Chrissy (Bild: Bailey Greenwood)
Der US-Amerikaner Chrissy ist schon seit den Neunzigern in der Szene aktiv, zuerst als Raver in Kansas, dann als Jungle-produzierender Lehramtsstudent, später als Footwork-Vordenker in Chicago. In Europa wurde der gewinnende, humorvolle DJ und Producer erst in den letzten Jahren bekannt. Lars Fleischmann hat mit der wandelnden Enzyklopädie der elektronischen Tanzmusik eine Reihe von E-Mails ausgetauscht.
Wenn es um Techno-Städte geht, werden die wenigsten an die Bay-Area-Metropole San Francisco denken. Das hielt den DJ und Produzenten Chrissy Shively dennoch nicht davon ab, in Frisco anzulegen und seine Zelte aufzuschlagen. Der Weg dorthin war lang. Shively wuchs in Kansas auf – vermeintliches kulturelles Niemandsland, doch „in Kansas gab es eine starke Rave-Szene, als ich dort aufwuchs”. Über seine ältere Schwester kam er erstmalig in Kontakt mit der neuen Musik, europäischer Sound war damals King. „Wir hörten belgischen und deutschen Industrial. Wir standen auf Speedy J aus den Niederlanden und Harthouse-Platten aus Frankfurt. UK-Hardcore und Rave waren sehr prominent”, erinnert er sich.
Dabei war schon New York als Szenemetropole unheimlich weit weg und Europa in seiner Unerreichbarkeit eine terra incognita. Und trotzdem schaffte es die Musik in die US-amerikanische Provinz. Für Chrissy ein Zeichen, dass dieser neue Zusammenhang auf Kommunikation und Austausch aus ist. Er begann daraufhin etwa 1994 selbst Platten zu kaufen und zu sammeln. 1995 ging er auf die erste Party und wenig später versuchte er in Pfandleihhäusern die nötige Technik zum Auflegen zu finden.
Ende der Neunziger spielte er dann selbst und unternahm erste Gehversuche im Producing. Dennoch war die Musik bloß ein zeitintensives Hobby. Es dauerte noch einige Jahre, bis die ersten Produktionen tatsächlich das Licht der Welt erblickten.
Twilight Zone von 2005 ist eine der ersten Singles von Chrissy, damals unter dem Alias Murderbot
Mit Fi You auf dem Label Mashit, einer Split-12-Inch und einer White-Label-Remix-Platte (A-Seite: Ameries Hit „1 Thing”, der später noch Theo Parrish einen Edit abgewann; B-Seite: „Drop It Like It’s Hot”) reüssierte er 2005 gleich mit mehreren Platten. Alles sehr Jungle, hyperaktiv, Amen-Breaks flogen durch die Tracks in Lichtgeschwindigkeit. Am Wochenende hieß er dann Murderbot, in der Woche studierte er, um Lehrer zu werden. Dass dies nicht vereinbar ist, leuchtet recht schnell ein. „Ich habe es gehasst, früh aufzustehen”, fügt er selbst hinzu.
Wirbelnde Beine, stabiler Oberkörper
Die Lehrtätigkeit war also keine Option, was nun? Chrissy ging all-in. Es zog ihn in die House-Metropole Chicago. „Obwohl ich zu dem Zeitpunkt schon Platten veröffentlicht hatte, wurde erst in Chicago aus einem Hobby eine richtige Profession. Die neuen Möglichkeiten in der Stadt habe ich aufgesaugt.” Die Stadt am Lake Michigan beeinflusste Chrissy auf allen Ebenen. Und das, obwohl Chicago ein gespaltenes Verhältnis zur eigenen musikalischen Geschichte hat: Chrissy erzählt, dass man dort gerne vergisst, wie wichtig die elektronische Szene für die Stadt sei. Hauptgründe dafür seien rassistische Ressentiments gegenüber der schwarzen Bevölkerung, die oft die Triebfeder für alle möglichen Entwicklungen in der Stadt war. Dennoch sei die Musik-Community gut organisiert, reger Austausch stehe an der Tagesordnung. Chicago machte aus dem Jungle- einen Footwork-Künstler – lange bevor man außerhalb des damaligen Genre-Epizentrums Wind davon bekam, legte Chrissy 160 bpm auf.
Chrissy sieht sich sich als Destillierer, der stets versucht die kürzeste, prägnanteste und kraftvollste Version zu finden: „Man muss der Musik manchmal helfen, das Beste aus sich zu machen.”
Die Tänzer*innen ließen die Beine wirbeln, die Oberkörper blieben stilecht weitestgehend steif und stabil. This is how they do it in Chi-Town. Das Lehramtsstudium ersetzte er durch eine tiefgehende Recherche der Musikgeschichte der Millionenstadt. Schon früher war Chrissy für sein hervorragendes Wissen von der elektronischen Tanzmusik bekannt, hier wurde es zu einer Obsession; es entwickelte sich zu einem enzyklopädischen Einblick. So machte er Bekanntschaft mit wichtigen Akteuren der Szene wie etwa DJ Spinn, mit dem er 2010 einen RA-Exchange produzierte, der ihn erstmals in Europa einem größeren, wenngleich nerdigen Publikum bekannt machte. Was hat ihn an der neuen Musik genau interessiert? „Wenn man Footwork und Ghettotech auflegt, dann sind das in der Regel Drei-Minüter, die ihren Punkt machen und dann für immer ihre Klappe halten.”
Das passte optimal – immerhin sagt Chrissy von sich selbst, dass er selbst eine geringe Aufmerksamkeitsspanne habe. Deswegen finde er schon immer zu lange Tracks eher anstrengend. Es brauche schon sehr gute Gründe für sechs Minuten Spielzeit. So kultivierte er auch schon vorher den schnellen Übergang. Chicago habe ihn darin bestätigt, dass es die Aufgabe des DJs sei, die Quintessenz eines Tracks zu finden; so sieht er sich, als Destillierer, der stets versuche, die kürzeste, prägnanteste und kraftvollste Version zu finden: „Man muss der Musik manchmal helfen, das Beste aus sich zu machen.” Der Durchbruch gelang Chrissy selbst 2011 – mit seinem gelungenen Album Women’s Studies auf dem englischen Experimental-Label Planet Mu.
Die Unterstützung hat häufig gefehlt
Damit katapultierte sich Chrissy sogleich ins Epizentrum des Aufmerksamkeits-Erdbebens rund um Juke und Footwork. Ein Jahr vorher war auf dem gleichen Label die legendäre Bangs & Works Vol.1: A Chicago Footwork Compilation erschienen und hatte europäische Schädelplatten platzen lassen. Women’s Studies hatte alles, was angesagt war. In Chicago sah es derweil nicht ganz so rosig aus. Zwar war Juke respektive Footwork integraler Bestandteil des Undergrounds, doch „Chicagos Politik, das Publikum und auch die Clubs haben, vorsichtig ausgedrückt, eine wechselhafte Beziehung zur lokalen Szene unterhalten.” Im Klartext: Die Unterstützung hat häufig gefehlt. So fand die Musik vornehmlich auf privaten Partys und in Community-Centern statt.
„Ich bin es leid ein DJ’s DJ zu sein! Ich möchte ein Promoter’s DJ sein mit einer Million Gigs in der Pipeline”, sagt er selbst in leicht sarkastischem Ton.
Was Chrissy Shively auch zu einem tiefgreifenden Umdenken bewegte. Er verabschiedete sich mit der genial benannten Platte Greatest Hits ★★★★★ von der Szene und wendete sich dem anderen großen musikalischen Exportprodukt der Stadt zu: Aus Footwork wurde House, aus Murderbot Chris E. Pants. Dafür brach er dann auch mit der eigenen Abneigung gegenüber dem Langformat. Es durften nun auch Sechs-Minüter sein.
Das unter dem Alias Chris E. Pants erschiene Pass It Around ist Chrissys erste House-Platte.
„Pass It Around” auf seiner ersten Platte unter dem neuen Moniker ist klassischer Deep-House; spröde produziert, funky und würde genauso gut nach Detroit in die Hände eines Moodymanns passen. Chris E. Pants sollte eine kurze Phase bleiben, die schon zwei Platten später mit 1981 endete. Doch sie war wegweisend, immerhin entstand so eine Freundschaft, die bis heute Bestand hat – die zu The Black Madonna. „Chrissy ist einer der besten DJs, die jemals auf Erden wanderten, und ich werde es so häufig wiederholen, bis jeder zustimmen wird”, lässt sich der heutige Mega-Star zitieren. Das konstante Lob von The Black Madonna führte in Folge zum, gelegentlich leidlichen, Label DJ‘s DJ. Ein DJ, den andere DJs verehren, dem das Renommee beim breiten Publikum aber fehlt. Chrissy selbst lebte damit eher schlecht als recht, immerhin schwingt stets dieser Unterton mit: Erfolglos, aber sexy; sozusagen. Heute kann er aber auch darüber lachen: „Ich bin es leid ein DJ’s DJ zu sein! Ich möchte ein Promoter’s DJ sein mit einer Million Gigs in der Pipeline”, sagt er selbst in leicht sarkastischem Ton.
Es fällt ihm heute leichter, dem Label des DJ’s DJ auch eine amüsante Note abzugewinnen, denn es hat sich dann doch auch jenseits der Eingeweihten rumgesprochen, dass Chrissy ein formidabler DJ ist. Es brauchte dafür aber einen weiteren Schritt in der eigenen Vita: Chris E. Pants heißt nun Chrissy und scheint endlich bei sich angekommen. Die verschiedenen Fäden seiner Sozialisierung kommen nun zusammen, Chrissy wird zum Teacher, der während eines Sets spielerisch zwischen den verschiedenen Einflüssen aus den letzten Jahren wechseln kann.
Die Party als implizit politischer Ort
Es wird mal härter mit krachigem Acid-Techno, stark verzerrt, fast schon punky, dann wiederum poppig, housy mit den Stimmen der großen Diven. Vor allen Dingen Rave hat seinen Weg zurück in sein Leben gefunden und ist auf den neuesten Veröffentlichungen prominent vertreten. Ob das mit dem privaten Tapetenwechsel zu tun hat? Chrissy hat sich vom Mittleren Westen verabschiedet. Er lebt nun in der Bay-Area: „San Francisco ist zwar viel kleiner, aber die Leute und die Crowds hier sind freundlicher, musikalisch open-minded, richtiggehend weird. Das gefällt mir sehr und passt derzeit viel besser zu mir”, bestätigt er, verweist gleichsam darauf, dass die Szene der kalifornischen Metropole jahrelang einen schlechten Ruf hatte.
„In einer perfekten Welt wäre Tanzmusik ausschließlich zur Verwehung gedacht, doch leider leben wir in einem Zeitalter, das sich offen aggressiv gegenüber Minderheiten zeigt.”
Das habe sich aber gewandelt. Promoter*innen, Künstler*innen und alle drumherum würden an einem Strang ziehen; das könne auch an den schwierigen Lebensbedingungen liegen. San Francisco ist eine der teuersten Städte der Welt – in den Bereichen Lebensmittel, Kultur und Mieten konkurriert man locker mit New York. Dies habe aber zu einem Gefühl von Togetherness in der Szene geführt. Chrissy selbst hat nun eine Residency im berühmten The Stud, einem LGBTQI-Club mit langer Tradition. Ob das seinen Blick auf die politische Qualität der Tanzszene geändert habe? „In einer perfekten Welt wäre Tanzmusik ausschließlich zur Verwehung gedacht, doch leider leben wir in einem Zeitalter, das sich offen aggressiv gegenüber Minderheiten zeigt. Für die LGBTQI-Szene, für Frauen, für POCs entwickelt es sich zu einem Kampf um Leben und Tod. So sind unsere Clubs die letzten Safe Spaces für jene, die im Alltag verfolgt werden.” Chrissy würde die Politik lieber aus den Clubs verbannen, aber „diesen Luxus haben wir derzeit nicht. Wir müssen die Freiheiten verteidigen. Das funktioniert am besten gemeinsam.”
Er spricht damit offensichtlich vielen Menschen aus dem Herzen. Da eine Party dennoch nur ein implizit politischer Ort ist, steht die Musik trotzdem im Vordergrund. So treibt es ihn im März mal wieder nach Europa, unter anderem in Berlins Paloma Bar. Wer sich bis dahin aufwärmen will, sollte sich das letztjährige Album Resilience auf Chiwax nochmal genau anhören. Hier stecken, je nachdem, zwei bis 20 Jahre Arbeit drin. Doch Chrissy ist noch lange nicht am Ziel. Wo es ihn in Zukunft hinverschlägt? Darauf gibt es noch keine Antwort. Bei einer Vita, die von Umwegen und Neuorientierungen geprägt ist, geht es schließlich immer nur um den aktuellen, den letzten Stand. Der Rest wird sich zeigen.