Lucrecia Dalt (Alle Fotos: Camille Blake)
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Der Name Lucrecia Dalt ist gleich in mehreren Blasen des zeitgenössischen Kulturbetriebs geläufig. Die Kolumbianerin überzeugt nicht nur mit tiefschürfender, betörender Musik, die sich Conceptronica-Vorwürfen anmutig entzieht. Sie verknüpft ihre klanglichen Visionen zudem mit Installationen und Performances, die endlose Schlangen vor botanischen Gärten heraufbeschwören und Renommee in der arrivierten Kunstszene bescheren.
Wie sie diese Mixtur ausbalanciert, weswegen sich Wissenschaft und Kunst keineswegs widersprechen und wie sie ihre Konzeptkunst angeht, hat Lucrecia Dalt uns im Chat-Interview wenige Monate nach dem ersten Lockdown verraten.
Wie läuft der Lockdown bislang für dich? Hast du damit zu kämpfen?
Das wird eher auf lange Sicht passieren, weil man plötzlich total kurzfristig denkt. Es ist ja ohnehin nicht so, dass das Dasein als Musikerin irgendwelche Garantien geben würde. Aber ich war sehr zufrieden damit, was ich momentan erreicht hatte. Deshalb war dieser abrupte Stopp brutal. Nach den ersten drei Monaten bin ich aber immer noch positiv gestimmt.
Wie schwierig war es, in diesen kurzfristigen Modus gezwungen zu werden? Auch als konzeptionelle Künstlerin, die wahrscheinlich eher langfristig denkt?
Grundsätzlich hat das alles kräftig durchgerüttelt. In einem derartigen Zustand, in dem man viel Zeit hat, um nachzudenken, und ein Gefühl einer unmittelbar bevorstehenden Bedrohung, hinterfragt man alles. Es ist schwierig, zu entscheiden, in was man seine Energie steckt, wie man Dinge angeht.
Ist es vielleicht eine etwas bessere Situation für eine Künstlerin, die nicht hauptsächlich auf DJing und Clubs angewiesen ist? Oder ist es derzeit noch schwieriger, sich interessante Konzepte und Projekte zu überlegen?
Beides stimmt gewissermaßen. Man darf dabei nicht außer Acht lassen, dass es ein Privileg ist, all das in Deutschland durchstehen zu können. Ich bin mir bewusst, dass ich in einer besseren Situation bin als viele andere. Dennoch müssen wir alle uns um unsere Freunde und Familie kümmern, die Nachrichten verarbeiten und uns daran gewöhnen, im Hier und Jetzt zu leben – und dieses mit guten Gedanken zu unterfüttern.
Oder mit der Musik, die du produzierst. Interessant sind die subtilen, manchmal weniger subtilen südamerikanischen Einflüsse, die du dabei nutzt. Wie beeinflusst deine kolumbianische Herkunft deine Musik?
Wahrscheinlich in jeder Hinsicht. Und dieser Einfluss wächst mit der Zeit, und ich finde mehr und mehr Wert darin, damit aufgewachsen zu sein. Ich liebe es, Rhythmen und Melodien zu analysieren. Herauszufinden, warum mich die Musikstile, die ich als Kind und Teenager gehört habe, so stark bewegen. Allerdings versuche ich nicht direkt, diese Musik zu reproduzieren oder zu zelebrieren. Zumindest noch nicht.
„Ich bin von vornherein nicht an einer Direktheit interessiert. Das Erste, was ich brauche, ist die musikalische Schicht, das Grundgerüst.”
Es gibt also keinen Drang, diese Einflüsse zu verarbeiten, es passiert einfach?
Ich habe generell keinen Drang, irgendeine bestimmte Art von Musik in das einzubringen, was ich mache. Die verschiedenen Stile nutze ich, um meinen Lernprozess voranzutreiben, um zu analysieren. Ich bin jedoch besessen davon, ihren Geist zu entziffern und zu schauen, wie ich den in meine Musik übersetzen kann.
War das etwas, was du schon immer in deiner Musik haben wolltest? Wie hat sich das entwickelt?
Das ist nur ein Aspekt des Musikmachens. Musik ist aber das beste Format, um alle Dinge zu kombinieren, von denen ich besessen bin: Spezifische Klänge, Texturen, Rhythmen, geistige Prozesse genauso wie Poesie, Lektüren, Geschichten, Fiktionales und mehr.
Das ist bemerkenswert. Andere würden wohl eher an audiovisuelle Kunst als Medium der Wahl denken, um Ideen für das Publikum plausibler zu machen. Du könntest direkte, klare Botschaften artikulieren und müsstest dich nicht auf Interpretationen und individuelles Empfinden verlassen.
Ich bin von vornherein nicht an dieser Direktheit interessiert. Das Erste, was ich brauche, ist die musikalische Schicht, das Grundgerüst. Wenn dir das gefällt, begibst du dich in diese Dimension, dort kannst du bleiben. Darunter befinden sich all diese Geschichten, die möglicherweise an andere deiner Obsessionen, deiner Leidenschaften andocken. Und das ist wundervoll. Am Ende ist doch das Aufregendste im Leben, jemanden zu finden, der von denselben Dingen wie du besessen ist – und darüber zu sprechen.
Die Wörter „besessen” und „Obsession” nutzt du häufig. Das führt mich zum Opener deines Albums Anticlines von 2018, „Edge”.
Ich bin in der Tat sehr obsessiv.
Du hast den Track als stark sexuell bezeichnet. Gleichzeitig ist er vom Mythos von El Boraro inspiriert, der diese Sexualität mit einer weichen Schroffheit auflädt. Wie bringst du das alles zusammen? Nicht nur in Anticlines, auch in deiner sonstigen konzeptuellen Kunst?
In diesem Song nutze ich den Mythos als Metapher. Als Vehikel, um über eine spezielle Form der Liebe zu schreiben. In diesem Fall, ja, du hast es erraten: Obsessive Liebe. Wenn du jemanden so sehr liebst, dass du seinen oder ihren Körper von innen fühlen willst. Ich habe dafür aber keine Formel. Es fängt alles mit grundlegenden Dingen an. Das Erste, woran ich dachte, waren Blasen. Wie wundervoll und mysteriös sie sind. Das führte mich zu menschlichen Blasen und ich erinnerte mich an El Boraro, der diese Blasenkörper aus Menschen macht, wenn er durch die Nacht spaziert.
Kanntest du diesen Mythos seit Kindertagen?
Vage. Ich war vertrauter mit Mythen wie La Llorona, La Patasola oder El Mohan. La Llorona ist zum Beispiel eine Frau, die in der Nacht den Verlust ihrer Kinder beweint, weil sie sie ertränkt hat. Es ist interessant, dass Kinder mit diesem Zeug aufwachsen, mit großer Angst.
„Edge” ist ein sehr körperlicher Song. Ein Wesenszug, den ich deiner Musik generell attestieren würde. Kannst du dir körperlose Musik überhaupt vorstellen?
Die physische Dimension ist ein sehr wichtiger Aspekt, besonders bei meinen Performances.
Diese haben mit deinen Installationen einen sehr starken konzeptionellen Faden gemeinsam. Hinter deinen Projekten scheint immer eine ausgereifte Grundidee zu stecken. Welche Vorteile siehst du in dieser Art des Arbeitens?
Vorteile habe ich nicht im Kopf, wenn ich etwas mache. Oder die Vorstellung, dass es interessant sein könnte, darüber zu reden. Ich arbeite so, wenn es dafür überhaupt einen Grund gibt, weil ich den Wunsch habe, mein komplettes Potenzial zu nutzen. Oder mich frage, wie ich Sachen eindrücklicher, anziehender gestalten kann. Wie ich diverse Elemente integrieren kann – und mir das Leben etwas komplizierter machen kann!
Wie verlockend und ertragreich ist es für dich, Kunst und Wissenschaft zu kombinieren? Etwa in You Will Go Away One Day But I Will Not. Da hast du mit Maria Thereza Alves eine Kunstinstallation mit der Klassifizierung von Pflanzen verbunden. Themen, die normalerweise getrennt voneinander betrachtet werden. Weil du selbst einen wissenschaftlich-technologischen Hintergrund hast, interessiert mich, wie du diese beiden Welten zusammenbringst.
Ich weiß gar nicht, wieso sie überhaupt getrennt sein müssen. Ich bin Bauingenieurin und Musikerin, und ich mache meine eigenen Klamotten, das ist alles ein Teil desselben Körpers. Das bedeutet aber nicht, dass ich mich nicht mehr hinsetzen und Gitarre spielen kann, das genieße ich nämlich sehr! Für jemanden wie mich, die alleine arbeitet, mit dem Gewicht der Musikhistorie auf ihren Schultern, ist diese Art zu arbeiten eine valide Option. Man ist ohnehin die ganze Zeit am Recherchieren, liest den ganzen Tag über alles Mögliche, ist total unfokussiert.
Und diese Art zu arbeiten gibt dir einen Rahmen, der dich fokussierter sein lässt?
Gewissermaßen. Weil man dabei sein eigenes Universum erschafft, da man sich nicht in einem kollektiven Prozess befindet, der zu anderen Arbeitsweisen führt. Etwa wie bei einem Jazz-Album oder wenn man in einer Band spielt.
„Ich liebe es, Eine Beziehung zu einem Raum zu entwickeln, sich mit ihm auszutauschen, etwas zu verstärken, was ihm innewohnt.”
In den letzten Monaten hast du Projekte wie Dazwischen für den Mies-van-der-Rohe-Pavillon in Barcelona oder die bereits erwähnte Installation im Botanischen Garten Berlin fürs CTM 2020 durchgeführt. Wenn du die Möglichkeit hast, solche Räume zu bespielen, was hast du da im Kopf? Die Geschichte des Gebäudes, sein Platz in der Welt? Oder geht es dir mehr um die Akustik, um eine Antwort auf die bereits gegebenen Strukturen?
Größtenteils um Gesten oder gewisse Szenen, das will ich nicht ganz verraten. Aber ich fange damit an, mir Elemente vorzustellen, die ich im Raum platzieren könnte. Es hat mehr mit den architektonischen Wesenszügen zu tun. Und wie ich mit ihnen durch Klang, Licht, Performer*innen und meine eigene Anwesenheit spielen kann.
Dazwischen hat Elemente einer Soundinstallation, einer Live-Performance und von einer Art experimentellem Theater kombiniert, wobei das Publikum auf unerwarteten Wegen durch den Raum geführt wurde. Interessieren dich klassische Live-Sets auf einer Bühne, vor der ein Publikum steht, nach einer solchen Erfahrung überhaupt noch?
Absolut. Als Zuhörerin und Performerin. Es ist für mich nur ein anderes Format. Wenn ich aber die Chance bekomme, etwas Spezielles zu machen, wie in Barcelona, ergreife ich diese Gelegenheit mit voller Kraft. Ich liebe es, an solchen Projekten zu arbeiten. Eine Beziehung zu einem Raum zu entwickeln, sich mit ihm auszutauschen, etwas zu verstärken, was ihm innewohnt. Im Pavillon habe ich das beispielsweise mit dem Eindruck gemacht, dass sich Innen- und Außenwelt vermischen, den man dort bekommt.
Was wolltest du im Botanischen Garten herausstellen?
In dem Fall war alles anders, weil die Einladung zum Projekt mit einem sehr spezifischen Format verbunden war. Die ganze Installation sollte mit Kopfhörern wahrgenommen werden und war obendrauf eine Kollaboration mit einer anderen Künstlerin. Wegen der Kopfhörer dachte ich an ein Schichtgebilde aus Stimmen, die sich überlagern, die man aber nicht hört – nur durch die Technik.
Welche Rolle spielt für dich die Kolonialgeschichte Südamerikas als Künstlerin?
In diesem Projekt hat sie eine große Rolle gespielt. Und weil man Wege braucht, um die Reproduktion patriarchaler und unterdrückerischer Verhaltensmuster zu beenden, wird ihre Thematisierung auch zukünftig ein notwendiger Weg zu leben, zu werden, zu existieren.
Deine Klanginstallationen gehen spielerisch mit dem akustischen Raum um. Sie spielen außerdem mit der Erwartung der Hörer*innen und erschaffen klangliche Illusionen, indem sie das Nahe und Ferne durcheinander mischen. Wie erzeugst du diese Effekte und Wahrnehmungen?
Ich fange damit an, dass sich im noch leeren Raum für mich bestimmte Bilder und Szenen abspielen. Ich erblicke einen Balkon und sehe dort die Möglichkeit einer Mikroperformance. Oder ich überlege mir, wie ich meine Stimme aus irgendwelchen Ecken hallen lasse. Einmal, als ich einen Raum begangen habe, um auf Ideen zu kommen, hat sich ein Fenster ohne fremdes Zutun geöffnet. Das war ein Element, das ich irgendwie integrieren musste. Ich beziehe plötzliche Ereignisse mit ein, sie inspirieren mich.
Eine gute Übersicht und Spontaneität sind also deine wichtigsten Pfeiler?
Den Raum zu besichtigen ist definitiv elementar. Und ich lasse mir immer die Möglichkeit zur Improvisation offen, obwohl ich meistens einen ganzen Score entwerfe. Ich mag es nicht, auf starre Elemente festgelegt zu sein.
Lucrecia Dalts aktuelles Album No Era Sólida erschien im September auf RVNG Intl.