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Regal: „Was ist das überhaupt, Mainstream?”

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Regal (Sämtliche Fotos: YF Agency)

Regal machte sich 2012 schnell einen Namen im weltweiten Techno-Geschehen. Nach fast zehn Jahren, zahlreichen EPs und Kollaborationen mit Techno-Größen wie Len Faki oder Amelie Lens erscheint nun sein Debütalbum Remember Why You Started. Seinen typischen, harten (Acid-)Techno-Sound verschmilzt Regal, der bürgerlich Gabriel Cassina heißt, mit anderen Genres, mit euphorischem Pop etwa und einfühlsamen Vocals. Dabei ist das Album in einer Zeit entstanden, in der Cassina einige Herausforderungen zu meistern hatte. Unserer Autorin Pia Senkel hat Gabriel Cassina erklärt, wie er die Krisen in seinem Privatleben und in seiner Karriere in der Musik verarbeitet hat. 


Nach mehr als einem Jahr Pandemie sind virtuelle Gespräche zur traurigen Normalität geworden. Mehr als den Kopf seines Gegenübers, vielleicht noch ein kleiner Bereich des Oberkörpers sowie ein meist eher zufällig gewählter Hintergrund, der durch den Standort des Schreibtisches bestimmt wird, bekommt man nicht zu Gesicht. Gabriel Cassina trägt einen schlichten schwarzen Pullover, hinter ihm ist eine weiße Wand zu sehen. Weiter hinten ist ein deckenhohes Regal zu erkennen, in dem CDs und Platten ordentlich aneinandergereiht sind.

Cassina sitzt in seiner Wohnung in Madrid, die er seit einigen Wochen wieder sein Zuhause nennt. Vor knapp zwei Jahren war er in das sonnige Barcelona gezogen – doch Corona machte seinen Plänen dort ein Strich durch die Rechnung: „Der Umzug und die Zeit in Barcelona sollte eine schöne, neue Erfahrung werden, verwandelte sich jedoch in eine düstere, langweilige und irgendwie stressige Situation.” Mitte März letzten Jahres begann in ganz Spanien der erste harte Lockdown, der 100 Tage andauerte: Anders als hierzulande mussten nicht nur Geschäfte, Restaurants, Bars und Clubs schließen, sogar das Sporttreiben oder Spazierengehen waren während des gesamten Zeitraums verboten.

Also beschloss Cassina in seine Heimatstadt zurückzukehren, wo er die düsteren Corona-Zeiten immerhin mit Familie und Freunden verbringen konnte. Eine Entscheidung, die er nicht bereut. Immer wieder betont er, wie sehr er die Stadt liebt, in der aufwuchs und bis auf wenige Ausnahmen sein ganzes Leben verbrachte. Der enthusiastische Klang seiner Stimme untermauert seine Aussage. „Wir haben zwar kein Meer hier, aber Madrid ist eine wunderschöne Stadt, in der ich mich auch auskenne. Für mich ist es die schönste Stadt der Welt. Eine Stadt voller Möglichkeiten. Was auch immer du machen willst, hier kannst du es tun. Ich weiß auch nicht, diese Stadt ist ein Fetisch für mich”, sagt Cassina mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

Während des Interviews trinkt er einige wenige Schlucke aus einem Glas Cola, das er hinter dem Laptop hernimmt und dort wieder verschwinden lässt. Kurze Verschnaufpausen, in denen er aufmerksam den Fragen zuhört, nutzt er, um drei, vier Züge an einer bereits angefangenen Zigarette zu nehmen. 

Es ist nun fast zehn Jahre her, dass Cassina sein eigenes Label Involve Records gründete und sich in einem rasanten Tempo einen Namen in der weltweiten Techno-Szene machte. Man kann wohl kaum sagen, dass die Corona-Pandemie und die Dauerschließungen der Clubs ihm gelegen kamen, aber er nutzte die Zeit, um sich seinem ersten Album zu widmen. „Ich wollte etwas machen, bei dem die Leute nicht denken, er macht Techno. Oder er macht House. Oder er macht Acid. Ich wollte mit verschiedenen Genres experimentieren und eine Geschichte erzählen.”


„Was ist das überhaupt, Mainstream? und was ist Underground? Und wer hat das Recht mir zu sagen, ob meine Musik Mainstream oder Underground ist?”


Schon seit Jahren spielt er mit dem Gedanken, etwas „Komisches, Außergewöhnliches oder gar Verrücktes zu kreieren”. Er startete viele Projekte, die er jedoch nie zu seiner vollen Zufriedenheit beenden konnte. Mit Beginn der Pandemie im Lockdown in Barcelona hatte Cassina nun endlich Zeit, sein Langzeitprojekt abzuschließen. Er nutzte die Zeit, um ins Studio zu gehen und über die Botschaft, die er mit seinem Album vermitteln wollte, nachzudenken. Er hörte viel Musik anderer Künstler*innen und ließ sich von unterschiedlichsten Genres inspirieren. Während er von den verschiedenen Ideen erzählt, die während dieser Zeit in seinem Kopf umherschwirrten, gestikuliert er wild mit seinen Händen und veranschaulicht, wie er diese versuchte einzufangen und zu ordnen.

Das Gefühlschaos, das er während der Pandemie durchlebte, trieb ihn an, sein Album fertigzustellen: „Durch die dunklen Gedanken, die während des Lockdowns in Barcelona hochkamen, durch die stressige Situation und einige persönliche Angelegenheiten, die mich beschäftigten, war ich in der Lage, eine Botschaft zu übermitteln. Das Album sowie die Tracktitel sind ziemlich tiefgründig. Jeder einzelne Track trägt eine individuelle Message in sich.” Cassina verlor im vergangenen Jahr sowohl seine Großeltern als auch seinen Booking-Agenten, die an einer Corona-Infektion gestorben waren. 

Ein Typ legt Vinyl auf, und überall waren Scheinwerfer

Auch wenn jeder Track seine eigene Botschaft vermittelt, soll das Album als Ganzes widerspiegeln, wie er sich in der Welt des Technos oder der elektronischen Musik fühlt. Es kann auch als eine Kritik an der Techno-Szene verstanden werden, mit der er sich konkret an die anderen Künstler*innen wendet. Denn mit einigen habe er ein Problem, sagt er.

„Ehrlich gesagt geht mir die Techno-Szene manchmal ganz schön auf die Nerven. Ich fühle mich selbst nicht als ein Teil der puristischen Techno-Szene. Mit dem Album möchte ich diese ansprechen und ausdrücken, wie ich denke. Ich will zeigen: Das hier ist das, was ich mag – und das, was ich mit meiner Musik erreichen möchte.”

Cassina entschuldigt sich immer wieder für seine Englischkenntnisse und dafür, dass er nicht richtig in Worte fassen kann, was er fühlt. Seine Kernbotschaft ist jedoch eindeutig: „Mir gefällt diese Heuchelei in der Szene nicht. Du darfst das nicht sagen, du musst stattdessen jenes sagen. Du musst so denken, du musst das tragen. Wenn du hierhin gehst, darfst du nicht dahin gehen. Wenn du die Musik hörst, darfst du die andere Musik nicht hören.”

Er schüttelt mit einem irritierten, fast schon genervten Blick den Kopf, zuckt mit den Schultern. „Ständig geht es um Mainstream oder Underground, um Geld, um kein Geld. Das ist verrückt! Was ist das überhaupt, Mainstream? Und was ist Underground? Und wer hat das Recht mir zu sagen, ob meine Musik Mainstream oder Underground ist?” Bereits vor drei Jahren geriet Cassina in die Kritik wegen eines Facebook-Posts, in dem er äußerte, dass Techno zum neuen Mainstream-Genre werden solle – dieser Aussage würde er auch nach wie vor zustimmen, aber damit will er niemanden angreifen. „Mittlerweile gibt es viele riesengroße Festivals auf der ganzen Welt, auf denen Techno läuft. International bekannte Festivals wie Tomorrowland, auf denen vor wenigen Jahren nur EDM lief, haben jetzt eine große Techno-Stage. Das heißt, dass es viele Menschen gibt, die Techno hören wollen – deshalb ist es Mainstream”, erklärt er. 


Kurze Zeit später entdeckte Cassina, dass man die Tracks auch miteinander mixen kann. Das ist mittlerweile 18 Jahre her.


So verarbeitet Cassina in dem Album, das den Namen Remember Why You Started trägt, seine Gefühle rund um seine Karriere: „Ich muss zugeben, es gab einen Moment, an dem ich mich selbst fragte: Was ist mein Weg? Was ist mein Ziel? Wohin will ich gehen? Ich versuchte darüber nachzudenken, wieso ich angefangen habe, diese Musik zu machen.” Er erinnert sich, als er vor ein paar Jahren bei einem Kumpel in Italien war. Sein Freund hatte ein riesiges schwarzes Poster über seinem Bett hängen, auf dem in großen weißen Buchstaben nur der Satz „Remember Why You Started” gedruckt war. Sein Freund erklärte ihm, er wolle jeden Morgen aufstehen und sich daran erinnern, wieso er angefangen habe – und das ist genau das, was Cassina auch machen möchte.

Angefangen mit der Musik hat Cassina mit Kassetten, als er 13 Jahre alt war. Er hatte Fernsehen geschaut, es lief eine Dokumentation über DJs auf Ibiza. „Da war ein Typ, der mit Vinyl aufgelegt hat, und überall waren Scheinwerfer.“ Er zeigt mit seinem Finger geradeaus, als würde er auf den TV-Bildschirm zeigen, auf dem er damals die Doku gesehen hat und signalisieren:  „Das will ich, da will ich hin.”

Von dem Tag an begann er, seine eigenen Fake-Radioprogramme mit Kassetten zu aufzunehmen. Er hatte eine Kassette rechts, eine links – auch das veranschaulicht er mit seinen Händen –, mit der einen hat er aufgenommen, mit der anderen Musik abgespielt. Er ließ Musik laufen, stoppte zwischendurch, sprach etwas in ein Mikrofon und spielte dann einen anderen Track ab. Kurze Zeit später entdeckte er, dass man die Tracks auch miteinander mixen kann. Das ist mittlerweile 18 Jahre her, bald wird Regal 32.

Dunkle Keller, Strobolichter, tanzende, schwitzende Menschen und dröhnende Bässe

Die Corona-Pandemie bringt viele Menschen zum Nachdenken. Dabei geht es aber wohl weniger darum, wieso man mit dem, was man liebt, angefangen hat, sondern eher darum, wie es damit weitergehen soll. Unzählige Künstler*innen können seit mehr als einem Jahr ihre Berufe nicht ausüben, Bar- und Clubbesitzer*innen müssen ihre Lokale geschlossen halten. Wie wird Corona die Clubszene verändern? Werden wir jemals wieder zur alten Normalität zurückkehren und in düsteren Technokellern zusammen tanzen und schwitzen? Regals Antwort darauf ist: Nein, die Clubszene wird sich nicht verändern, und ja, wir werden irgendwann wieder unvergessliche Partys in unseren geliebten Clubs feiern. Menschen werden wieder auf dem Dancefloor tanzen und DJs werden wieder hinter ihren Pults stehen und auflegen. Aber natürlich hat die Corona-Pandemie schon ihre Spuren hinterlassen. Abgesehen davon, dass einige Schließungen endgültig sind und sich das Bar- und Clubangebot vielerorts verändern wird, zeichneten sich während der Pandemie auch neue Trends ab. 


„Die Teilnehmer*innen von Plague Raves bringen nicht nur sich selbst in Gefahr, sondern auch ihre eigenen Familien, Freund*innen sowie auch alle anderen Menschen um sich herum.”


Der Streaming-Hype, den wir besonders am Anfang der Pandemie erlebt haben, mit täglich neuen Streams von DJs auf der ganzen Welt – das war neu, das hatte es vor der Krise in dieser Form nicht gegeben. Mittlerweile fühlt es sich an wie das Normalste überhaupt. Cassina denkt nicht, dass das so bleiben wird: „Wenn dir in ein paar Jahren jemand sagt ‚Hey, ich mache heute einen Stream, schau mal rein’, würdest du auch sagen ‚Nein, ich gehe lieber in den Club’. Aber jetzt gerade sind wir an Livestreams gewöhnt, sie sind zur Normalität geworden.” Dieser Aussage werden wohl die Wenigsten widersprechen. „Ich denke auch, dass sich die Art verändern wird, wie wir mit unseren Fans kommunizieren und wie Künstler*innen oder Musik beworben werden. Die Clubszene aber wird die Clubszene bleiben: Dunkle Keller, Strobolichter, tanzende, schwitzende Menschen und dröhnende Bässe.”

Sowohl in Cassinas Heimatland als auch in Deutschland, besonders in der Hauptstadt, hört man trotz der Pandemie immer wieder von illegalen Partys und Raves. Jede*r sollte für sich selbst entscheiden, ob es wirklich angebracht ist, durch den Besuch einer Party die Leben vieler Menschen in Gefahr zu bringen – auch Cassina hat eine ganz klare Meinung dazu: „Ich glaube, diesen Leuten ist wirklich alles egal oder sie glauben schlichtweg nicht an das Virus. Es ist wirklich verrückt, wie viele Menschen zu diesen Raves gehen und einfach so tun, als gäbe es keine Pandemie. Um ehrlich zu sein, ich habe lange versucht, diese Menschen zu verstehen. Und ich weiß, diese Leute wollen einfach nur ihren Spaß haben, das wollen wir alle. Aber man muss eben auch mal an seine Mitmenschen denken und das Leben anderer respektieren. Die Teilnehmer*innen dieser Partys bringen nicht nur sich selbst in Gefahr, sondern auch ihre eigenen Familien, Freund*innen sowie auch alle anderen Menschen um sich herum.” Er hatte die Chance, bei einigen illegalen Raves aufzulegen, hat es aber nicht getan. Es sei gerade einfach nicht die Zeit, feiern zu gehen.

Trotzdem bleibt die Hoffnung, dass sich die Pandemie im Laufe des Jahres wieder legt und die ersten Partys wieder möglich sein werden. Auch eine Release-Party schließt Cassina nicht aus. Auf die abschließende Frage, wo er diese feiern wollen würde, antwortet er: „Ich weiß es nicht. Mit dem Album wird auch ein Kurzfilm erscheinen – wir würden den Film zur Premiere gerne in mehreren Städten gleichzeitig zeigen und im Anschluss kleine Partys veranstalten. Um ehrlich zu sein, in der aktuellen Situation weiß ich nicht, wie das funktionieren soll. Ich möchte einfach nur feiern dürfen, egal wann, egal wo – überall wird es fantastisch werden. Da bin ich mir sicher.”

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