya ein Denkmal zu setzten, sondern den damit verbundenen Diskurs wieder aufzurollen. Und das mit einer Konnotation von Optimismus, einer Jahrhunderte umspannenden Selbstermächtigungsstrategie und Hoffnung, die beide Bände durchziehen, selbst wenn die Urheberdebatte ungeklärt und einen bitteren Beigeschmack hat. Auch wenn beide Teile aus der rein persönlichen Sichtweise Haqqs gestaltet worden sind, werfen sie sich der in der Science-Fiction vorherrschenden weißen Dystopie mit einer Utopie von People of Color entgegen. Gleichermaßen folgen die graphic novels der Idee einer radikalen Deterritorialisierung, die global und zeitlos ist. 

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