Helena Hauff – Kern Vol. 5 (Tresor)
Offiziell über ein Label veröffentlichte DJ-Mixes sind inzwischen rar geworden, das Format der Mix-CD sowieso. Tresor führt nun aber nach dreijähriger Pause seine Kern-Serie weiter, die erscheint in gemixter Fassung sogar noch als Doppel-CD. Die fünfte Folge kommt von der Hamburgerin Helena Hauff. Die ist eh nicht für gut gelaunte und kuschelige Sets bekannt. Ihr mehr als zweistündiger, aus 31 Tracks bestehender Mix ist in seiner Schroffheit und Radikalität bemerkenswert. Bis kurz vor Schluss wird mit Tempo 150 herzerfrischend geschreddert. Bis über die Halbzeit hinaus dominiert Electro, allerdings nicht im Sinne von Dopplereffekt. Man begegnet Detroit Bass-Tracks von DJ Godfather & DJ Starski oder Musik an der Schwelle zu Breakcore, etwa von Blackmass Plastics. Ebenfalls vertreten ist der in den Neunzigern äußerst erfolgreiche Techno-Act The Advent, hier allerdings mit einer heruntergestrippten Electro-Nummer. Eine Kollabo von Hauff selbst mit Morah, „Segment 3“ heißt das Stück, markiert den Übergang zu gabberesken Sounds.
Den Höhepunkt an Intensität und Schreddertum markiert der Horrorcore-Track „Intellectual Killer“ von Nasenbluten, der lebt nicht zuletzt von einem prägnanten Gravediggaz-Sample. Kurz darauf streift die Hamburgerin mit einer 1991er-Platte von Q.D.T so ein kleines bisschen UK-Hardcore, bevor sie mit noch mehr Electro und fräsendem Acid den Ausgang sucht. Den gestaltet sie mit Maarten van der Vleuten und einem Stück von Andrea Parker und David Morley sehr stimmungsvoll. Düster und dystopisch bleibt aber auch das Ende dieses Rittes. Dass Helena Hauff eine leidenschaftliche Vinyldiggerin ist, sollte bekannt sein. Zu hören gibt es hier neben vielen raren und obskuren Platten aber auch eine ganze Reihe exklusiver Tracks, einer davon ist ihre bereits erwähnte Kollaboration mit Morah, weitere kommen von Umwelt, Machino, Galaxian und L.F.T. Da Helena Hauff ausschließlich mit Vinyl auflegt, hat sie von diesen Beiträge Dubplates anfertigen lassen. Kern Vol. 5 ist also in jeder Hinsicht eine durch und durch konsequente und kompromisslose Angelegenheit. Holger Klein
Lone – Greenhills Road Archive Traks Volume One & Two (Ancient Astronauts)
Wenn Matthew Cutler neue Musik herausbringt, ist nur eine Sache gewiss: Er wiederholt sich ungern. In der Zeit des Lockdowns hat er sich nun aber durch alte Tapes, Minidiscs, Festplatten oder CDs gehört. Es ging zurück bis in die Jahre 2002 bis 2006. Je zehn Tracks hat er aus diesem Wust an Musik für die beiden Folgen der Retrospektive Greenhills Road Archive Traks ausgesucht. Die ältesten Aufnahmen sind noch mit Fruity Loops produziert. Hört man diese Stücke heute, versteht man ganz gut, dass sich der in einem Dorf in der Nähe Nottinghams aufgewachsene Teenager den Namen Lone gab. Außer zum Skateboarden ging er nur selten nach draußen, stattdessen machte er in seinem Zimmer stundenlang Musik, die allerersten Schritte unternahm er auf der Playstation. Seine Frühwerke auf Greenhills Road Archive Traks sind noch sehr deutlich von der goldenen Warp-Ära inspiriert, von Aphex Twin, Boards Of Canada, Autechre oder Plaid. Auch wenn Cutler selbst immer wieder betont, dass er ein großer Madlib-Fan war, hört man davon in diesen frühen Tracks wenig. Doch obwohl immer wieder Richard D. James oder die Melodien von Boards Of Canada durchschimmern, ist doch einigermaßen faszinierend, dass damals schon ziemlich viel von dem präsent war, was man später mit dem Namen Lone assoziieren sollte, dass der junge Matthew Cutler bereits eine ausgeprägt eigene Handschrift hatte. Und das macht die beiden Folgen der Greenhills Road Archive Traks zu weitaus mehr als zu einem bloß interessanten Erlebnis. Zuweilen begibt man sich hier auf einen ziemlich abenteuerlichen Trip, dann entschwebt man in wunderschöne Traumwelten. Häufig vermischt sich aber das eine mit dem anderen. Holger Klein
The First Circle (Neroli)
Ursprünglich als Sublabel seines Imprints Archive von Enrico Crivellaro alias Volcov in Verona gegründet und nach einem Album von Brian Eno benannt, hat sich Neroli im Lauf der Zeit trotz eines eher zurückhaltenden Release-Schedules von einer Nebenstrecke zu einer Magistrale entwickelt, das als Schnittstelle zwischen West-London-Breakbeat und Deephouse den Output des Mutterschiffs zunehmend überflügelte. Zur Feier des 20-jährigen Bestehens veröffentlicht Crivellaro als 50. Katalognummer unter dem Titel The First Circle eine Compilation, die als Reigen von neun exklusiven Tunes den Kreis zu Enos aus einem knapp einstündigen Track bestehenden Ambient-Longplayer von 1993, also zur ursprünglichen Inspirationsquelle, schließt. Neben bereits auf Neroli in Erscheinung getretenen Producern wie 4Hero-Veteran Dego, Fred P, Patrice Scott und Ian O’Brien geben K15 und Linkwood ihr Labeldebüt. Drumbeats kommen hier nur am Rande vor, die Hauptrolle spielen Harmonien und Klangfarben. Highlights der herausragenden Anthologie sind Kirk Degiorgios „Leave Everything Behind”, „31 losses 31 wins“ von Dego und Aybees „River Of Evermore”. Nicht von dieser Welt und mithin für die Ewigkeit der Centertrack der kontemplativ-introspektiven Jubiläumszusammenstellung: „Snow“, eine bislang unveröffentlichte Kollaboration von Volcov mit Gerald Mitchell (von Underground Resistance) und Pirahnahead, das in einer Liga mit George Dukes epochalem „North Beach“ und dem famosen „Runddans“-Album von Todd Rundgren, Emil Nikolaisen und Hans-Peter Lindstrøm spielt. Harry Schmidt
The Third Room Fundraiser (The Third Room)
Die Compilation der Essener Veranstaltungsreihe The Third Room erscheint als erste Ausgabe ihres Dank Corona-Zwangspause aus der Taufe gehobenen eigenen Labels. Gleich zwanzig Tracks stark, bietet der Fundraiser einen guten Einblick in den Sound der Reihe aus dem Ruhrgebiet, die sich weitestgehend technoid präsentiert und dabei angenehm divers aufstellt.
Neben größeren Namen wie Ellen Allien, Dax J oder Obscure Shape & SHDW, die allesamt ihren gewohnt harten Sound abliefern, stechen vor allem regionale Talente wie Felix Fleer oder Jonas Landwehr, aber auch der The Third Room-Gründer Ahmet Sisman positiv hervor; ihre deepen, detailreichen Beiträge passen gut zu den überraschend atmosphärischen Tracks von Markus Suckut oder Henning Baer. Dazwischen schlängeln sich dann ein paar hypnotischere Titel von weiteren Westfalen wie etwa Stikdorn oder Marc Faenger. Die bilden dann auch die nötige stilistische Brücke, um den weiten Bogen von den steppigen, electronica-esquen Stücken zu den brachialen Brettern auf der Compilation zu schlagen.
Für Anhänger der Reihe auf jeden Fall eine schöne Gelegenheit, ihre Treue zu beweisen und dafür ein musikalisches Dankeschön zu bekommen. Leopold Hutter
Unbroken Dreams Of Light (Blueberry Records)
Dem New Yorker Blueberry Records-Labelgründer FaltyDL alias Drew Lustman – der auf dem einflussreichen Londoner Ninja Tune Label veröffentlicht – gelingt eine genre-übergreifende und trotzdem historisch schlüssig kuratierte Compilation mit bisher unveröffentlichten Tracks von unbekannten Produzenten und Legenden der englischen Szene. So eröffnet Glen Faba die Spritztour mit „Arable”. Das ist eine von Detroit Chords inspirierte, basslastige, verspielte Instrumental-Nummer ohne Kickdrum – ein leises, hohles Ploppen ist hörbar. FaltyDL prescht mit „Ruby Rod” und panischen Flucht-Synkopen, einer langsamen Herzpumpen-Bassdrum, balearischen Chor-Synths weiter die Techno-Breakbeat-Reminiszenz-Straße herunter und einer düsteren Terminator-Zukunft entgegen. Todd Osborne feat. Luke Vibert – einer der UK-Electronica-Mitbegründer – nimmt dann klassisch mit der zweiten Welle des Detroit Electro a la Aux88 auf dem Motorway M4 Fahrt auf.
Weiter an einer Straßenbaustelle entlang übersteuert UC drei Minuten lang einen Conga Loop und mischt runtergepitchte Dub-Toasts darunter, die von Asian Dub Foundation stammen könnten; danach stampft die fette Bassramme schuffelnd in den Boden („Wake Up”). Wie die UK Garage-Ikonen von Horsepower Productions mit Hardcore-Breakbeats um 1992 die Vauxhaul-Karre mit aufgedrehtem Joyride-Gefühl in das nächste Schaufenster crashen („The Doktor”) wirkt präzise ausgewählt. „Make some noise for the House Crew tonight”. So fährt die Compilation stimmig alle Feldwege des englischen Undergrounds der 1990er Jahre zwischen Electronica, IDM, Breakz, Bigbeat und Bleep-Noise-Techno ab. Auf dem Rastplatz beschwört Jonas Pudel in einer Telefonaufnahme mit deutschem Akzent das Falty auch mal im Pudel spielen sollte. Bis dann µ-Ziq – noch eine UK Legende – die Schallmauer des fein ausgepegelten Abmischens durchbricht und die rotzigen, aber lustig guten Unfallopfer harmonisch beruhigt in himmlische Gefilde entschweben lässt („Munki”). Mirko Hecktor
YuYu x Infinite Machine (YuYu/ Infinite Machine)
Der auf den ersten Blick etwas ungewöhnliche Titel dieser Compilation setzt sich zusammen aus einem der wichtigsten Veranstaltungsorte Mexico Cities, dem YuYu, und dem ebenso wichtigen und dort beheimateten Label Infinite Machine. Hier wie dort stehen solche Institutionen wegen Corona-Massnahmen mächtig unter Druck, und so reiht sich dieser Sampler auch in die Initiativen ein, die Künstler und Clubs beim finanziellen Überleben unterstützen sollen. Wichtiger aber ist den Machern, mexikanische Clubmusik auf die Tanzflächen dieser Welt zu bringen. Natürlich ist das Land kein weißer Fleck auf der Techno-House-Landkarte, vor allem seine Feiergemeinde hat einen legendären Ruf und etliche DJs sind weltweit bekannt, aber YuYu x Infinite Machine lässt erahnen, dass die mexikanische Szene viele entdeckenswerte Acts zu bieten hat. Die Stilvielfalt auf der Compilation erinnert am ehesten an britische Fusionsfreude, nur liegt hier der Fokus nicht so stark auf Dub und House, es wird quer durch alle Sub-Genres kombiniert und dabei bisweilen genial in neue Räume vorgestoßen.
In Camila Fuchs’ „Settle Down“ paaren sich Pop und Paranoia im Hallraum, Deeplinkin lässt in „Neuphaset“ einen Wobble-Bass über zwei Drittel des Tracks allein durch Soundnebelschleier tapsen, bis ihn endlich Mama Bassdrum an die Hand nimmt, und in El irreal Veintiunos „Demagogia“ rocken Kumbia, Techno und andalusisch-marokkanische Handclap-Tradition um die Wette. Eigentlich allen Stücken ist ein ausgeprägter elektronisch-abstrahierender Aspekt gemeinsam, fast nie wird eindeutig an existierende Stilpatterns angedockt, sondern sehr kreativ vermengt, zerknetet, gedehnt und gestaucht, sowohl in schöpferischer als auch und vor allem in technisch-produzierender Hinsicht – exemplarisch nachzuhören in dem herausragenden „Los Dos“ von Turning Torso. Selten erzeugen Compilations eine derart packende Wirkung auf so vielen Rezeptionsebenen wie YuYu x Infinite Machine. Mathias Schaffhäuser