Alexander Skancke – The Mouth EP (Det Gode Selskab)
„Munn”, der Opener dieser EP, beginnt mit einem swingenden, forsch nach vorne gehenden Housebeat und einem dubbigen, morphenden Bass. Cool, aber tausendmal gehört, und man wartet förmlich auf die nächsten Sound- und Groove-Klischees. Stattdessen führt Alexander Skancke eine verhaltene Vibraphon-Figur in Moll ein, die sich reizvoll an der in Dur gehaltenen Bassline reibt, was eine außergewöhnliche und absolut nicht erwartete Atmosphäre erzeugt. Auch die nach etwa dreieinhalb Minuten einsetzende rhythmische Akkord-Figur stammt nicht von der Stange, korrespondiert dafür aber sehr gut mit den wiederum absolut nach Leerbuch gebauten Snare-Breaks. Nach guten sechs Minuten ist alles vorbei und mal wieder bewiesen, dass House nach wie vor originell und geradezu herzerfrischend modelliert werden kann. Die folgenden beiden Stücke auf The Mouth EP untermauern diese Erkenntnis, arbeiten ebenfalls mit einerseits vertrauten funktionalen House-Versatzstücken und andererseits mit Genre-untypischen Ideen und Elementen und sollten allesamt auf heavy rotation in Clubs, Radiosendungen und Podcasts dieser gebeutelten Welt laufen. Mathias Schaffhäuser
Bergsonist & Gaul Plus – IM077 (Infinite Machine)
Optimo Music, Clan Destine Records oder auch das schwedische Börft – wer auf diese Labels ein Auge geworfen hat, dem dürfte die aus Marokko stammende und in New York lebende Künstlerin Bergsonist schon länger ein Begriff sein. Vor allem ihr Album Middle Ouest muss man unbedingt mal gehört haben. Knallende Kicks, minimale Drum- und Bleep-Modulationen sowie die repetitive Ausschlachtung dieser Elemente durch kumulierte Sound-Effekte wie Tape-Delays und Echos liefert sie auch auf der neuesten Split-EP mit Gaul Plus wieder ab. Ihr Lo-Fi-Techno-Punk hat allerdings auch nennenswerte Schwächen. Während „Shootings Everywhere” genug Energie mitbringt, um über die volle Track-Distanz zu fesseln, vermag „Viruses Destroying The Planet” das schon nicht mehr zu schaffen. Ein musikalischer Rohdiamant, der jedoch ohne den nötigen Feinschliff daherkommt. Das kann man über die beiden Tracks von Gaul Plus nicht sagen – der zermahlt nämlich lieber gleich den ganzen Stein zu Staub. Vor allem von „Lecherous Suitor RIP” hätte man dann gerne eine doppelte Prise. Mit 150 BPM, harten Snares und verzerrten Industrial-Samples punktend, peakt der Titel in einem kurzen Drop mit Sprachansage. Headbanger. Mit Sicherheit werden von beiden noch öfter lesen. Andreas Cevatli
Gabber Eleganza & HDMIRROR – The Real Life (Live From Earth Klub)
Mit den Releases von Live From Earth Klub verhält es sich immer sehr ähnlich. Relativ frei in der musikalischen Ausrichtung werden Lösungen gesucht, um die Eskalation auf dem Dancefloor weiter zu entgrenzen, ohne dabei so bratzig zu werden, dass Hörgewohnheiten komplett aufgegeben werden müssten. Deshalb ist der Hype, der immer mal wieder um das Kollektiv aufkommt, auch nachvollziehbar. Bestes Beispiel dafür ist die neue EP The Real Life von Gabber Eleganza und HDMIRROR. Mit modischem Gespür erinnert man sich hier wehmütig an die 90er-Hardstyle- Keller, in denen Zartheit im Sound höchstens mal auftaucht, damit man ihr dann durch gnadenlos hämmernde Beats entfliehen kann. Das Ganze gepaart mit extrem verzerrten Basslinien wie in „Cant Remember” oder brachialen Synthesizer-Sequenzen wie im Hit „Frozen Dopamina”, und heraus kommen Tracks, die zur Enthemmung ermuntern und die Vorfreude auf ein gemeinsames Nach-Corona-Tänzchen ins Unermessliche steigern. Lucas Hösel
India Jordan – For You (Local Action)
Toiletten waren in der Vergangenheit als öffentlich zugängliche und trotzdem private Orte safe spaces für India Jordan. Sie*er (India Jordan ist queer, im Englischen würde man das Pronomen they benutzen) hat dort vor Anfeindungen einer heteronormativ geprägten Gesellschaft Ruhe gefunden. „Als ich aufgewachsen bin, war es nicht unbedingt safe für mich, öffentlich Zuneigung für Menschen zu zeigen – Toiletten waren da ein Rückzugsort”, hat Jordan zur Veröffentlichung der EP For You erzählt. Das Cover-Foto ist auf so einer Toilette in einem Londoner Club entstanden. India Jordan hat in den vergangenen Monaten immer wieder mit Singles zwischen Happy Hardcore, Disco, Filter House und Bassmusik eine eindrucksvolle Handschrift präsentiert. Auf den sechs Tracks der EP entfalten sich die Einflüsse ausführlich. Die durchweg guten Tracks sind bis auf das fast introvertiert dubsteppige „Emotional Melodical” und den vernebelt-entrückten Drum’n’Bass-Entwurf „Westbourne Ave” energiegeladene, bestärkende Uptempo-Hymnen. Euphorische Synthesizer treffen auf catchy Vocal-Samples und Disco-Streicher, traumhafte Klangwolken auf bauchige Bässe, peitschende Breakbeats, rasende Rave-Piano-Sounds und pumpende 4/4-Kicks. Es klingt wie ein Happy End, das alle Menschen einschließt, egal, wo und wie sie sind. Philipp Weichenrieder
Second Storey – Varvet015 (Varvet)
Der Londoner Alec Storey begann seine Karriere vor etwa 15 Jahren unter dem Pseudonym Al Tourettes. Wenngleich der damalige Dubstep-Boom nicht spurlos an ihm vorbeiging, zeigte er sich schon mit seiner ersten Produzenten-Inkarnation recht vielseitig und schaute auch mal gerne bei Techno, Electro oder Breakbeat vorbei. Seit 2013 nennt der Mann sich nur noch Second Storey, zwei Alben bei Houndstooth hat er veröffentlicht. Daneben eine ganze Reihe von Maxis, auf welchen er so manche finstere Ecke zwischen Techno, Bass Music, Grime oder Ambient erforscht hat. Seine neue EP, die erste für das Berliner Label Varvet, ist ein wirklich schwerer Brocken. UK Garage-Beats treffen auf Industrial-Sounds und Gabber-Bassdrums, immer mal wieder lugt auch Alec Storeys Vorliebe für Electro hervor. Leichte Kost sind diese Stücke nicht, doch sie sind in ihrer Einzigartigkeit schlicht großartig. Diese Platte ist ein wunderbares Solitär. Holger Klein