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Motherboard: Juli 2020

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Wo die GROOVE steht in Sachen Rassismus und der Bedeutung nichtweißer Musiker*innen in der elektronischen Clubkultur und jenseits davon, hat Chefredakteur Alexis Waltz vor kurzem feinkörnig wie selbstkritisch kommuniziert. Aus der speziellen Sicht des Motherboard möchte ich hier noch die künstlerischen Kommentare des Berliner Produzenten und SciFi-&-Fantasy-Labelbetreibers Lamin Fofana ergänzen. Sein neuer Imprint Black Studies widmet sich mit seinen ersten beiden Veröffentlichungen Darkwater (Black Studies) und Blues (Black Studies, 3. Juli) einer spezifisch Schwarzen Form von Kritik. In der Form zartestmöglicher Electronica auf Darkwater und auf Field Recordings basierendem Ambient auf Blues gelingt Fofana scheinbar spielend eine subtile, komplexe und dennoch deutliche, hochpolitische wie brandaktuelle Kritik am Eurozentrismus und der selbstvergessenen, vermeintlich globalen Universalität seiner musikalischen Genres, die in Wirklichkeit alles andere als neutral oder farbenblind sind, sondern weiß und kolonialistisch vereinnahmt. Dass der Widerstand gegen diese inhärente Verschleierung und Verdunkelung der Ursprünge nicht aggressiv oder lautstark sein muss, sondern im Rahmen der Genres selbst wirkmächtig sein kann, zeigt Fofana auf seinen beiden Veröffentlichungen explizit. Bei aller Kritik geht ihm die Schönheit nie verloren, wird nie zu (an sich völlig nachvollziehbarer) Bitterkeit. Was für eine unglaubliche Leistung.

Mit langem Atem und doch hochkonzentriert alles auszureizen, was einem das gewählte Genre zu bieten hat, und es dann noch zu transformieren, zu transzendieren, das ist die höchste Kunst, die Kür jenseits des Wettbewerbs. Sie gelingt nicht oft, aber doch immer wieder. Zum Beispiel der Dänin Sofie Birch. Auf dem Tape Themes for a Better Tomorrow Vol. II ‘Hidden Terraces‘ (VAKNAR/Vaagner) sogar ganz locker, wie es scheint. Hörspielartig arrangierte Feldaufnahmen von Vögeln, Glocken, Regenwald und folkloristischen Instrumenten einer Kolumbien-Reise mit akustischer Gitarre und warmem Synthesizer-Gebrumm spielen zusammen in eines der perfektesten und reichhaltigsten Alben, die mit diesen mehr als bekannten Mitteln erdacht wurden.

Eine andere Methode, 40 Minuten mit einem einzigen Stück zu füllen, sind Loops. Hier besteht die Herausforderung darin, die Wiederholung des ähnlichen oder gar gleichen so zu gestalten, dass sie über die Langstrecke trägt. Die minimalistische Piano-Phrase, welche die australische Sound-Artistin Lisa Lerkenfeldt auf A Liquor of Daisies (Shelter Press) in Schleifen legt und mit verrauschter Atmosphäre untermalt, sie trägt und trägt und trägt! So brillant, dass sich der 40-Minüter keineswegs hinter den Klassikern des Genres wie William Basinskis Disintegration Loops verstecken muss.

Jana Irmert ist eher für mittelstrenge Sound Art und mikrotonale Elektroakustik mit Überlapp zu minimalistischem Ambient bekannt. Ihre jüngste Digital-Single Everything Minus All (Fabrique Records) spielt durchaus noch immer mit der kargen Schönheit weitgehend leerer Klangräume. In diesem Fall jedoch in einer Umgebung, die weniger Kunst oder Akademie als angenehm temperierte Lounge-Immersion in Drone verspricht. Mimimal kuschelige Isolation in nur achteinhalb Minuten, aber doch genau richtig zwischen den noch länger ausgebreiteten Stücken.

Die lange Strecke ist die Spezialität des australischen Labels Longform Editions, auf dem auch Lerkenfeldt schon veröffentlicht hat. Das jüngste Paket ihrer nur digital vertriebenen Langstücke ist mal wieder sehr gelungen. Allein schon, weil Will Long als einer der charakterlich und thematisch naheliegendsten Künstler endlich auf dem Label angekommen ist. Der einstündige Track For The Meantime (Longform Editions) präsentiert die Idee des Projekts Celer in Reinform. Quasi endloses Mäandern eines ganz schlichten Sounds in minimaler Variation und trotzdem oder gerade deswegen unendlich tief und reich. Eine Meditation über den tiefen Wunsch nach Veränderung und das Glück der ebenso fundamentalen Trägheit, die sie verhindert.

Der Japaner Chihei Hatakeyama ist ähnlich lange im Geschäft und vergleichbar prominent. Sein Beitrag Blue Goat (Longform Editions) beschränkt sich auf vergleichsweise bescheidene 20 Minuten submariner Blubberbläschen aus dem Achtziger-Vintage-Synthesizer Roland Alpha Juno.

A Song (Longform Editions) von Michael Vincent Waller bietet dazu das ultimative Kontrastprogramm: eine gänzlich unelektronische 20-minütige Piano-Improvisation.

Das eigentliche Highlight der aktuellen Longform-Fuhre ist aber trotz der jeweils makellosen Qualität der Beiträge der anderen etablierten Produzent*innen Affection In A Time of Crisis (Longform Editions) der Norwegerin Carmen Villain. Die versierte Produzentin und Vokalistin, die ein breites Repertoire von psychedelischem Improv-Rock zu Shoegaze-Electronica aufweisen kann, hat sich hier erstmals an ein beatloses Ambient-Stück mit New-Age-Charakter und Flötentönen gewagt, das eine ganz unironisch großartige Errungenschaft ist.

Die Deprivation an Sozialkontakten während der Isolation hat nicht wenige Produzent*innen, die bisher nur im engeren Kontext von Techno und Clubmusik arbeiteten, zur Introspektion, zum Umdenken der je eigenen Arbeitsweise animiert, nicht selten krisenhaft verschärft. Und zwar so gut wie überall auf der Welt, etwa in der chilenischen Provinzstadt Cahuíl, von der aus Kamila Govorčin, die als DJ und Betreiberin von Panal Records seit Jahren eine tragende Szenegröße in Santiago ist, ihr dunkles Ambient-Debüt Anima (Clang) schrieb. Ein beeindruckendes Großwerk, durch das der scharfe Pazifikwind über winterliche Salzmarschen und verlassene Ferienhäuser peitscht, das von schroffer Natur und urbaner Einsamkeit spricht. 

Das britische Duo Urban Eden ist ähnlich fest mit der brutalistischen Topographie Südlondons verwachsen. Weniger verlassene Naturkultur als leere urbane Dichte in Beton prägt ihre Kollaboration, wie sich entlang der tollen Schwarzweiß-Bilder von Liz Helman im Booklet von Building Gardens From Concrete (Midira, 3. Juli) leicht assoziieren lässt. Überreich an Textur in einem minimalen Setup von heißkalten Drones zeigen Govorčin wie Urban Eden, was im Bereich Dark Ambient gerade so geht. Ganz schön viel.

Wo Dark Ambient steht, ist zumindest für die Urban-Eden-Hälfte Dominic Hemy klar. Er hat die dritte EP seines ursprünglich als Covid-19-Antwort angelegten Labels Sick Notes mit urtypischen Londoner Beats aus dem Hardcore-Continuum den Opfern rassistisch motiviert Gewalt gewidmet und versucht sie auf Their Names Are Still Spoken (Sick Notes) dem Vergessen zu entreißen. Sämtliche Erlöse der EP gehen an BLACK LIVES MATTER UK.

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