Gregor Gysi (Foto: DIE LINKE im Bundestag)
Neben allen gesundheitlichen Gefahren von Corona zeichnet sich langsam ab, dass die Pandemie zudem zu einer echten Wirtschaftskrise für die ganze Gesellschaft führen könnte. Am härtesten trifft diese bereits jetzt diejenigen, die keine Festanstellung haben oder auf ein dickes Polster an Rücklagen zurückgreifen können: Selbstständige, Freiberufler*innen und Künstler*innen. Die notwendige Schließung kultureller Einrichtungen und damit verbundene Absagen von Veranstaltungen bedeuten für diese, dass von einem auf den anderen Tag die gesamten Aufträge einbrechen und sie in ihrer Existenz bedroht sind.
Auf die besonders prekäre Lage der Selbstständigen machte Gregor Gysi, Bundestagsabgeordneter für die Partei Die Linke, in einem Post auf Social Media vergangene Woche aufmerksam: „Wenn Konzerte nicht stattfinden, gibt es auch keine Honorare für Künstlerinnen und Künstler. Sie stehen häufig vor dem Nichts, müssen aber ihre Miete, Energie, Lebensmittel weiter bezahlen.“ GROOVE sprach mit dem Berliner Politiker am Telefon über seinen Vorschlag eines „Kurzarbeitergeld plus“ für Selbstständige, das bedingungslose Grundeinkommen und darüber, ob wir möglicherweise als bessere Gesellschaft aus dieser Krise hervorgehen werden.
Disclaimer: Das Interview mit Gregor Gysi fand bereits am vergangenen Freitag, 20. März, statt. Hinsichtlich der sich rasant verändernden tagespolitischen Lage können hier daher nicht alle aktuellen Entwicklungen berücksichtigt werden.
In einem Post über Social Media haben Sie kürzlich darauf hingewiesen, dass Selbstständige und insbesondere Künstler*innen von der Krise besonders stark betroffen sind. Warum liegen Ihnen diese besonders am Herzen?
Mit dem Kurzarbeitergeld haben wir bereits Regelungen für Unternehmen, um die Mitarbeiter*innen in ihrer Existenz zu sichern. Für Freiberufler*innen und Selbstständige gibt es bislang nichts. Natürlich haben einige dicke Rücklagen, aber wir haben weit über zwei Millionen Selbstständige in Deutschland, die vor dem Aus stehen – wir können die doch nicht alle in Privatinsolvenz schicken, ich bitte Sie! Die müssen ja weiterhin ihre Versicherungen zahlen, die Miete, die Energiekosten, Lebensmittel. Und alle Aufträge sind weg. Wenn die Veranstaltungen nicht stattfinden, bekommen sie logischerweise auch kein Geld. Die meisten haben keinen anderen Job nebenbei. Da muss sich die Politik Gedanken machen. Da muss schnell was passieren – und zwar nicht irgendein komischer Hilfsfonds, bei dem keiner weiß, wie er die Hilfe beantragen muss. Ich würde vorübergehend in dieser Situation für Selbstständige und Freiberufler*innen Kurzarbeitergeld einführen.
Selbstständige haben aber oft kein regelmäßiges Monatseinkommen. Wonach würde sich dieses Kurzarbeitergeld für Freiberufler*innen berechnen?
Man nimmt den letzten gültigen Steuerbescheid und rechnet davon das Nettoeinkommen aus. Wer keine Kinder hat, bekommt davon 60 Prozent, mit Kindern 67 Prozent, wie das auch beim regulären Kurzarbeitergeld geregelt ist. Das muss dann von der Bundesagentur für Arbeit überweisen werden, und zwar gleich für ein halbes Jahr, damit der bürokratische Aufwand gering ist. Die Beiträge für die Renten- und Krankenversicherung müssen meines Erachtens von der Künstlersozialkasse gezahlt werden.
Müsste dieses Kurzarbeitergeld später von den Selbstständigen zurückgezahlt werden?
Ich sage: Nur wenn die Einnahmen später deutlich höher sind als erwartet. Da muss man eine Grenze setzen, ab wann das schrittweise zurückgezahlt werden muss. Wenn man da nicht drüber kommt, dann ist es eben bezahlt und Schluss. Dann gibt es eben keine Rückzahlungspflicht. Sonst ruinier ich die Selbstständigen später ja wieder mit den Rückzahlungen!
„Es geht um die, die jetzt wirklich in Not geraten sind – und das ist eine große Mehrheit der Freiberufler*innen.“
Gregor Gysi
Auf Bundesebene wurde bereits ein umfassendes Rettungspaket beschlossen. Offen bleibt auch da bislang die Frage nach der Rückzahlungspflicht. Möglicherweise könnten gezahlte Hilfen nachträglich in Kredite umgewandelt werden, wenn sie sich bei späterer Prüfung als unberechtigt herausstellen. Finden Sie das richtig?
Das finde ich sehr problematisch, weil ich den Leuten Angst mache. Dann sagen die sich: „Mensch, ich hab ja noch einen zweiten Fernseher im Keller, darf ich überhaupt den Hilfsfonds in Anspruch nehmen?” Viel besser wäre es, eine Regelung zu machen, ab welchem Verdienst nachher zurückgezahlt werden muss. Und wenn dieser Verdienst nicht kommt, dann ist es eben nicht zurückzuzahlen. Natürlich gibt es dann auch zwei, drei, wo es nicht nötig gewesen wäre, aber darum müssen wir uns doch nicht so viele Gedanken machen. Es gäbe noch die Möglichkeit, eine eidesstattliche Versicherung zu verlangen, dass kein verfügbares Geld über einem bestimmten Betrag bei den Personen des Haushalts vorliegt.
Es geht um die, die jetzt wirklich in Not geraten sind – und das ist eine große Mehrheit der Freiberufler*innen. Anschließend müssen wir uns zudem mal grundsätzlich Gedanken um die Situation der Selbstständigen in Deutschland machen. Die meisten haben keine Arbeitslosenversicherung. Wenn sie nicht in der Künstlersozialkasse sind, haben sie keine Rentenversicherung. Viele sind nicht mal krankenversichert. Wie wollen wir das alles bezahlen, wenn die alt sind? Es wird höchste Zeit, sich darüber Gedanken zu machen!
Für die Clubs und Veranstaltungsorte spielt bei den staatlichen Hilfsmitteln besonders der Faktor Zeit eine wichtige Rolle. Viele treibt ein Verdienstausfall von nur wenigen Wochen in die Insolvenz. Wie schnell wird die staatliche Hilfe bei ihnen ankommen?
Ich bin kein Virologe, aber bei allem, was ich gelesen habe, behaupten ja einige, der Höhepunkt komme erst im Winter. Es wird sich im Sommer abmildern, aber ob dann die Clubs wieder geöffnet werden, weiß man nicht, weil die Politik ja auch Angst hat. Wenn man etwas erlaubt und plötzlich stellt sich heraus, dass dies zu einem großen Anstieg der Infektionen führte, bist du natürlich als Politiker*in erledigt. Die Regierung muss noch entschlossener, direkter und schneller Hilfsmaßnahmen anbieten, gerade wenn sie selbst nicht weiß, wie lange die Krise noch andauert.
„Der Virus unterscheidet nicht zwischen Armen und Reichen, zwischen Frauen und Männern, nicht nach Hautfarbe oder Nationalität. Wenn man das begreift, merkt man: Das ist ein Menschheitsproblem.“
Gregor Gysi
In vielen Artikeln zur Lage der Selbstständigen steht jetzt sinngemäß: „Der Staat kann auch nicht alle Probleme lösen, jetzt kommt es auf die Solidarität aller an.” Inwiefern stimmen Sie dem zu und worin sehen Sie die Problematik, wenn sich jede*r Einzelne jetzt auf sein privates Netz verlassen soll?
Solidarität muss tatsächlich gepflegt werden miteinander. Der Virus unterscheidet nicht zwischen Armen und Reichen, zwischen Frauen und Männern, nicht nach Hautfarbe oder Nationalität. Wenn man das begreift, merkt man: Das ist ein Menschheitsproblem. Natürlich brauchen wir Solidarität, zum Beispiel Hilfe beim Einkaufen, da gibt es ja auch viel Solidarität. Bloß: Eine finanzielle Solidarität, die wird es nicht geben. Der Selbstständige, der jetzt vor dem Ruin steht, der kann nicht beim Nachbarn klingeln und sagen: Gib mir doch für sechs Monate mal den Betrag X. Das ist albern, das ist wirklich eine staatliche Angelegenheit. Spenden sind etwas anderes, aber sonst läuft es privat nur selten oder nicht privat, sondern kommerziell.
Einige schlagen vor, dass jetzt vielleicht der Zeitpunkt gekommen sei, um über ein bedingungsloses Grundeinkommen nachzudenken. Halten Sie das für eine sinnvolle Maßnahme?
Nein. Abgesehen davon, dass ich es für zu teuer halte, kommt noch etwas anderes hinzu: Wenn das bedingungslose Grundeinkommen, das im Übrigen niemals bedingungslos sein kann, eingeführt wird, dann gibt es keine Arbeitslosenversicherung und keine gesetzliche Rentenversicherung mehr. Denn die Leute haben ja ihr „bedingungsloses” Grundeinkommen. Das ist schwer. Man kann sich natürlich weiterhin privat versichern, aber es gibt ja dann wieder viele, die das nicht können. Das heißt, dass jemand, der zehn Jahre lang erwerbstätig war, und jemand, der 45 Jahre lang erwerbstätig war, wenn sie nicht privat versichert sind, im Alter die gleiche bedingungslose Grundsicherung bekommen und nicht mehr. Ist das gerecht? Auch beim Arbeitslosengeld wäre es ja so, dass alle das bedingungslose Grundeinkommen bekommen. Diese Gleichmacherei bei ganz unterschiedlichen Lebensformen im Alter und bei Arbeitslosigkeit halte ich für problematisch.
Was wäre Ihre gesamtgesellschaftliche Alternative dazu?
Ich bin für eine sanktionsfreie Grundsicherung für Betroffene, die heutigen Hartz-4-Empfänger*innen. Da müssen wir Deutschen mal lernen, umzudenken. Wir denken immer in Form von Sanktionen. Der kommt nicht zu einem Termin und wird bestraft. Warum denken wir nicht an Boni? Ich kann es doch umgekehrt machen: Jede*r, der*die die Grundsicherung bekommt und sich engagiert oder der krank ist und sich nicht engagieren kann, der kriegt einen Bonus. Und diejenigen, die gesund sind und sich nicht engagieren, die kriegen den Bonus eben nicht. Nicht immer: Ich ziehe ab. Sondern: Ich gebe was drauf. Damit schaffe ich viel mehr positive Anreize.
Welche kulturellen Orte fehlen Ihnen jetzt schon persönlich am meisten?
Mir fehlt alles! Das Theater, das Kabarett, Konzerte und vor allem das Kino. Jetzt hätte ich mal Zeit, endlich ins Kino zu gehen und dann sind die geschlossen – sonst hab ich keine Zeit dazu und jetzt, wo natürlich auch meine Veranstaltungen abgesagt werden und ich Zeit hätte, kann ich nicht gehen. (lacht) Neben alledem ist aber vor allem die Gefahr für die Demokratie nicht zu unterschätzen, da müssen wir ungeheuer aufpassen, dass Einschränkungen wirklich nur vorübergehender Natur sind.
Warum sehen Sie die Demokratie dadurch gefährdet?
Zuständigkeitsfragen, Gesetzgebungsfragen. Ich würde meinen, dass unser Föderalismus auch seine Nachteile hat, wenn ich an die Schulen denke. FDP-Chef Christian Lindner hat ja bereits gesagt, man müsste vielleicht die ganze Struktur des Föderalismus überwinden. Das ist aber natürlich sehr schwer, weil der Bundesrat da zustimmen müsste und sich damit selbst abschaffen würde. Es ist problematisch, dass solche Diskussionen überhaupt begonnen werden. Etwa die Frage, ob die Regierung allein über Militäreinsätze entscheiden kann, wenn das Parlament lahmgelegt ist. Ich bin ja strikt gegen die Militäreinsätze! Solche Debatten machen mir ein bisschen Sorgen.
„Das erste Mal ist mir nicht mehr klar, ob wir immer weltoffener, immer demokratischer werden oder ob das Ganze wirklich rückläufig sein könnte, was ich natürlich zutiefst ablehne. Aber ich kann es nicht mehr ausschließen.“
Gregor Gysi
Auf einer größeren Ebene stellt die Coronakrise gerade unser gesamtes globalisiertes Wirtschaftssystem infrage. Wie stellen Sie sich die Welt nach Corona vor, glauben Sie, es gibt ein Zurück zum Normalzustand?
Naja, wir hatten ja schon vorher keinen Normalzustand, wenn ich an den wachsenden nationalen Egoismus denke. Es gibt wie immer zwei Möglichkeiten. Die eine Möglichkeit ist, dass der nationale Egoismus wächst, nach dem Motto: Aus dem Ausland kam die Krankheit, also brauchen wir noch mehr Mauern, müssen uns noch mehr abriegeln. Die andere Möglichkeit ist, dass man begreift, dass die ökologische Nachhaltigkeit und die soziale Gerechtigkeit inzwischen Menschheitsfragen geworden sind. Wenn wir sie nicht meistern, wenn wir keine Weltpolitik entwickeln, die es auch aufnehmen kann mit Weltkonzernen und Weltbanken, dann werden wir einen beachtlichen Rückschritt erleben. Das erste Mal ist mir nicht mehr klar, ob wir immer weltoffener, immer demokratischer werden oder ob das Ganze wirklich rückläufig sein könnte, was ich natürlich zutiefst ablehne. Aber ich kann es nicht mehr ausschließen.
Wie können wir im Idealfall als bessere Gesellschaft aus der Krise hervorgehen?
Herauskommen kann, dass man eine gewisse Notsituation erlebt hat, dass man gelernt hat, mit ihr umzugehen. Dass es vielleicht wirklich eine neue Form von Solidarität unter den Menschen gibt. Und dass man begreift, dass bestimmte Werte, die man für so wichtig hielt, vielleicht doch nicht den Stellenwert haben. Wenn ich jetzt den Coronavirus bekomme und ich bin über 70 und drohe, daran zu sterben, was hat mir dann mein ganzer Reichtum genutzt? Nichts! Vielleicht hätte ich das Leben vorher anders genießen sollen. Zudem muss die neoliberale kapitalistische Globalisierung überwunden werden.
Was wünschen Sie sich aktuell von den Bürger*innen in Deutschland?
Dass sie nicht in Panik geraten. Diese Hamsterkäufe machen doch keinen Sinn, was soll denn das? Das ist ja bloß eine Frage der Logistik, gar nicht des Materials. Und dann noch beim Toilettenpapier, also ich bitte Sie! Da müssen wir nüchterner werden, uns mehr gegenseitig helfen und die Hamsterkäufe einstellen. Aber immer wenn was knapp wird, beginnt die Hamsterei. Wissen Sie, es gab eine Frage in der DDR, die ist wieder da. Wenn ich in ein Geschäft ging, hab ich immer gefragt: „Haben Sie …?” Und dann sagten die „Ja” oder „Nein”. Und heute frage ich schon wieder: „Haben Sie …?” Das war mal vorbei, jetzt ist es wieder da. (lacht)