Für die Quicksails, das psychotrope Synthesizer-Projekt des Chicagoer Experimental-Sound-Studio-Wizards Ben Billington, gilt das heuer ganz ähnlich. Blue Rise (Hausu Mountain, 24. Juli) ist sein bisher angenehmster (und safester) Trip durch psychedelisch bunte Synthesizer-Welten, die mal an Ambient, mal an Electronica und sogar hin und wieder an Post-Club-R’n’B andocken. Die Modularsysnthesizer-Kiste macht es einem nicht leicht, während der Bedienung auf seine Schuhspitzen zu starren. Aber genau das bringt Billington hier perfekt auf den Punkt – experimentellen Synth-Shoegaze der freundlichst möglichen Sorte.
Das mit impressionistischen Piano-Tupfern aufgehellte Debüt Talbot Bells (Midira, 3. Juli) des Italieners Gianluca Calligaris alias Grotta Veterano treibt das Gefühl der isolationistischen Abgeschiedenheit und Ruhe ins extrem. Stiller und abgeschiedener und doch diesseitig weltlicher kann Dark Ambient kaum werden.
Sogar Richard Knox’ der instrumentalen Opulenz und Postrock-Grandiosität nie abgeneigte Combo A-Sun Amissa übt sich in Viruskrisenzeiten in bisher nicht dagewesener Zurückhaltung, ohne die eingeübte Epik ganz aufzugeben. Die drei jeweils viertelstündigen Tracks von Black Rain (I) (Gizeh, 3. Juli) wissen sehr genau, wie Schönheit aus der Obskurität kleinster Andeutungen erwächst.
Und es gibt noch immer Musiker*innen, die sich der neuen alten Romantik am Klavier mit Haut und Haar verschrieben haben. Etwa der Berliner Roman Rofalski, der sich schon durch die perfekte Pianisten-Matte qualifiziert, um erstmal an der Oberfläche zu bleiben. Seine EP Loophole (Nonclassical) greift aber ebenso selbstverständlich auf immense improvisatorische Fähigkeiten und Techniken der milden Avantgarde zurück.
Und sogar eine Free-Improv-Supergroup wie Polwechsel & Klaus Lang macht in diesen Tagen Neoklassik (nun ja, zumindest beinahe). Unseen (HatHut) nimmt sich schon die tendenziell voll-atonalen bis mikrotonalen Cluster der Elektroakustik, macht daraus aber etwas recht Zugängliches, das wie anti-romantischer Klassik-Pop klingt (na gut, „beinahe” ist da dann schon etwas strapaziert).
Kommt dann noch eine Elektroakustik, veredelt durch die akademischen Weihen des Pariser Ina-GRM-Instituts, dazu, gibt es kein Halten mehr. Die Reihe von Portraits, jeweils einer Musiker*in gewidmet, gibt sich keine Blöße. Avantgarde/Indie/Pop Altstar-Jim O’Rourke Shutting Down Here (GRM Portraits) setzt das in tiefen, warmen Drone um. Nicht weniger erhaben und aufgeweckt übrigens im schon bewährten Duo Kassel Jaeger & Jim O’Rourke, dessen In Cobalt Aura Sleeps (Editions Mego) selbstverständlich nicht enttäuscht.
Die konzeptschwere, Collage-artig montierte Footage Metabolist Meter (Foster, Cottin, Caetani and a Fly) (GRM Portraits) von Matmos- und Horse-Lords-Teilzeitmitglied Max Eilbacher ist hingegen schon etwas erwartbarer und Ina-GRM-gemäßer, macht aber Sinn und Krachspaß.
Der Knüller der jungen Reihe ist allerdings Forma (GRM Portraits) der britischen Cellistin Lucy Railton. Die ganze Welt elektroakustischer Komposition, durchmessen in 23 Minuten in etwas, das sich wie Dark Ambient konsumieren lässt und doch viel mehr Kontext und implizites Wissen bietet. Dass Railton zu den besten und interessantesten Musiker*innen ihrer Zunft gehört, hat sich jüngst wieder mit ihrer sensationell zurückhaltenden Einspielung von Olivier Messiaens Louange à l’Éternité de Jésus (from Quatuor pour la fin du temps) (Modern Love) beweisen. Auch schön, dass die Platte beim Techno-Label Modern Love aus Manchester erscheint, die hier mal wieder aus der Kiste rausdenken.
Und wem das alles zu brav, zu out of the box, zu fröhlich oder zu verkopft scheint, der*die kann sich von Wren den Abend verdunkeln lassen. Groundswells (Gizeh) gibt uns schlüpfrigsten Schneematsch-Meta-Metal mitten im Sommer. SO geht das.