DJ Chi und Oliver Koletzki (Fotos: GROOVE Archiv)

Seit etwa 15 Jahren ist der Name Oliver Koletzki nicht wegzudenken aus der Welt der elektronischen Musik. Durch seinen House-Sound zieht sich eine bestimmte Gelassenheit, die von organischen Tribal-Klängen und akustischen Instrumenten weitergetragen wird. Diese natürlichen Sounds gehen zusammen mit den Synthesizern eine Symbiose ein, die das Markenzeichen von Koletzkis Musik ist und seine Fans fesselt. Nicht weniger stilprägend ist sein eigenes Label Stil Vor Talent, das er 2005 gründete und als Talentschmiede für junge Musiker*innen dient. Doch auch ein Oliver Koletzki musste mal klein anfangen und sich hocharbeiten.

Schon vor seinem Durchbruch mit dem Hit „Mückenschwarm” produzierte er in Braunschweig beständig eigene Beats in seinem Jugendzimmer. Von was ließ er sich in dieser Zeit inspirieren, wer waren seine Vorbilder? Die Nächte im Stammheim in Kassel, dem berühmt-berüchtigten Technoclub, der von 1994 bis 2002 eine ganze Techno-Generation prägte. Besonders hatte es dem jungen Oliver Koletzki DJ Chi angetan. Für A DJ’s DJ erklärt Koletzki unserem Autor Leon Schuck, warum Chi einen solchen Eindruck auf ihn machte und warum sein Einfluss auch auf seinem neuen Album zu hören ist, das am 16. Juli erscheint.


Zum ersten Mal hab’ ich DJ Chi im Stammheim in Kassel erlebt. Das war damals einer der ersten großen Clubs. Wenn man aus Braunschweig in Niedersachsen kommt, hatte man Mitte der Neunziger nicht so viele Möglichkeiten. Es gab das Hanomag in Hannover, da lief aber in erster Linie harter Techno, das war damals gar nichts für mich. Oder man konnte nach Kassel ins Stammheim fahren. Das war ein verrückter Laden. Es gab dort einmal den Techno-Raum, wo Größen wie DJ Rush, Sven Väth oder Chris Liebing auflegten. Außerdem gab es einen Chillout-Floor auf einer ganzen Etage, wo hauptsächlich verrückte Experimental-Musik lief. Und dann gab es eben das House-Café, das vergleichbar mit der Panorama Bar im Berghain war. Der Floor dort war ein bisschen kleiner und der Großteil des Publikums war homosexuell. Da lief House, das war meine Musikrichtung. Damals fand ich Vocal- und Disco-House ganz toll, der richtig cheesy sein konnte! Und DJ Chi war dort der Resident.

Oliver-Koletzki (Foto: Daniel Heitmueller)

Ich bin mit Freunden in meinem Auto hingefahren, wir haben die Nacht durchgeravet. Morgens sind wir wieder zurück. Da hab’ ich ihn das erste Mal gehört und war ganz begeistert. Es wurde dann auch zum Ritual, dass wir mindestens einmal im Monat von Braunschweig nach Kassel gefahren sind. DJ Chi war der Haupt-Resident, und ich habe mich immer wahnsinnig gefreut, ihn zu hören und auch von ihm zu lernen, weil ich damals gerade erst angefangen habe, aufzulegen. Das war immer zur einen Hälfte Party und zur anderen Hälfte Musikunterricht.

Es war auch nicht so wie heute, dass es überall Clubs gab. In Deutschland gab es vielleicht acht bis zehn Techno-Clubs, die man ernst nehmen konnte. In Braunschweig gab es das Brain, das war ein kleiner Club, der ganz okay war. Aber wenn man auf einen richtigen Rave wollte mit mehreren hundert Leuten, gab es keine so große Auswahl. Das Internet wurde ja erst vor ein paar Jahren erfunden. (lacht) Das heißt, man musste immer nach Flyern Ausschau halten, um eine Party zu entdecken. Meistens lagen die in den Plattenläden aus, und wenn man einen gefunden hat, war die Aufregung groß. Das Stammheim war weit und breit der beste Club.


„DJ Chi hat wahnsinnig Party gemacht und die ganze Zeit getanzt, während er aufgelegt hat. Manchmal ist er auch einfach runtergegangen und hat auf dem Floor mitgetanzt, bevor er die nächste Platte gespielt hat.”

Oliver Koletzki über die Nächte mit DJ Chi im Stammheim

Freunde von mir, die zu der Zeit schon DJs waren, haben mich dorthin mitgenommen. Aber die standen alle auf harten Techno. Wir sind zusammen nach Kassel gefahren, in den Club rein, aber dann haben sich unsere Wege getrennt. Die anderen zum Techno-Floor bei 150 BPM und Strobolicht und ich alleine auf den House-Floor.

Dort hat es mir einfach besser gefallen. Die Floors haben sich nicht nur musikalisch unterschieden, sondern auch vom Kleidungsstil der Leute. Auf dem Techno-Floor hatten die Gäste weiße Handschuhe an und Gasmasken auf. Das war gar nichts für mich. Im House-Café war es auch so, dass alle verkleidet waren. Aber eher, wie man das heute von Festivals kennt: Alle waren bunt angezogen. Die Partys gingen sehr lange. Irgendwann wurde es hell, das Sonnenlicht schien rein. Die Leute haben trotzdem weitergetanzt, was heute ja normal ist. Aber damals gab es das noch nicht. Das war das erste Mal, dass es hell wurde und alle weitertanzten, obwohl es vormittags war. Das hatte ein besonderes Flair.

DJ Chi (Foto: GROOVE Archiv)

An DJ Chi faszinierte mich besonders, dass er eine Rampensau war. Er hat wahnsinnig Party gemacht und die ganze Zeit getanzt, während er aufgelegt hat. Manchmal ist er auch einfach runtergegangen und hat auf dem Floor mitgetanzt, bevor er die nächste Platte gespielt hat. Wenn er fertig war, ist er nicht nach Hause gefahren, sondern hat mit den Leuten im Publikum weitergefeiert. Am meisten beeindruckt hat mich als kleiner Newcomer-DJ, dass er damals schon sehr routiniert und selbstsicher war. Das war nicht so wie heute, dass man zwei CDJs hat und nur ein bisschen rumpitcht, bis die Geschwindigkeit stimmt und sich dann darauf verlassen kann. Man musste nach Gehör beatmatchen. Das muss man erstmal lernen. Ich habe mir damals als kleiner DJ ordentlich einen abgestrampelt, die Platten auf die richtige Geschwindigkeit zu bringen und sie da auch zu halten. Aber DJ Chi war super tight.

Jeder Übergang hat gepasst, und er hatte auch damals schon ein Gehör für die Tonarten. Das hat man gemerkt und gespürt. Ich bin da heute noch super empfindlich. Wenn ich irgendwo bin und merke, zwei Platten laufen zwar im Takt nebeneinander, aber nicht in einer passenden Tonart, bin ich sofort von der Tanzfläche runter. Das kann ich nicht lange anhören. Und ich stand damals eben vor ihm und dachte mir: „Was für ein geiler Typ! Wie macht der das? Das ist ja irre.” Dazu kam, dass er immer die allerneuesten Platten und Edits hatte. Im Gegensatz zu heute, wo online alles verfügbar ist, musste man in Plattenläden gehen. Am besten immer an dem Tag, an dem die neuen Lieferungen kamen. Es war aber natürlich auch so, dass der Laden nur zwei oder drei Exemplare von jeder Platte bestellt hat. Wichtige Platten wurden oft für die bekannten DJs zurückgelegt. Für die breite Masse waren die richtig Guten schwer zu bekommen. DJ Chi hatte sie aber alle. Ich stand da und dachte mir: „Alter, was ist denn das schon wieder? Wieso hat der das auf Vinyl?”


„Er schaffte es, Mixing zu einer Art von Kunstform zu machen.”

Oliver Koletzki über DJ Chi

DJ Chi war auch ein fairer Dude. Damals gab es DJs, die haben die Labels extra abgeklebt, damit man nicht sehen konnte, was sie spielten. Sie wollten ein Geheimnis daraus machen, damit sie allein die Platten hatten. Er war das genaue Gegenteil, er war einer der DJs, die die Platte genommen und an die Glasscheibe vom DJ-Pult gestellt haben, dass alle sie sehen konnten. Dazu kam, dass er eine unglaublich positive Aura ausstrahlte. Er hat immer gelächelt und war freundlich.

Zwar habe ich damals erst angefangen aufzulegen, House-Musik habe ich in dieser Zeit aber schon selbst produziert und viele eigene Sachen fertiggestellt. Ich war ein schüchterner Kollege und habe kaum ein Wort rausbekommen. Aber weil ich so ähnliche Musik produziert habe wie die Tracks, die DJ Chi auflegte, wollte ich unbedingt, dass er meine Sachen hört. Ich habe mir in den Monaten, in denen wir ins Stammheim sind, immer wieder vorgenommen, dass ich ihn heute anspreche. Getraut habe ich mich aber erst viel später. Ich stand an der Bar, als er auch zufällig an den Tresen kam. Er war sehr nett und hat mir auf meine Frage hin gleich seine Adresse gegeben, weil man ja über das Internet noch keine Musik verschicken konnte. Und so habe ich ihm dann eigene Lieder von mir nach Hause geschickt. Es ist zwar nichts aus den Nummern geworden, auch nachdem er mich mit jemandem vernetzt hat. Trotzdem habe ich es zu schätzen gewusst, dass er sich die Zeit genommen hat, meine Musik anzuhören.

Ich wollte natürlich auch technisch genauso gut sein wie er, deswegen habe ich viel Beatmatching geübt, bis ich mich darauf verlassen konnte, dass die Platten gleichzeitig laufen. Er konnte damals schon so lange zwei Tracks zusammen laufen lassen, dass ein völlig neues Lied entstanden ist. Er schaffte es, Mixing zu einer Kunstform zu machen, was ich bis heute immer wieder probiere, was ich heute sogar wichtiger finde als früher. Wenn ich DJs sehe, die einen Loop am Anfang des einen und am Ende des anderen Liedes machen und dann den Übergang minutenlang mit zwei langweiligen Loops mischen, dann funktioniert das für mich nicht. Das merken auch die Leute auf der Tanzfläche schnell. Durch ihn hab ich erkannt, dass Auflegen auch daraus besteht, zwei Tracks so lange wie möglich gleichzeitig so zu spielen, dass man nicht merkt, wo der eigentliche Übergang ist. Und am besten noch ein neues Lied entsteht. Das konnte DJ Chi damals schon.

Oliver-Koletzki (Foto: Daniel Heitmueller)

Die Nächte mit ihm und die gespielten Platten von ihm waren eine riesige Inspirationsquelle für meine Herangehensweise, Musik zu machen. Ich kam am Sonntag nach Hause und bin gar nicht schlafen gegangen, sondern habe den ganzen Tag produziert. Oftmals hab ich noch in der kommenden Woche von dem, was ich in der Nacht gehört habe, gezehrt. Das war ja die große Zeit des Samplings, und ich wollte auch etwas in diese Richtung machen. Überall wurde etwas geklaut – egal, ob es Platten aus den Siebzigern oder Achtzigern waren. DJ Chi hat viel organischen House mit Vocals, aber auch mit echten Gitarren und Bässen, aufgelegt, was mich bis heute geprägt hat. Drüben im Techno-Raum war es das Gegenteil, die Musik klang synthetisch, hart und schnell. Das House-Café klang organisch. Im Grundton bin ich bis heute dabei geblieben.

An Platten wie Homework von Daft Punk oder Funk Phenomena von Armand van Helden kann ich mich noch erinnern. Die hat man schon erkannt, wenn er das Stück reingemixt hat. Die Leute haben bei den ersten Takten angefangen, zu schreien. Das hat sich auch nicht so schnell abgenutzt wie heute, weil heute viel mehr Releases veröffentlicht werden. So ein Hit lief einfach ein halbes Jahr an jedem Wochenende, ohne dass jemand dachte: „Nicht schon wieder!” Es gab natürlich auch viel cheesy Zeug wie Spiller oder DJ Tonka, aber damals fand ich Vocals und Soul-Gesang einfach toll.

Mein neues Album Made Of Woods passt auch ganz gut in diesen Kontext, weil es sehr organisch ist. Es sind viele echte Bässe und Gitarren drin, die ich zuerst über das Keyboard eingespielt habe. Nachher haben das dann Musiker*innen mit echten Instrumenten nachgespielt. Das hat mich auch gerade wieder erinnert an die Musik von damals.

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