burger
burger
burger

Label: RAIDERS – Die Reform der Bass Music

- Advertisement -
- Advertisement -

Die Mitglieder vom RAIDERS-Kollektiv (Fotos & Grafik: RAIDERS)

Vor gut einem Jahr veröffentlichte eine achtköpfige Crew aus Berlin die Compilation Ghettoraid Vol. 1. Kurze Zeit später nannten sie sich RAIDERS. Im Oktober brachten sie mit Queens Of Club eine weitere, zweiteilige Compilation heraus, die ein nie dagewesenes Format darstellte: Am gesamten Release waren vom Artwork bis zum Mastering nur weibliche oder nicht-binäre Künstlerinnen beteiligt. 

In ihrer kurzen Schaffensphase mit gerade einmal drei Releases hat sich die Crew schon jetzt als einer der wichtigsten Katalysatoren moderner Bass-Music in der Berliner Szene etabliert. Besonders wichtig ist ihnen dabei die Diversität – sowohl auf dem Dancefloor als auch im Studio.

GROOVE-Autor Jan Goldmann sprach mit einem Teil des Kollektivs über Zoom. Im lockeren Gespräch ging es nicht nur um das Top-Thema des letzten Jahres (das zum Wohle aller ausnahmsweise mal unerwähnt bleibt). Sondern auch um die Sonnenseiten, die die ausgebliebenen Partys mit sich gebracht haben.

Betreiber*in: jpeg.love, $ombi, Young Lychee, Souci, Tamila, Just Turk, DJ Nortside, DJ Fucks Himself
Gründung: 2019
Stil: Fast-paced booty music
Acts: Sarah Farina, DJ Swagger, Coco Cobra + Mitglieder
Größter Hit: Sarah Farina – Get It Gurl
Motto: Vielfältigeren Bass auf die Dancefloors!

Mutig mussten neue Labels sein, in diesem unerfreulich-einzigartigen Jahr 2020. Aber wieso auch nicht, denn wann hätte es schon einen besseren Zeitpunkt geben können? Die Clubs sind seit gut einem Jahr verstummt, und wer weiß, wie lange noch. Im Grunde eine ideale Zeit, um Musik zu produzieren. Vor allem für eine breitere Hörer*innenschaft. „Dass sich die Musik auch nicht nur die DJs für den nächsten Gig anhören!” kommentiert Young Lychee von RAIDERS aus Berlin. Ihre bürgerlichen Namen behalten die Mitglieder gerne für sich – und generell teilen sie ihre Standpunkte meist zusammen als Gruppe.

Labels gründen sich zur Zeit wie am laufenden Band. Und doch erreichen nur einige wenige die Liga der Großen, die seit Jahren in der Szene etabliert sind. Wie schafft man das? Durch die gesunde, bereits erwähnte Portion Mut. Und dadurch, der Leidenschaft für die Musik Vorrang gegenüber dem Traum vom Ruhm zu gewähren. Das zeigt die Geschichte von RAIDERS. 

Ein paar Freunde treffen sich zum Auflegen, ein paar andere kommen dazu. DJ Fucks Himself und Young Lychee haben früher schon häufiger gemeinsam Open Airs veranstaltet. Bei einer Session in der Berliner Kunsthochschule Weißensee, an der einige der späteren Mitglieder studierten, formt sich eine Gruppe von acht Leuten. Dabei angenehm, aber ungewöhnlich: Die acht Mitglieder bilden verschiedene Geschlechteridentitäten mit vielfältigen Hintergründen und Migrationsgeschichten ab. Man versteht sich und beschließt, das öfter zu machen. So richtig geplant hatte die noch junge Crew damals eigentlich nichts. Und mit ihrem Senkrechtstart, der sämtliche Bass-Genres auch weit über die Grenzen Berlins in die Ohren vieler neuer Fans katapultieren würde, haben sie schon gar nicht gerechnet. 

„Mal die sein, von denen man als Musiker*in immer hofft, kontaktiert und gepusht zu werden!”

Die erste Party fand 2019 in einem Keller im Wedding statt. Der Raum kam „über den Freund der Ex meiner Mitbewohnerin, eine windige Connection”, erinnert sich Young Lychee. Ursprünglich ging es nur darum, die gemeinsame Leidenschaft zu Ghetto-House zu feiern. Selbst in einer Stadt wie Berlin, wo scheinbar jeder Musikgeschmack irgendwo bedient wird, waren Ghetto-House- und Electro-Partys eher rar gesät. Im windigen Keller im Wedding fanden dann noch ein paar Mal RAIDERS-Partys statt. Die Abende liefen gut: „Wir haben mitbekommen, dass es anscheinend doch genug Leute gibt, die diese Musik wollen”, bestätigt die Crew, „und es war schön, mal einen ganzen Abend dazu zu tanzen.”

Erste Überlegungen für ein Release kamen Ende 2019: „Mal die sein, von denen man als Musiker*in immer hofft, kontaktiert und gepusht zu werden!”. Zeitgleich trudelten erste Anfragen für Auftritte auf externen Partys ein. Darunter: das renommierte CTM-Festival. Und damit kam überhaupt erst die Idee für ein RAIDERS-Soundcloud-Profil: „Wir dachten, wir müssen mal einen Mix hochladen, damit die Leute, die zum CTM gehen, überhaupt wissen, was wir machen.”

Das wäre wohl das optimale Sprungbrett gewesen, eine erfolgreiche Partyreihe für Ghetto-House in Berlin zu etablieren. Dann die entscheidende Wende: Die meisten geplanten physischen Events sind der Corona-Krise zum Opfer gefallen. Der Grundstein für das Label im heutigen Umfang wurde also anfangs eher unfreiwillig gelegt. Mittlerweile bezweifelt die Crew, ob sie solche Mammutprojekte wie die drei bisherigen Compilations überhaupt ohne Corona hinbekommen hätte. Gig hier, Party da und dazwischen noch Zeit für große Releases? Auch die musikalische Vielfalt ihrer Veröffentlichungen glaubt die Crew nur durch Corona erreicht zu haben: „Hätten wir immer weiter Ghetto-House-Partys gemacht, dann hätten wir irgendwann ein festes Stammpublikum bekommen, das auch immer nur für Ghetto-House gekommen wäre!” 

Die acht Mitglieder von RAIDERS (Grafik und Fotos: RAIDERS)

Anfang Februar 2020, also noch kurz vor Corona, erschien die erste Compilation Ghettoraid Vol. 1. Damals noch unter dem alten Namen der Gruppe. Vom Wort „Ghetto” wollte sich das Label schnell wieder distanzieren. Vor allem mit der wachsenden Reichweite. Auch die traditionellen, teils stark sexistischen Vocals in Genres wie Ghetto-House lehnen die Acht ab. Zudem entwickelte sich ihr Interesse für immer mehr Bass-Genres: Jungle, Footwork, Hardcore. RAIDERS will offen sein. Für vieles und für viele. 

Im letzten Herbst setzte das Label dann ein Statement, das so noch nicht vielen in der Szene gelungen ist. Mit ihrer zweiten Veröffentlichung erscheint eine Compilation als Doppel-LP mit insgesamt 21 Tracks. Nun gut, das mag es vielleicht schon gegeben haben. Eine weitere Besonderheit stellt das Alleinstellungsmerkmal dar – und offenbart eine traurige Wahrheit: als eines der ersten Releases überhaupt sind alle Tracks von weiblichen oder non-binary Künstlerinnen produziert und gemastert worden. Nach eigener Recherche gab es so etwas bisher nur einmal auf einem Label aus Brasilien: „eine EP mit fünf oder sechs Tracks”, berichtet jpeg.love. Ghettoraid Vol. 1 bestand nur aus männlichen Künstlern – total normal in der Szene.

Die Idee zu dem Format entstand als spontaner Einwurf. Die Crew war sofort dabei. Aber auch außerhalb traf man einen Nerv: Der Umfang von 21 Tracks ergab sich aus dem Umstand, dass viele Künstlerinnen Tracks eingesendet haben. „Und da dann niemand ein richtig dickes Veto bei einem Track und wir einfach richtig Bock hatten, die Künstlerinnen zu supporten, kam die Idee zur großen Doppel-LP!”, erzählt jpeg.love weiter.

Der Mut zum Neuen zahlt sich aus

Der Titel Queens of Club ist angelehnt an Queens of Baltimore Club, eine legendäre Compilation aus dem Jahr 2001. Dafür produzierte der amerikanische DJ Technics elf Baltimore-Club-Tracks mit Vocals, die von fünf weiblichen Künstlerinnen eingesungen wurden. Fast 20 Jahre später sieht RAIDERS ihr Release als eine Art Hommage. Und dieser Mut zum Neuen und der damit einhergehende Kampf für Diversität hat sich ausgezahlt. Die Doppel-LP wurde ein Riesenerfolg. Premieren und Reviews erschienen in vielen Szene-Magazinen. Der mit dem Logo gravierte und mit der Musik bestückte USB-Stick war heiß begehrt.

An Pause machen und sich mal ausruhen ist bei den Mitgliedern von RAIDERS allerdings nicht zu denken. Das Kollektiv hat viel vor. Trotzdem will es nichts überstürzen: „Eine achtköpfige Gruppe ist auch nicht die schnellste Entscheidungsmaschine!”, stellen sie klar. 

Generell soll der Fokus erstmal auf EPs gelegt werden. Damit kann die Crew nämlich am einfachsten das machen, was ihnen am wichtigsten ist: möglichst viele Künstler*innen zu unterstützen. Auch Partys stehen ganz oben auf der Liste von Dingen, die nach Corona umgesetzt werden sollen: „Endlich mal die Tracks, die wir veröffentlicht haben, im Club hören!”

Drei wichtige Tracks von RAIDERS: 

1 – Souci – Reclaiming Bad Bitch (Queens Of Club – Night Shift)

Souci ist ebenfalls festes Crew-Mitglied von RAIDERS. Ihr Track „Reclaiming Bad Bitch” findet sich auf der dunkleren, schnelleren Hälfte der Queens-Of-Club-Compilation, auf Night Shift. Und mit guten 170 BPM geht es hier auch eindeutig vorwärts. Eine dröhnende Kickdrum nimmt von Anfang an ordentlich Fahrt auf, begleitet von schnellen, trippigen Synth-Lines im Hintergrund.

·

2 – Sarah Farina – Get It Gurl (Queens Of Club – Astral Booty)

„Get It Gurl” dürfte wohl einer der bekanntesten Tracks auf Queens of Club sein und findet sich auf der etwas wärmeren, funkigen Hälfte Astral Booty. Ein schönes, gebrochenes Drum-Pattern, ein gesampeltes Vocal und weiche Pads harmonieren in dem Track perfekt. Die Berliner Künstlerin Sarah Farina überzeugt hier als Produzentin im Mindesten so sehr wie hinter den Decks.

·

3 – Young Lychee – J@net (Ghettoraid Vol. 1)

RAIDERS-Crewmitglied Young Lychee veröffentlichte auf der ersten Compilation Ghettoraid Vol.1. Mit seinem Track „J@net” erklärt er ohne viele Worte das, was viele Fans des Genres als „booty-shakin’” bezeichnen würden. Super rhythmisch, super perkussiv und dennoch nicht überladen, leitet der Track eindeutig in Richtung Dancefloor. Ein paar dezente, housige Synth-Chords und viel Sub-Bass runden den Track ab.

·

In diesem Text

Weiterlesen

Features

[REWIND2024]: So feiert die Post-Corona-Generation

Die Jungen feiern anders, sagen die Alten – aber stimmt das wirklich? Wir haben uns dort umgehört, wo man es lebt: in der Post-Corona-Generation.

[REWIND2024]: Ist das Ritual der Clubnacht noch zeitgemäß?

Hohe Preise, leere Taschen, mediokre Musik, politische Zerwürfnisse – wo steht die Clubkultur am Ende eines ernüchternden Jahres? Die GROOVE-Redaktion lässt das Jahr 2024 Revue passieren.

[REWIND 2024]: Gibt es keine Solidarität in der Clubkultur?

Aslice ist tot. Clubs sperren zu. Und die Techno-Szene postet Herz-Emojis. Dabei bräuchte Clubkultur mehr als solidarische Selbstdarstellung.