Auch in Zeiten des Coronavirus erscheinen Alben am laufenden Band. Da die Übersicht behalten zu wollen und die passenden Langspieler für die Isolation zu küren, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Im ersten Teil des April-Rückblicks mit Addison Groove, DJ Python, K-LONE und fünf weiteren Künstler*innen – wie immer in alphabetischer Reihenfolge.
Addison Groove – Fred Neutron (GutterFunk)
Der britische Produzent Addison Groove hatte schon immer einen starken Hang zum Experimentieren. Seine wilden Genre-Mutationen Anfang der 2010er Jahre waren es, die maßgeblich zur Weiterentwicklung von Juke und Footwork und dessen Einfinden zwischen den Grenzen anderer Bass-Music-Stile wie Jungle und Dubstep führten. Seine Heimat Bristol und der jamaikanische Einschlag, der sich durch große Teile der UK-Clubkultur zieht, hinterlassen auf der neuen LP Fred Neutron genauso ihre Spuren wie technoide DNA aus Detroit. Dementsprechend vielseitig spielt sich das Album zwischen Club-Tools verschiedensten BPM-Bereichen ab. Wer sich vom Drum-Machine-Stakkato der ersten Lead-Single „Brand New Drop” bereits abschrecken lässt, sollte aber dringend dran bleiben! Denn Addison Groove arbeitet sich langsam über Techno/Juke-Hybride bis zum liquiden Jungle-Roller à la 1992 vor. Nur um die souligen Breakbeats kurz darauf wieder artgerecht klein zu hacken und anschließend wirklich spannend zu werden; mit einer trappifizerten R’n’B-Bass-Melange und dem von haitianischen Flöten geführten „Rele Dawomey”. Schließlich verabschiedet sich Groove mit seiner persönlichen, perkussiven Interpretation von IDM, die gemeinsam mit dem Intro eine stimmige Klammer bildet zu diesem sprunghaften und teilweise fordernden Album, das Club-Musik und Experimentierfreude gekonnt unter einen Hut bringt. Leopold Hutter
Aleksi Perälä – Oscillation 1&2 (Dub & Clone Basement Series)
Viele haben nun schon probiert, den Colundi-Sound für sich sprachlich aufzudröseln. Ihn zu analysieren und damit letztlich auch zu entzaubern. Doch wenn nicht einmal der wohl bekannteste Vertreter dieser Klangphilosophie imstande ist, die Formel zu beschreiben und sich selbst nur als Medium, quasi als „Geburtshelfer” für Colundi, sieht, sind die Vernünftler weitgehend ratlos. Kein Wunder, dass Aleksi Perälä keinerlei Hehl aus seiner gelebten Spiritualität macht und das in seiner Musik auslebt. Auch die beiden neuen Veröffentlichungen wirken auf die Hörer*in deshalb absolut intuitiv. Während Oscillation 1 etwas geradliniger und technoider daherkommt, sind auf Oscillation 2 die wilderen, experimentierfreudigeren, leicht EBM-beeinflussten Tracks dabei. Aber egal, wie hart die Drums auch scheppern oder die seltenen drahtigeren Basslinien treiben – immer bleibt alles weich eingehüllt. Besonders schön die bekannten Xylophon-artigen Sounds, die hier und da im Beatgerüst herumtropfen, um dann von verspulten, leicht gepitchten Pads sachte zur Seite geschoben zu werden. Die hochfrequenten Colundi-Klänge vibrieren dabei wie eh und je und erzeugen eine wärmende und vor allem positive Atmosphäre, die ihresgleichen sucht. Ist man einmal dem distinkten Vibe der Produktionen Peräläs verfallen, ist jedes neue Album eine neue wohltuende Erfahrung. Egal, wie sehr es auch vorangegangenen Releases ähneln mag. Lucas Hösel
Andrea – Ritorno (Ilian Tape)
Die Rückkehr ist eine eigenartige Begebenheit. Sie ist immer im Spannungsfeld zwischen alt und neu, zwischen vertraut und unbekannt. Dieser Tage wollen alle zurück in die Vor-Corona-Zeit, es nochmal besser, es nochmal richtig machen. Ob der Italiener Andrea dies im Hinterkopf hatte, als er sein Debüt Ritorno nannte, steht nirgends, weiß niemand. Dass der Titel trotzdem passt, ergibt sich sozusagen von selbst und wird zur Self-Fulfilling-Prophecy: Andrea versucht gar nicht erst irgendwas an dieser Platte als neu zu verkaufen. Es ist eine Rückkehr zu den eigenen musikalischen Wurzeln; ganz tief rein in die Neunziger. In die prallen Tage von IDM. Es gibt da diese Versuchung, den Namen Autechre als Referenz fallen zu lassen, man sollte aber widerstehen, denn Ritorno ist viel zu weich im Vergleich zum Werk der beiden Warp-Säulenheiligen. Das bedeutet aber gar nicht unbedingt etwas Schlechtes, denn Andrea spielt dann doch seine Karten richtig aus. Die Breakbeats sind punktgenau, die Dub-Sequenzen schlingern gekonnt durch Raum und Zeit und wenn mal was versucht wird, dann entsteht der Eindruck, Warp hätte uns damals ein paar Stücke vorenthalten. So hört man eine neue Platte und denkt: Good ol’ times. Auch drollig. Lars Fleischmann
Dana Ruh – Time Out Of Mind (Cave)
Dana Ruh macht mir Mühe. So lieb man die Geraer DJ doch mittlerweile gewonnen hat, mit ihren Labels (z.B. Cave, auf dem auch diese LP rauskommt) und ihren anderen Projekten (Plattenladen/Creative-Space KMA60 in Neukölln), so müde ist man von vielem, was auf Time Out Of Mind passiert. Der Anfang ist noch ganz verheißungsvoll: „Still” erinnert mit seinem Telefon-Sounds und dem housy Vibe im Anschluss an International Pony – „A New Bassline for José” und so. Wahrscheinlich sind wir im Retro-Turnus schon kurz vor dem Pony-Debüt. Das wäre zeitgeistig und zumindest halbwegs fresh. Doch, nun ja, das soll es dann auch erstmal gewesen sein. Schon „Pass My Way” ist Klicker-Klacker-Tech-House, wie man ihn in Berlin etwa 2007 gespielt hat. Der nun vor allen Dingen rausgeholt wird, wenn die Amphe-Pappfressen nicht nach Hause gehen wollen und können. Stücke wie „Misty Blue” und „New Day” bezeichnet man in einer anderen Welt wahrscheinlich als „kreative Drumming-Tracks”; in dieser Welt will aber wirklich keiner mehr leben. Jedoch: Es gibt da diese lichten Momente, mit Mikro-House-Anleihen und schwungvollen Lines, wie sie auch eine Steffi nicht viel besser hinbekommt. Dennoch muss man sagen: Angesichts der Klimakrise sollte man vorsichtig mit den fossilen Brennstoffen umgehen. Dass dies hier eine dreifache Vinyl-LP ist, sollte die Klima-Polizei unbedingt aufhorchen lassen. Lars Fleischmann
Daniel Monaco – Summer Twilight (Slow Motion)
Als Bassist ist der in Amsterdam lebende Italiener Daniele Labbate Mitglied der niederländischen Rock-Band Kane, des Neo-Folk-Kollektivs Knalland und des Afro-Rave-Trios Umeme, hat mit Künstlern wie Mad Professor und Jan Akkerman gearbeitet. Unter dem Alias Daniel Monaco produziert er geradlinige Italo-Tracks für Labels wie Bordello a Parigi, Pizzico Records oder Slow Motion. Dort erschien nun auch sein Debütalbum Summer Twilight, wobei es sich dabei mit sieben, teils Radioformat-kurzen Tunes und einer Laufzeit von kaum mehr als einer halben Stunde eher um ein Minialbum handelt. So plakativ wie ihre Titel („Puma Porn”, „Safari 80”, „Turbo Funk”) klingen auch die Stücke selbst, deren Zentrum meist eine plastische Synthie-Bassline markiert. Monacos Disco-Synthese mit Cosmic-Touch und gern auch einer Prise Acid nimmt zwar am darkeren, wavigen Anteil im Italo-Spektrum Maß, meidet jedoch alles, was an den Originalen der Achtziger-Ära krude, rätselhaft oder irritierend wirkte: Ihre hervorstechende Eigenschaft heißt schlicht Effizienz – Spielbarkeit ist Trumpf. Konfektionierte Schemen hinter sich zu lassen, bleibt dann ausgerechnet dem kürzesten Track vorbehalten: Auch Tim Kesteloos Gitarrenriffs und –licks tragen dazu bei, dass diese ausgesprochen DJ-freundliche, wenn auch auf weite Strecken etwas prosaische Veröffentlichung mit „I Came For Revenge” als erhebendem Höhe- und Schlusspunkt ausklingt. Harry Schmidt
DJ Python – Mas Amable (Incienso)
Wer’s noch nicht mitbekommen hat: DJ Python ist der New Yorker Brian Piñeyro, der mit seinem Debütalbum 2017 den Deep Reggeaton – wie er ihn selbst nennt – erfunden hat. Auf selbigem mischte er als erster Klänge aus Ambient, Techno und IDM mit Dembow-Rhythmen (prominentestes Beispiel dafür: Luis Fonsis „Despacito”). Musikjournalist*innen würden behaupten, dass Piñeyro „es mit diesem Album geschafft hat”. Soll heißen: weltweite Gigs und Einträge in Endjahreslisten folgten prompt. Sein zweites Album Mas Amable verfolgt diese Idee und geht noch einen Schritt weiter. Die acht Tracks mit durchgehend (!) 92 bpm fallen besonders durch die geringe Variation an Sounds und Samples auf. 48 Minuten zusammenhängende, sehr perkussive Tracks, meditative Beats und leicht variierende Rhythmen machen das Album zu einem hypnotischen Trip. Die Übergänge zwischen den einzelnen Titeln sind meist sehr subtil und unauffällig. Wer kurz denkt, seit 20 Minuten denselben Track zu hören, dem sei verziehen. In der zweiten Hälfte wird das ganze etwas aufgelockert durch den gesprochenen Text von LA Warman, die etwas von Hoffnung, Sehnsucht und Emotionen säuselt, und von harmonischen, mystisch-optimistischen Soundwolken, die die teils etwas zu repetitiven Rhythmen und minimalistischen Tracks etwas verfeinern. Keine übergroßen Synthesizer-Akkorde, keine Bass-Drops oder andere billige Effekthaschereien: Deep eben. DJ Python zeigt auf Mas Amable, wie viel Variation doch in einer so begrenzten Auswahl an Sounds stecken kann und wie viele spannende Dinge beim Aufbrechen von Genregrenzen immer wieder entstehen können. Besonderes Schmankerl für die Isolation und witziges Gimmick: Das Album ist mit einer Video-Animation eines brennenden Kamins unterlegt auf YouTube zu finden. Christoph Umhau
Hodge – Shadows In Blue (Houndstooth)
Inspiriert von seiner Liebe zu Pflanzen und Gärtnern, Science Fiction, alten Progrock-Albumcovern und, nicht zuletzt, Raves – so beschreibt Hodge selbst sein Debüt-Album, das nun nach einer Reihe von stark Dancefloor-orientierten Maxis auf Houndstooth erscheint. Und diese neu gewonnene Ruhe, die Organizität, die man mit Gartenarbeit und 70er Psychedelic assoziiert, scheint durchaus durch. Sei es in den träumerisch verdroneten Eröffnungsstücken „Canopy Shy” und „The World Is New Again” oder der so verspielten wie erhabenen Electronica von „Shadows In Blue“. „Lanacut” und „Sol” wiederum tauchen tief in in dystopisch anmutende Ambient-Zukunftswelten. Aber natürlich kommt auch der Rave-Aspekt nicht zu kurz, etwa im technoid nach vorne preschenden „Ghost Of Akina”, dem upliftenden Sonnenaufgangs-Sound von „Cutie” oder den rituell-hypnotischen Percussion-Kaskaden von „Lanes”. Am Ende landen wir dann wieder im Garten, nämlich bei „One Last Dance”, einem Track, der mit verwehten Fieldrecording-Atmosphären das so abwechslungsreiche wie überzeugende Album beschließt. Tim Lorenz
K-Lone – Cape Cira (Wisdom Teeth)
Laue Brisen, Vogelgezwitscher, ruhiger Pulsschlag. Wer die ersten Releases von K-Lone kennt, würde diese Assoziationen nicht unbedingt mit dem schwer rollenden Sound zwischen Bassmusik und House in Verbindung bringen. Auf der anderen Seite führte der Produzent mit dem Track „Woniso” der EP On Line (Vol. 1) schon in die Klanglandschaft, die er auf seinem Debütalbum umfassend ausbaut. Mit Cape Cira zieht er in sanften Tönen eine dichte Leinwand auf, hinter der es hell und warm pulsiert. Auf entspannten Synthesizer-Wellen tummeln sich elektronisch erzeugte Percussion und Field-Recordings von Vogelgezwitscher. Angeschoben werden die Tracks teilweise von zurückhaltenden 4/4-Kicks und gebrochenen Beats. Bei anderen entsteht die Dynamik allein durch die reichen Melodien. Zusammen mit Titelnamen wie „Cocoa” oder „Palmas” fördert K-Lone die Vorstellungsreise auf eine Insel bei warmem Sonnenschein. Das klingt nach Klischee, muss aber nicht negativ sein. Ein Klischee, etwas Vertrautes, kann dabei helfen, sich zu entspannen. Manchmal helfen vertraute Fantasien, um sich durch mitteleuropäische Winter zu bringen, aus einem Loch herauszufinden oder zumindest kurz abzuschalten. Das balearische Album des Produzenten aus England ist ein behutsam packendes, das nicht langweilig wird. Dem einen oder der anderen kann es vielleicht etwas Frieden geben. Muss ja nicht auf einer Traumreise in die Karibik sein. Wo wir ihn finden, bleibt unserer eigenen Vorstellung überlassen. Philipp Weichenrieder