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Motherboard: Juli 2021

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Das tolle Pax Aurora (Nous’klaer Audio, 9. Juli) der Rotterdamer Produzentin Nadia Struiwigh gibt ebenfalls eine Ahnung von der Vielseitigkeit und Modernität alter und neuer psychedelischer Synthesizerklänge. Nicht nur technisch ausgefuchst, sondern vor allem auf der affektiven emotionalen Ebene großzügig. Die bereits erschienene EP Oooso (Nous’klaer Audio) bettet Struiwighs explorative Sound-Flows zu mitwippbaren Tracks mit schleppenden Beats und trippigen Bässen.

Arandel, das nicht mehr ganz anonyme, aber noch immer reichlich enigmatische Kollektiv um den gleichnamigen Franzosen, führt seine Bach-Extrapolationen auf InBach Vol. 2 (Infiné, 2. Juli) in weitere Sphären. Mit direkter Interpretation hat das nichts zu tun, noch weniger mit Popularisierung oder Neoklassik. Arandel lässt sich von Bach zu Techno-Stücken oder French-Pop inspirieren, in denen Bachs melodisches und strukturelles Genie noch hörbar ist, aber kaum noch wiedererkennbar in Form der Melodie-Snippets, die die Popkultur seit langem heimsuchen. Damit bleiben Arandels Bach-Variationen weiterhin maximal eigenwillig.

Der Brite James Batty hat ebenfalls einen interessanten Weg gefunden, das reichlich ermüdete Genre der Piano-Neoklassik zu erfrischen. Auf Until I Set Him Free (Blue Spiral) gelingt ihm das über eine Klavierstimmung, die von der „wohltemperierten” Stimmung, die nicht zuletzt von Bach populär gemacht wurde, wieder Abschied nimmt und die milden Dissonanzen dieser Stimmungsmethoden stärker in den Vordergrund stellt, ohne Harmonie und Schönklang aufzugeben. Battys Pianostücke klingen immer nur leicht daneben.

Mocky, kanadischer Langzeitberliner, zurzeit in Los Angeles logierend, Buddy von Peaches und Chilly Gonzales, geht auf  Overtones for the Omniverse (Heavy Sheet Music, 30. Juli) den umgekehrten Weg. Er kleidete seine Popsongs in ein Gewand der klassischen Moderne, spezifisch der sowieso schon Electronica- und Techno-affinen perkussiv-loopigen Minimal Music von Steve Reich und Philipp Glass, und nahm sie ganz knapp vor den ersten Lockdowns und Kontaktverboten mit einem opulent besetzten Klassikorchester in Los Angeles auf. Meist als One-Take-Only-Aufnahme mit der Rauheit und perfekten Imperfektion, die aus einer quasi spontanen Arbeit von 16 Köpfen und Körpern beinahe zwangsläufig entstehen muss.

Was uns die Berliner Nicht-Wirklich-Debütantin Beste Aydin auf Ali (Incienso, 16. Juli) serviert, ist teils eher harte Liebe. Als Nene H bespielt(e) sie neben diversen Berliner Techno-, Kunst-, Musik- und Radiozusammenhängen noch DJ-Residencies in Kopenhagen und Kiev. All diese Erfahrungen und die Erinnerungen an eine Kindheit in Istanbul machen aus den Erinnerungen an die Traditionen und Avantgarden, an die intersektionalen Klänge und Nicht-Klänge der Heimat- und Nicht-Heimat Tracks, die ein an elektroakustischer Komposition geschultes Hören zulassen, ja einladen, aber gleichermaßen die simple Immersion, das Wegblasen in hämmerndem Industrial und anderen Schmerzensmusik-nahen Post-Club-Beats erlauben. Es hängt von der Lautstärke und wohl auch von der Qualität der Reproduktion ab. Ich erwähnte es öfter in den vergangenen Monaten: Selbst die klassischen Techno-Labels werden im Zeichen der Corona-Krise mutiger und offener in ihren Veröffentlichungspolitik. Nicht dass Incienso, das New Yorker Label von Anthony Naples und Jenny Slattery, je Probleme mit experimentellen Klängen gehabt hätte, Ali ist wohl dennoch ihre bisher mutigste und weitgreifendste Veröffentlichung. Respekt!

Die EP Sans Retour (Infiné) des Franzosen Basile3 hat ähnlich wenig Lust, sich auf einen Stil oder eine Stimmung festzulegen. Artifiziell oder organisch, technisch und erdig, Techno und Field Recordings – alles ist durch diese Song-Tracks hindurchgegangen und hat Spuren hinterlassen, die zu reduzierten elektronischen Klangstudien werden können oder Synth-Pop, die vergrübelt dark oder optimistisch extrovertiert werden können. Ganz schön viel und ganz schön gut für knapp 25 Minuten.

Messy Love kommt ebenso intensiv mit Breakbeat-Röstnote von Chicagos House-Zerstörer Mike Meegan alias RXM Reality. Seine intensiv-Kompresse aus Grime, Post-Step, Death-Metal, IDM und EDM, EBM und [Dreibuchstabenabkürzung deiner Wahl hier bitte einsetzen] ballert auf Advent (Orange Milk) Gehirn-erweiternd und -erweichend mit einem Herzen voller Gnade und ungefähr jedem Drumbreak, den man so kriegen kann – aus dem Mainstream rausgesamplt oder aus einem obskuren Industrial-Tape von 1981. In der brillanten Mind-Maschine von Meegan bekommt alles giftschillernden, hochauflösenden Crunch.

Harte Liebe in hochauflösendem Neon kommt aus der Ukraine von Diana Azzuz, die als DJ und Produzentin seit einigen Jahren in Kiew aktiv ist. Gegenüber den Dauerohrfeigen der drei Originaltracks von Anastrophe (Standard Deviation, 20. Juli), die sich alle im eher im disruptiven Post-Club bewegen, kommt der Remix von M.E.S.H. überraschend harmlos im unteren BPM-Bereich daher, leicht housig, clubbig, zahm, bissel Glitch dabei. Der Remix von Swan Meat haut dagegen gewohnt voll auf die Zwölf und lässt in puncto Ohrensausen und Tanzbeintaubheit keine Wünsche offen.

Wow, es sind keine fünf Jahre vergangen, seitdem ein paar Dutzend musikalische Aktivist*innen aus allen Ecken der Welt angetreten sind, um ihren ganz und gar eigenen und lokalen Entwurf tief globalisierter elektronischer Musik um die Welt zu schicken und in wenigen Jahren nicht nur ökonomisch erfolgreich und bestens international vernetzt zu sein, sondern eben lässig mal eine Fülle neu- und einzigartiger Styles zu etablieren, die weltweit Endruck machen und bis in den globalen Mainstream von K-Pop, EDM und (Post-)Techno hineinwirken. Neben den inzwischen globalen Playern von Nyege Nyege bzw. Hakuna Kulala aus Kampala, Uganda, Bedouin Records aus Bangkok, Thailand und SVBKVLT aus Shanghai, China haben vor allem die Londoner von Chinabot, die sich auf Künstler*innen aus Ostasien konzentrieren, einen Sound kreiert, der die Energie und den Aberwitz, das Druffe und Durche von Gabber, den Aggro von Digital Hardcore mit je eigenen wahlweise dengelnd schreddernden bis knatternden Beats nochmal komplett neu erfindet. Immer hochexperimentell, doch von einer in-your-face-Direktheit, die eben immer die Party mitdenkt und doch Ambient kann. Zum eckigen Vierjährigen hat Chinabot sich und uns nun eine Jubi-Compilation namens Tetra Hysteria Manifesto (Chinabot, 24. Juli) beschert, die mit allen Footwork-Wassern gewaschen und in Clubabstraktionen getauft den 180+-BPM-Terror in transzendente Tiefen versetzt, in denen dann neben allem notwendigen perkussiven Extremismus sogar Poesie mit Neoklassik-Begleitung oder nette Electronica möglich sind (aber keine Sorge, der Hardcore-Break kommt bestimmt). Hat jemand IDM gesagt? War da was? War da jemals was?

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