Air Texture VII (Air Texture)
Die Produktionen von Rrose und Silent Servant sind sich musikalisch enge Verwandte. Gut, wo Silent Servant auf atmosphärische Elemente setzt, mag Sutekhs weibliches Alter Ego Rrose analytischer und kühler klingen. Dennoch: Dass ausgerechnet diese beiden eingeladen waren, die jüngste Ausgabe der Air-Texture-Serie zusammenzustellen, scheint schon recht zwingend. Wie immer geht es um Ambient, nicht aber ums Diggen: Hier gibt es ausschließlich exklusive Stücke zu hören.
Das scheint umso erstaunlicher, wenn man sich den ersten Part anhört, den Rrose zu verantworten hat. Der nämlich klingt extrem hermetisch, obwohl Artists wie Charlemagne Palestine und Ron Morelli auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben. Loops und Drones an den Rändern der Tonalität dominieren diese erste, sehr intensive Stunde. Klingt sperrig? Ist es auch, gerät aber niemals inkommensurabel. Die versammelten Tracks von Anthony Child, Lucrecia Dalt oder Maggi Payne scheinen sich an den ambienten Arbeiten von Granden des Industrial wie Coil, Nurse with Wounds oder Zoviet France abzuarbeiten und halten die Balance zwischen kompositorischer Strenge und dem mystischen Raunen dunkler Esoterik. Selbst Robert Aiki Aubrey Lowe kommt von seinem Hippie-Film runter und verantwortet stattdessen den vielleicht seltsamsten, aber auch eigenwilligsten aller Beiträge: Ein harmonisch modulierender Melodiefetzen, ummauert von schönstem Zirpen, Klackern und Maunzen. Rrose nennt ihren eigenen Beitrag „For Bass Clarinet 8.97“: Das klingt nach Neuer Musik, aber auch hier vollzieht die Bassklarinette hypnotische, sozusagen post-psychedelische Kreise. Einzig Laurel Halos vergleichsweise freundlicher Track und die mit Filter-Spielereien garnierten, cinematisch-schimmernden Scapes von Octo Octa sorgen für etwas Variationen in der Tonalität.
Silent Servants Part fällt da deutlich diverser aus. Nachdem ausgerechnet Luke Slater mit wuchtigen Live-Drums das Tor zur Rockmusik aufstößt, pickt John Juan Mendez denn auch Akteur*innen, die stark vom Post-Punk inspiriert sind, darunter DVA Damas, Id Meredian oder auch Collin Gorman Weiland. Deren Songs wechseln ab mit noisig-darken Tracks (JS Aurelius, Pod Blotz) und Arpreggio-verliebten, fast krautigen Stücken von Not Waving oder Silent Servant selbst. Auch wenn das etwas weniger zwingend ausfällt als die erste Hälfte, so ist der siebte Teil der Air Texture-Reihe insgesamt doch ein echter Beweis dafür geworden, dass Compilations auch im Playlist-Zeitalter noch eine Berechtigung haben. Christian Blumberg
Kulør 006 (Kulør)
Das Kopenhagener Label Kulør startete 2018 mit einer ersten Compilation, die eine junge Generation von Technoproduzenten aus der dänischen Metropole der interessierten Szene vorstellte. Der Aspekt der Jugendlichkeit scheint Kulør wichtig zu sein, an mehreren Stellen im Infotext zu der Veröffentlichung wird das Alter der Musiker betont, die oft gerade erst die Schule abgeschlossen hätten. Kulør 006 geht stilistisch jetzt allerdings über Techno weit hinaus, die Zusammenstellung ist gleichzeitig der Soundtrack einer 30-minütigen Videoarbeit des Künstlers David Stjernholm und verbindet verschiedenste Stile der Electronica-Palette. Ambient- und Listening-Tracks, gerne mit einer nicht unerheblichen Industrial-Verwandtschaft, überwiegen, „Cold Bright Hard Light“ von Varnrable geht aber auch ohne Scheu in Richtung Electro-Pop und zählt zu den interessantesten Tracks des Albums, genauso wie „Dares Soar“ von X & Yde, die die bemerkenswerte Leistung vollbringen, Pop mit Hip-Hop und Prog-Rock zu verbandeln. Der darauf folgende Ambient-Track von Ibon bildet einen konsequenten Kontrapunkt zu der Nervosität des Vorgängers, das folgende finale Stück kippt diese Versöhnlichkeit aber wieder über Bord mit zappeliger Stakkatorhythmik und einem dekonstruktvistischen Breakdown – und nach zweieinhalb Minuten ist wieder alles vorbei. The danisch kids are alright! Mathias Schaffhäuser
Hypha (Noods Radio)
Noods Radio ist eine unabhängige Radiostation aus Bristol, und mit Hypha steigen die Briten nun auch ins Labelgeschäft ein. Die Compilation erscheint neben der obligatorischen Downloadversion auch als Cassette – hier ist allerdings schnelles Zugreifen angesagt, der Retrotonträger ist auf hundert Stück limitiert. Die Tracks kommen allesamt von den Noods-Resident-DJs, und diese spannen musikalisch einen Bogen von Dub- und Downbeattracks über Dancehall und Hip Hop bis hin zu experimentellen, noisigen Stücken. Insgesamt ist allen Produktionen eine gewisse Härte und Strenge gemeinsam, auch wenn einige Tracks wie der von Narro Farley etwas Sanftes, Ruhiges ausstrahlen – aber eben keine bristolsche Trip-Hop-Gemütlichkeit, keinerlei Easy-Listening-Feeling. Vielmehr fühlt man sich eher in dunkle Hinterhöfe als schnieke Szenebars oder gar Hafenstadt-Touri-Läden versetzt, und die Melange aus britischer Underground-Electronica, die Fähigkeit, zu fusionieren, ohne einfach nur wahllos verschiedene Elemente zu verrühren, packt einen hier wieder einmal sehr überzeugend – vor allem die beiden letzten Tracks „No Need To Be Mean“ und „Hellenica“ sind dafür in ihrer kompletten Unterschiedlichkeit großartige Beispiele. Mathias Schaffhäuser
Intenta: Experimentelle und elektronische Musik aus der Schweiz 1981 – 1993
(Décalé / Les Disques Bongo Joe)
Mit Intenta: Experimentelle und elektronische Musik aus der Schweiz 1981 – 1993 beleuchten die beiden Labels Décalé aus dem französischen Biarritz und Les Disques Bongo Joe, situiert in Genf, die hochinteressanten Anfänge der spannenden eidgenössischen Elektronikszene. Matthias Orsett und Maxi Fischer von Décalé haben darauf 17 Tracks versammelt, die das Bild eines Genres im Werden zeichnen, insbesondere die Entwicklungslinien von einer explizit politisch motivierten Post-Punk-Kultur zur „hedonistischen Umarmung“ der Techno-Ästhetik, kurzum: vom Song zum Track, aufzeigt. Was im ersten Moment dadurch fasziniert, wie unformatiert, offen, solipsistisch die Musik wirkt, formiert sich bald zu einem Tableau, in dem Minimal Wave, Indie-Synth-Pop, elektronische Soundscapes mit einem Schuss experimentellen Jazz, Italo-Disco und den eurozentrischen Horizont überschreitenden Einflüssen – immer wieder tauchen asiatische oder afrikanische Elemente in den Stücken auf – zu einem gemeinsamen Fluchtpunkt zusammenfließend sich kurzschließen. Neben wenigen bekannteren Namen – so ist etwa Ex-Yello Carlos Perón mit einem Solotrack und einem weiteren des Projekts Aborted at Line 6, in das auch der kalifornische New-Wave-Artist Chris Lunch involviert war, vertreten – besticht diese brillante Zusammenstellung durch die Vielzahl der hier kondensiert greifbar gemachten Entdeckungen – Peter Philippe Weiss’ „Subway (Intenta Version)“, „Dreamings“ von Elephant Château, D-Sires „Wintertime“ , „Rap Yourself“ von Air Project, Jean-Pierre Husers „Chinatown“, „Computer Love“ von Carol Rich, um nur einige zu nennen – sowie die Tatsache, dass hier nicht ein einziger Ausfall zu verzeichnen ist. All killer, no filler! Die Doppel-LP kommt inklusive eines 13-seitigen Booklets mit Texten der Künstler oder befreundeter Insider, wo diese bereits verstorben waren. Unverzichtbar und weit mehr als von lediglich dokumentarischem Wert: essentielle Compilation! Harry Schmidt
Mothership (Voitax x Midnight Shift)
Es ist schon eine größenwahnsinnige Rechnung: Zwei Labels machen gemeinsame Sache, bringen 30 Produzent*innen in 15 verschiedenen Duo-Konstellationen zusammen, um jeweils einen Track zu basteln. Das Resultat ist anderthalb Stunden lang und heißt, warum auch nicht, Mothership. Der Heidenaufwand wurde auch nicht etwa von zwei Majors aus der Portokasse bezahlt, sondern von zwei eher im Underground operierenden Labels gestemmt: Voitax ist vor allem für randständigen Techno und experimentelle Bass-Spielereien bekannt, Midnight Shift setzt auf emotionalere Sounds quer aus dem stilistischen Spektrum, das sich zwischen 110 und 140 BPM aufspannt. Das macht zusammengenommen jede Menge undefiniertes Terrain, auf dem sich den Beteiligten dementsprechend viele kreative Freiheiten boten. Konventionelles wird dementsprechend allerhöchstens in Schwundstufen hörbar. Denn zwar mögen sich Cyan85 und Paco Pack oder Paàl und Umwelt recht deutlich an Electro-Tropen bedienen und Sorcery findet gemeinsam mit Xhin eine Techno-nahe Formel für ihre Zusammenarbeit – nie aber klingt das Endresultat nach reiner Stangenware. Stattdessen ist jederzeit die – durchaus beabsichtigte – kreative Reibung zwischen den einzelnen Personen merklich. Die sprüht mal freudige Funken wie im Falle von Jamal Moss’ und KiNKs quietschigem Synth-Pop-Proto-House-Dabke-Verschnitt, schleppt sich mal mit mächtigen Bass-Wellen voran wie bei ABSL und Simo Cell oder bewegt sich an den Schnittmengen rhythmischer Vorlieben entlang, wie es die Exotismus-Spezis Don’t DJ und Harmonious Thelonious souverän vormachen. Mothership kann sicherlich nicht mit jedem Track einen Volltreffer landen, allemal auf Dauer mehr als überzeugen. Diese Compilation beweist in ihrer Konzeption allein einen Wagemut, der sich anderswo kaum finden lässt. Sowohl von Label- wie auch Produzent*innenseite, versteht sich. Kristoffer Cornils
Rada – Tropical Cosmic Sounds From Space
(El Palmas Music)
Bei Angel Rada fällt gerne mal ein Metalldeckel vom Kochtopf – Gott sei Dank war das Mikrofon an („Behind of Mirror“). Öfters hüpfen springende Plattensamples auf den Aufnahmen herum („La Danza“). Das sind die besseren Witze des Komponisten. Sonst vergisst der Maestro – er ist Stockhausen-Fan – gerne Auslaufrillen fremder Vinyl-Platten auf seinem Roland S-10 Sampler. Rada selbst beschreibt seine Musik als „Latin Cosmic Psikraut“, seine Wurzeln verortet er im Düsseldorf-Berliner Krautrock elektronischer Prägung. Ursprünglich aus Venezuela stammend lernt er die Musiker-Legenden Klaus Schulze, Edgar Froese, Kraftwerk oder Asra Temple in den späten 1970er Jahren kennen. Er studiert in Deutschland Elektroakustik und Chemie. Entsprechend schräg halt „Detras De Tus Ojos“ wie eine deutsche Captian Future-Soundtrack-Version. Und „Extasis Primitivo“ erinnert als Sound-Konklusion an sämtliche, melancholisch-traurige Kinderserien mit Synthesizerbegleitung aus der damaligen Zeit, allen voran Tim Thaler oder das verkaufte Lachen. Bei aller Liebe zu obskuren Sounds und „Love“-Frequenzschwingungen: Der Alleinunterhalter-Gestus der analogen Drummaschine (Hohner oder Roland?) nervt irgendwann. Und Radas Linernotes könnten etwas vom New Age-Blödsinn Abstand nehmen! Mirko Hecktor
Secret Weapons Part 12 (Innervisions)
Es ist mal wieder Zeit für den Geheimwaffen-Output der Innervisions-Boys. Wo anfänglich noch übersehene Leckerbissen im Vordergrund der Reihe standen, ist die Compilation-Folge zum Gault Millau der Tanzszene geworden. Hip ist, was drauf und drin steckt. Die Geschmackshoheit von Âme und Dixon scheint kaum noch in Frage gestellt zu werden; so lebt es sich ganz formidabel als Top-DJ oder -Act des internationalen Jetsets. Damit man sich auch ein wenig vom Kuchen abschneiden kann (oder sich zumindest einreden kann, man würde irgendwie dazugehören), gibt es die Secret Weapons seit Ausgabe 8 in der besonders langen Ausführung. Improve Your DJ-Set In Just A Second! Und selbstverständlich ist das präsentierte Gold aus den DJ-Sets der Großen auch hier wieder auf Effekt und Affekt abgestimmte Wohlstands-Nahrung ohne Gicht: Underspreches „Acid Gentle Moves” ist absolutes Tool-Superfood, das Wechseljuicer nasse Höschen bereiten kann; „Churches” von Invoker ist hingegen feinste Intelligent-House-Ware inklusive Bongo-Break. Vom Wannabe-Literaten und „Ich mache mal eine coole Action in Berlin und Köln und werfe Papierschnipsel im Buchladen rum”-„Provo”-Künstler Bryan Kessler gibt es mit „Cucú”-Kuduro-befeuerten Exotic-House a la Cómeme. Und mit Ditians „Forgotten April” wird auch noch kurz in der „It’s Complicated”-Dance-Ecke abgehangen.
Für Leute, denen es zu mühsam ist, selbst zu diggen, bleiben die Secret Weapons das tägliche bzw. jährliche Brot. Lars Fleischmann
Stream State (Counterchange)
Er hat es im letzten Jahrzehnt immer wieder getan und dabei nur solche Kompromisse akzeptiert, die tatsächlich Sinn machten: Wie kaum ein zeitgenössischer Produzent überträgt Ed Davenport derzeit die rohe Energie früher Rave-Mixtapes aus den 90ern in unsere Gegenwart, indem er viszeralen Techno einer neuen Qualität entwirft, aber auch kuratiert. Egal ob unter seinem Realnamen oder als Inland, ob auf Siamese, liebe*detail oder NRK Sound Division, seinem eigenen Label Counterchange oder dem gemeinsam mit Function kuratierten Infrastructure New York – der britische Berliner verschmilzt alles, was damals gut war, mit allem, was heute noch besser ist. Zuletzt demonstrierte er das auf dem völlig unterschätzten Inland-Debüt An Invitation To Disappear (2018), einem deliranten Soundtrack für die gleichnamige Video-Installation des Konzeptkünstlers Julian Charrière, in der eine indonesische Palmöl-Plantage zur endzeitlichen Rave-Landschaft ohne Menschen mutiert. Technoide Szenarien, so idiosynkratisch wie zugänglich. Mit Stream State gelingt Davenport nun der erneute Nachweis, dass sämtliche Hiobsbotschaften über die angeblich sterbende Clubmusik wie immer jeder Grundlage entbehren. Im Gegenteil: Techno lebt und bebt wie nie zuvor. Der Hypnose aus auditiver Vertiefung und physischer Ekstase gewidmet, sind die 22 Tracks dieser rund 130 Minuten schweren Compilation ein Denkmal dessen. Favoriten können im Verlauf nur schwer benannt werden, bleibt das Qualitätslevel doch nonstop enorm hoch und vereint Veteranen wie Mark Broom, DJ Skull, Peter Van Hoesen, Joel Mull oder Efdemin mit neuen Namen vom Kaliber Johanna Knutsson, Felix Fleer, Fred Mann, Rhyw oder Sophia Saze, die hier ein futuristisches Fest des nie alternden Sampler-Formats abbrennen. Davenports Mix ist über die gesamte Länge derart fluide, der Klang herrlich überbordend und doch so präzise austariert, dass sich vom urbanen Gewölbe bis zum illegalen Wald-Rave so ziemlich jedes Publikum in jeder Räumlichkeit darin verlieren dürfte. Ein kontinuierlicher Strömungszustand in und zwischen schwitzenden Körpern, wie sie sich seit Jahrtausenden zu repetitiven Rhythmen von Trommeln bis Drumcomputern bewegen – und das auch noch in tausenden von Jahren tun werden. Nils Schlechtriemen