Nach dem Fokus auf Extralanges im November, möchte ich den Dezember mit der viel zu kurzen EP von Malibu eröffnen. „Held”, der sensationelle Beitrag der Französin zu Mono No Aware, war in Kombination mit Yves Tumors kongenial dahinter platziertem „Limerence” der energetische Kern, das Herz der Kompilation und wohl immer noch das beste was auf PAN je erscheinen ist. Das Stück verwob schwere cinematische Ambientflächen und introvertierten Folk-Pop mit schwer emotionaler Bekenntnisprosa. Malibus Vocals sind auf One Life (UNO NYC) ziemlich in den Hintergrund gerückt, geben den elegischen Piano- und Streicherstücken aber noch immer Textur und Kontext. Nicht ohne Grund zeigt das Cover einen zerrissenen Brief, Kirschen und Blüten. So einfach ist das, so todtraurig, so wunderbar wunderschön.
Stream: Malibu – One Life
Sowieso entstehen an den Kreuzwegen von Genres und Charakteren oft die tollsten Klänge. Das ist natürlich, wie so oft hier zu lesen, eine triviale Binse, doch wahr genug. Das Berliner Duo Globus stellt sich zum Beispiel da auf, wo sich Synthesizerkomposition der siebziger und achtziger Jahre mit Postpunk und Indie-Pop treffen, ohne zum Synthpop im herkömmlichen Verständnis zu werden. Das ergibt sich vor allem aus dem bewussten Verzicht auf Vocals, aber dem Beharren auf supermelodischen Songstrukturen. So wubbert und blubbert und fiept sich Day Music (Staatsakt) allerliebst durch die Popgeschichte und wirkt doch topaktuell auf den Punkt der Zeit gebracht. Nächste Nachbarn sind Rainer Buchmüllers Fred und Luna, wobei Globus etwas weniger krautig ausschweifend daher kommt. Dreißig Minuten genügen für große Popmomente in Analog-Nostalgie, die in einer äußerst charmanten Coverversion von Neil Youngs „Like A Hurricane“ kulminiert, gespielt als modulare Xylophon-Symphonie von einem Orchester tropischer Frösche.
Stream: Globus – Das Geschenk
Die klangliche Wärme und Reichhaltigkeit alter Modularsynths gibt der Electronica der ebenfalls von Berlin aus operierende Hermione Frank alias Rroxymore eine besondere Tiefe. Nicht dass Face To Phase (Don‘t Be Afraid) das wirklich nötig hätte. Die Beats, die zwischen Cutting-Edge-Abstraktionen von Footwork und geradem Tech-House oszillieren, sind sowieso schon so frisch, wie es gerade eben jetzt nur geht. Dazu gibt es noch Flamingo-Content. Top! Bed of Roses (Dark Entries) der portugiesischen Produzentin Maria Inês Borges Coutinho alias Violet nimmt sich ebenfalls die leidlich bekannten kleinen Beats und mittelgroßen Harmonien klassischer Electronica und macht sie ganz neu. Das gelingt ebenfalls über eine bunte Verteilung weltweiter Beats und ungeradem Deep House mit einem immensen Tiefenwissen und Respekt vor den lokalen Traditionen in topmodernem, globalisiertem Sounddesign. Rroxymore und Violet haben gemeinsam, dass sie sich trotz immenser Produktivität als DJ, Produzentinnen, Radio- und Labelmacherinnen Zeit gelassen haben für ihr Albumdebüt, jeweils fast eine Dekade, und dass das in jeder Sekunde der perfekt konstruierten und irre gut klingenden Tracks nachhörbar ist. Das schwer ahnbare transpazifische Duo, bestehend aus einem mexikanischen Ambient-Techno-Produzenten und einem Reunioner Post-Maloya Musiker, Cubenx & Boogzbrown findet auf der Antipode EP (Infiné) ebenfalls erstaunliche Überschneidungen. Schwerer Electro, polternder Techno und die akustische High-Speed Hackbrett-Percussion des Reunioner Maloya finden völlig selbstverständlich und organisch zu einer Clubmusik zusammen in der es keine Unterschiede zwischen alter und neuer, erster, zweiter, dritter und vierter Welt mehr geben kann.
Stream: Rroxymore – Face To Phase
Der Nordire Phil Keiran ist als DJ und Produzent eine seit zwanzig Jahren etablierte Größe im globalen Technogeschehen. Sehr erfreulich, dass er nach dieser langen Zeit noch über den Tellerrand seines Genres sehen kann (und will). Sein ausuferndes Album Life Cycling (Maeve) klingt jedenfalls wie nichts, was er bisher gemacht hat. Feine siebziger-krautige Analogsynthesizerwellen treffen da auf eine zeitgemäße Techno-Produktion mit housig-geraden Beats. Wenn Fred und Luna Deep House machen würden, so könnte es sich anhören. Und würden sie straighten Techno produzieren, klängen sie wohl wie Daniel Herrmann a.k.a. Flug 8. Space Techno (Ransom Note), die jüngste EP des Frankfurter Fotografen und Rave-Historikers, ist einerseits klar den Exzessen und Glücksmomenten des Nachtlebens verpflichtet, hat aber eben genauso die weitschweifende, wie kleinteilig mäandernde, wollpullovrige Krautwärme typischer Home-Listening-Electronica. Wo die Wollpullover-Radiator-Wärme in Kierans und Herrmanns Produktionen eher von drinnen nach draußen zieht, sind die Tracks des Producers Force Placement aus Los Angeles tatsächlich von einer kalifornischen Leichtigkeit und Sonnenhitze geprägt, die massiv von außen in die Tracks auf Vibe Repair (100% SILK) hineindrückt. Chill-fein und after-hour-grob slammende Tracks, die aus einer tief in den Körper eingebrannten Erfahrung von Electro und Deep House kommen und so lässig bouncen, dass sie sogar meistens auf einen geraden Beat verzichten können, ohne im geringsten an Groove einzubüßen.
Und sogar aus der im Winter extrem eisigen Provinz von Lansing, Michigan können solche Sounds kommen. Auf Look At The World (100% SILK) macht Newcomer Cammi meist gerade und jederzeit roh slammende House-Tracks, wie sie deeper nicht möglich sind. Mehr als einmal erinnert das Album an DJ Sprinkles Midtown 120 Blues. Für den Kolumnisten das größtmögliche Kompliment, was House Music im Allgemeinen und Speziellen angeht. Wo wir schon bei den geraden Beats sind: Das zum Duo geschrumpfte DFA-Urgestein The Juan Maclean macht es sich auf The Brighter The Light (DFA) abseits der von ihnen bekannten Cowbell-Indie-Dance-Sounds zwischen Synthpop und Techno bequem. Das klingt schon etwas nach aufgebrezeltem Tech-House mit Vocals, aber eben in richtig gut, weil eben untenrum mehr Techno und drüber mehr Popmusik mit Freude am Tanzen. Stephan Stephensen hat nach seiner Zeit bei den isländischen Synthpoppern GusGus ebenfalls eine starke Affinität zum Tech-House deutscher Provenienz entwickelt und in den 2010er Jahren in Projekten wie Gluteus Maximus ausgelebt. Nebenbei betreibt das Label Radio Bongo, dessen Katalog zwischen Clubtunes und Neoklassik oszilliert, Genres, die er als President Bongo selbst bespielt. Im Duo Local Product mit Andrés Nielsen wird diese ganze Erfahrung noch mal durchgerüttelt und auf Dolores del Río (Radio Bongo) zu netter, handwarmer Electronica mit Analogsynthesizertextur. In den Selbstremixen Dolores del Río Remixes (Radio Bongo) von President Bongo & Sonic Deception werden sie dann wieder handfest clubnäher, erhalten aber den würzigen Charakter von Analog-Jams.
Buntgirlandete Brücken zwischen Techno und Pop schlägt die niederländische Produzentin Sky Civilian nicht minder lässig. Ihre beiden dieses Jahr auf Applescals Label erschienenen EPs Open Door und At The Seams (beide: Atomnation) versetzen Techno in eine lichte luftige und sonnendurchflutete mediterrane Atmosphäre, die rein gar nichts mit dem allsommerlichen Techno-Festivaltourismus zu tun hat. Eher schon mit der sanften, aber bestimmten Art und Weise, in der in den frühen Achtzigern die belgische Postpunk-Combo Antena Tropicalismo Bossa Nova als Synthpop neu erfunden hat. Wären Antena dreißig Jahre später geboren und mit House und Techno sozialisiert, könnten sie heute klingen wie Sky Civilian. Größtmögliches Kompliment auch das.
Stream: Sky Civilian – Otherworld
Die Werke der 2018 mit beinahe neunzig Jahren verstorbenen Science-Fiction- und Fantasy-Autorin Ursula K. Le Guin haben in den vergangenen zwei, drei Jahren sehr spät – fast schon zu spät – eine Renaissance erlebt. Sehr gerecht und wenig erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie schon vor über fünfzig Jahren in ihren an eine jugendliche Zielgruppe adressierten Romanen Themen von Rasse, Klasse und Gender eingeschmuggelt hat, die in den heutigen Zeiten fluider Identitäten noch immer avanciert und aktuell wirken. Ihr musikalisches Werk, Spoken Word Poesie begleitet zum Beispiel von Synthesizerpionier Todd Barton, ist dank freigeistiger Reissue Labels wie „Freedom To Spend“ bereits wieder zugänglich. So überrascht es auch nicht, dass noch immer sogar mehrere Generationen jüngere Musiker*innen von Le Guin inspiriert werden. Etwa der zur Zeit in Berlin arbeitende, nichtbinäre Choreograf und Komponist Colin Self, der Le Guin bereits die elektronische Oper Siblings widmete, der sie mit Orphans (beide: RVNG Intl.) nun in ein neoklassisches Prequel zufügt. Gleichzeitig ein starkes Plädoyer für ein neues Verständnis von Familie und Verwandtschaft.
Die ebenfalls nichtbinäre New Yorker Musikerin Gavilán Rayna Russom, die einmal der Hi-NRG/Indie-Dance-Produzent Gavin Russom war, bezieht sich in ihrem ersten Album unter altem neuen Vornamen The Envoy (Ecstatic) auf den wohl berühmtesten Roman The Left Hand Of Darkness LeGuins, in welchem sie ihr Konzept von variabler Identität von Geschlecht, Rasse oder sexuelle Orienterung am spekulativsten und bewusstseinserweiterndsten ausgearbeitet hatte. Musikalisch gibt sich Russoms Hommage als wunderhübsche zarte Electronica mit Anklängen an Neoklassik und Ambient. Locker das schönste, was sie bislang gemacht haben.
Video: Colin Self – Orphans
Die feministischen Denkerin Donna Haraway hat die Idee der flüssigen Identitäten bereits Mitte der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit dem Konzept des Cyborgs verknüpft. Bei ihr war der Mensch-Maschinen-Hybrid allerdings nicht, wie im konventionellen Verständnis, als Robocop, als ultimativ männliche Kampfmaschine, gedacht, sondern als Grenzen achtende, nichtaggressive Verschmelzung von Spezies und Subjektivitäten. Eine emanzipative Politik der Freundschaft, eine gerade nicht menschenverachtende Version des Posthumanismus. Ein Gegenmodell zu den apokalyptischen Unsterblichkeitsfantasien der kalifornischen Digital-Ideologen, die sich damals bereits formierten. Die biomorphen Post-Gender-Wesen, die Jesse Kanda zum Beispiel als Coverartwork für Björk oder FKA Twigs entworfen hat, sind in Haraways Sinne zu verstehen. Diese zunächst erstmal unheimlichen Kreaturen sind Freunde. Der Schock des Fremden ist einer der Gewöhnung. Das gilt ebenso für die zerfließende Electronica, die er als Doon Kanda produziert. Sein drittes Album Labyrinth (Hyperdub) beugt und zerdehnt für sich genommen recht konventionelle Sounds in ein gleichermaßen futuristisches wie nostalgisch morbides Varieté, in dem Haraways emanzipierte Cyborgs Tango tanzen, das digitale Fleisch sich in leiernde Androidenwalzer und organische Maschinen-Dubs transsubstanziert. Das nimmt sich wie bei Kandas Mentor Arca höchst theatralisch aus, aber gerade nicht aggressiv, sondern auf fremdartige Weise wunderschön.
Video: Doon Kanda – Polycephaly
Die synthetische Techno-Electronica des Schweizers Simon Grab folgt schon eher den etablierten Vorstellungen einer postapokalyptischen Welt ohne Menschen im heutigen Verständnis. Es ist die Welt von Skynet oder Ghost in the Shell, in der sich die Posthuman-Species (-OUS) Grabs bewegen. Elektrischer Noise und pure Maschinenklänge werden auf höchst clevere Weise von einem menschlichen Hirn arrangiert. Eine Klangwelt, die an Industrial erinnert, in der kalte Maschinenkrallen ins Dunkel greifen und einzelnen Hitzespitzen nur dort zustandekommen, wo gerade die Kabel durchschmoren. Der zweite Labelsampler Power Levelling Sequence (PLS.UK) des Londoner Joint-Ventures von FLMM & Time Traveler sieht ebenfalls dunkle Gestalten in schwarzen Hoodies durch postapokalyptisch-zerfallene Landschaften aus Industrial-Techno, Neo-Digital-Hardcore und Noise-Dub schleichen, in einem selbstverständlich adäquat krassen Sounddesign. Der Sound ist leidlich bekannt und ziemlich zeitgeistig, allerdings hebt der kompromisslos-experimentelle und genresprengende Ansatz der meisten Tracks diese Kompilation über den Durchschnitt. Der zweite Teil der cross-skandinavischen Kollaboration von Croatian Amor & Varg2TM erfreut sich ebenfalls diverser Blicke in den Abgrund. Im Gegensatz zum eher lieblichen Vorgänger Body Of Water sucht Body Of Carbon (Posh Isolation) die dunklen Löcher auf, wo sich Bässe, Genres und schlechte Laune im Moshpit treffen. Von Berlin-Techno-Techno über Neo-Gabber, Gqom, Grime und diverse andere abstrahierte UK-Beats greifen die vier Tracks eine erstaunliche Bandbreite aktuell wieder hip gewordener Styles ab, ohne im geringsten gewollt oder modisch zu klingen. Die Grundmelancholie der beiden erdet das Projekt in einer hartnäckigen Restschönheit.
Stream: Croatian Amor & Varg2TM – Body Of Carbon
Wenn eine wohlportionierte Dosis vergrübelten Schwermuts auf den unbedingten Willen zum Experiment und dann noch glücklich mit einer Disposition zum Pop verschmilzt kann schwerlich etwas schiefgehen. Bei Eartheater schon mal gar nicht. Ihr digitales Album Trinity (Chemical X) ist sogar das oberflächlich zugänglichste und mainstream-kompatibelste, das sie je gemacht hat. Schon wieder. Allesamt Kollaborationen mit Kolleg*innen aus ihrer näheren Umgebung in Brooklyn, New York, ruft Alexandra Drewchin hier die höchsten Register von Pop auf. Wie Björk nur urbaner, wie Grimes ohne Helium in der Luftröhre, wie FKA Twigs, wenn diese Modularsynthesizer mit Kinderreimen füttern würde. Die endlose Freundlichkeit von Drewchins New Yorker Kollegin Macy Rodman wird auf Endless Kindness (Sweat Equity) expliziter und queerer. Sie reizt die Möglichkeiten von zickiger Popmusik mit einer Postpunk-Attitüde aus, die gerade nicht die Oberflächichkeiten von Sound oder visuellem Stil des Genres wiederbelebt, sondern die ungebremste Ausprobierfreude im Zusammenhang mit einer radikalen In-Your-Face-Attitüde, die aber immer diesseits von Synthpop und R&B bleibt. Die norwegisch-dänische Newcomerin Varnrable zieht auf ihrer EP Hard Tech Soft Feelings (Escho) noch etwas urbaner in Richtung Ambient mit kleinen Ausbrüchen Richtung Synthpop. Eine Kollaboration von Kelela mit Croatian Amor oder Vanity Production vom Kopenhagener Posh Isolation Label dürfte so ähnlich klingen. Camilla Myhre kann das ganz allein.
Video: Varnrable – Alive
Wo eine avancierte Körperpolitik für Stern*chen wie Russom, Drewchin oder Rodman quasi zum Grundrauschen gehört, aber nicht immer den Fokus ihrer Stücke einnimmt, ist für Aseptic Stir, jüngstes Projekt der vor kurzem in Berlin angekommenen russischen Performancekünstlerin Alexandra Zakharenko der Körper das zentrale Werkzeug der Kunst- und Musikproduktion. Zakharenko, die als Perila abstrakten Techno auf Labels wie The Trilogy Tapes und Sferic macht, hat mit dem Tape Year Of Detachment (Klammklang) nichts weniger vor als eine sonische Karte des Körpers und seiner Traumata zu zeichnen, was sich klanglich in Dark Ambient und Art-Pop übersetzt. Eine modernistisch-avantgardistische Arbeit, beeindruckend konsequent, leise und körpernah umgesetzt. Die Kopenhagener Singer-Songwriterin Andrea Novel alias Ydegirl verfolgt ebenfalls eine eigenwillige Körperpolitik – wie ihr hoffentlich nicht allzu schmerzhaftes und permanentes Zungen-Ritz-Tattoo (?) demonstriert – und agiert ebenfalls auf der Seite der extremen Stille und Nähe, auf der EP Notes19 (Escho) vorwiegend in der Sprache von digitalem Folkpop, der sich die besten Tricks von avantgardistischem R&B a la FKA Twigs oder Lafawndah abgeschaut hat.
Video: Ydegirl – Words Woozy in the Breeze
Die alterslose japanische Singer-Songwriterin Rima Kato veröffentlicht nur selten, macht aber seit mehr als fünfundzwanzig Jahren Musik, die zwischen Ambient und Folk vermittelt. Auf ihrer jüngsten Mini-LP Sing-Song (Flau) treibt sie das Prinzip des Songwriting ohne Songs auf die Spitze: die Stücke sind allesamt Vertonungen des gleichnamigen Kinderbuchs der viktorianischen Poetin Christina Rossetti. Also beruhigende wie sanfte Schlaflieder aus wenigen, sich wiegenden wiederholten Phrasen. Loop-Ambient aus Stimme, Akustikgitarre und Glockenspiel. So schön.
Video: Rima Kato – Love Me, I Love You
Der traurige Isländer Sindri Sigfússon alias Sin Fang feiert mit sich selbst und es ist eine ganz schön traurige Party, die dabei zustande kommt. Der Mann mit dem Blumenbart, der ja eher für üppige Popsongs mit einem gewissen instrumentellen Pathos steht, nimmt sich auf Sad Party (Morr) ziemlich zurück. Es ist immer noch Electro-Pop, aber einer, der immer dabei ist zu introvertiert schüchternem Schweigen umzukippen, zu Electronica und Ambient.
Video: Sin Fang – No Summer
Der Südlondoner Newcomer Felix Lee macht melancholische Popmusik auf den verlassenen Ruinen von Grime und Trap. Der introvertierte Cloud-Rap seines Debüts Inna Daze (Planet Mu) führt das grimmig-aggressive von Grime mit zartestmöglichen Beats in ambiente Electronica über. Lee, der mit dem schwedisch-britischen Trap-Outsider-Rap-Kollektiv Drain Gang assoziiert ist, agiert weniger de(kon)struktiv als Lees Peers Kamixlo oder Elysia Crampton. Lees Album ist musikalisch und inhaltlich queer und Post-Club, wie die Rapper seiner Crew, die hier kräftig mithelfen. Aber das Herz hängt hier ganz klar an Popmusik der sehr melancholischen Sorte.
Video: Felix Lee – Emeralds
Die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren eventuell die letzten, in denen popkulturelle Ideen von Zukunft noch eine Zukunft hatten, trotz bereits massiver Retro-Trends und dem apokalyptischen Hintergrundrauschen von nuklearer Aufrüstung, Reaktorkatastrophen und Waldsterben – zumindest, wenn man Pop-Theoretikern wie Simon Reynolds oder Pop-Praktikern wie der Vaporwave-Szene glauben schenken möchte. Die ungebrochene Flut von achtziger-beeinflussten Veröffentlichungen, die sich explizit auf die Utopien des Pop-Jahrzehnts beziehen, weisen jedenfalls darauf hin, dass es ein echtes Bedürfnis gibt, diese verlorenen Futurismen irgendwie wiederzugewinnen. Eines der überzeugendsten Beispiele, wie das funktionieren kann, kam vor kurzem von Noah (siehe September). Die Kunst bei dieser Art von Wiederbelebung ist, so frisch und unverbraucht zu klingen, dass die Wiedergewinnung der Vergangenheit eine glaubhafte Gegenwartshoffnung freisetzt. Wie zum Beispiel von LA Vampires Does Cologne auf 10 OUTTA 10 (100% SILK), einer Kollaboration der Not-Not-Fun-Labelmacherin, Pocahaunted-Sängerin und Musikerin Amanda Brown mit dem Brooklyner Vaporwave-Duo Cologne. Kaum jemand lebt und verkörpert den Sound der Achtziger heute so authentisch und unverstellt wie Brown unter ihrem Alias LA Vampires, obwohl die Produktion und der Charakter ihrer Musik ganz klar in der Jetztzeit liegen und durch die Erfahrung moderner Clubmusik, House und Techno hindurchgegangen sind. Wo Noah, die schon immer virtuelle Nächte eines Neo-Tokyo zu einem besseren Morgen erweckte, ist für Brown das Los Angeles des studioperfektionierten, aber doch ultimativ gelassenen professionellen „Adult Oriented Rock“, das sie mit ihren Rave-Erfahrungen zu einem extrem lässigen Proto-Deep-House-Pop erneuert. Eine Art von Musik, die es in den Achtzigern nie gegeben hat, und die dadurch heute um so zukunftsorientierter wirkt.
Stream: LA Vampires Does Cologne – HOWUKISS
Der Bassist und Elektroniker Joseph Carvell ist in der Post-Industrial Szene heimisch. Sein spätes Solo Ema by the Sea (Karaoke Kalk) unter dem Alias Pink Shabab nimmt sich ebenfalls die Achtziger her, um damit etwas flamingopinkes zu fabrizieren, das mit seinem bisherigen Arbeiten (er spielte zum Beispiel lange Jahre mit Baby Dee) nicht viel bis gar nichts zu tun hat. So finden 80s-Electro, Italo-Disco und Avant-Pop à la Sparks oder Talking Heads zu einem Album zusammen, das trotz deutlicher Eighties Exploitation ohne Nostalgie auskommt und damit perfekt jetztzeitigen Pop macht. Wie Jennifer Vanilla, hinter der sich Becca Kauffmann von den Funkrockern Ava Luna verbirgt. Auf ihrem Solo-Debüt, der J.E.N.N.I.F.E.R. EP (Beats in Space), hat sie den handgemachten Indie-Sound der Band gegen eighties-inspirierten Pop-Techno suspendiert. Hier ist gleichermaßen Begeisterung für das letzte Pop-Jahrzehnt wie die Resteuphorie des letzten Raves zu hören.
Video: Jennifer Vanilla – Erase The Time
Im New Wave und den Derivaten Dark Wave, Minimal Wave und vielen mehr ist die erste Hälfte des berüchtigten Retro-Jahrzehnt wohl am massivsten und klangentschiedensten präsent. Was neue Musik im alten Stil auf keinen Fall entwertet. Vor allem, wenn sie einem hörbar anderen Erfahrungsschatz entspringt und ihr Genre so verwirrt wie von Chloé Raunet. Die digitale EP Pressure Drop (Ransom Note) der als C.A.R. von London aus operierenden Kanadierin nimmt sich die Klischees von Cold Wave, eine brutal in den Vordergrund produzierte Wand aus untermittigen Synthesizerflächen, Preset-Beats aus der Drumbox, runtergepitchte kalt-schwitzige Postpunk Vocals und wirft sie skrupellos in den Experimental-Mixer, so dass die primitiven Beats plötzlich cutting-edge-modern klingen und die Stücke krass gut wie nichts Altes. Dazu gibt es einen tollen Remix von Suzanne Kraft, der aus dem Titelstück einen bouncenden Robo-Electro-Dancetrack macht. Was mit Postpunk passiert, wenn er durch einen Patch generativer Software gejagt wird, demonstriert der Berliner inaub1bl3 auf Weltformel (Farmersmanual). Obwohl die Tracks eher Glitch-Dekonstruktionen als Retro-Rekonstruktionen darstellen, hängen sie im Zweifel immer noch erstaunlich nah am zickigen Minimal-Wave-Song. Der Postpunk-Charakter des Samplematerials, welches dem Ganzen zugrunde liegt, ist eben ziemlich unkaputtbar. Hinter der Postpunk Combo De Ambassade steckt der Niederländer Pascal Pinkert, der als Dollkraut so ziemlich alles gemacht hat, was zwischen Fetisch-Industrial, Deep House, Giallo-Soundtrack und Düster-Techno so denkbar ist. Da passt das minimal experimentelle Cold-Wave-Album Duistre Kamers (Knekelhuis) selbstverständlich wie Lack auf Leder – und es macht in all seiner Darkness einfach sehr gute schlechte Laune.
C.A.R. – Pressure Drop (Suzanne Kraft Remix)
Der seltsame Minitrend namens „Witch House” ist nicht so lange her wie Postpunk, aber doch schon weit vergessener. Extrem lofi-produzierter Sequenzer-Synthpop mit simpelsten Melodien, Gothic-Dark-Wave-Gesang und krassem Sounddesign mit kantig-schrapnelligen Beats, das hat für kurze Zeit richtig frisch geklungen, sich dann aber vom schnellen steilen Hype nicht wirklich wieder erholen können. So gibt es kaum noch Originalprojekte, die heute noch aktiv sind, mit oOoOO & Islamic Grrrls als interessante Ausnahme. Die damaligen Stars des Genres wie Salem oder White Ring entwickelten sich zu eher konventionellen Cold-Wave- oder Shoegaze-Bands. Noch seltener sind neue Projekte, die sich direkt auf den Sound von 2007 beziehen. Sie sind rar, aber es gibt sie, wie Year of the Witch (Captured Tracks), Debüt der kalifornischen HXXS. Das Boy/Girl-Duo bedient gleichberechtigt Maschinen und Vocals, produziert richtig tollen Avantgarde-Pop wie klassischen Hip-Hop, auf simpelsten aber ungemein effektiven Sequenzer-Loops. Dazu läuft der Drumcomputer einfach durch. Das klingt superfrisch und direkt, weil die beiden ihre Wut auf die Zustände in ihrem Land nicht gerade zurückhalten. Präsenter und jetziger Electro-Punk praktisch ohne Bass aber mit Schmackes.
Introvertierter, aber nicht weniger avantgardistisch, agieren Annelyse Gelmann & Jason Grier aus Portland. Ihre Mini-LP About Repulsion (Fonograf Editions) führt avancierte Produktionstechnik inklusive generativer Vocal-Patches mit zarter Poesie zusammen. Sanft, aber insistierend experimentell, eine seltene tolle Kombination. Der Münchner Dominik Schäfer dürfte am bekanntesten als Vokalist von Funkstörung und Burnt Friedmann sein. Eher unter dem Radar arbeitet er als Komponist und Musiker für deutsches Theater und als Instrumentalist in Jazz-Combos. Ein Vielkönner also, der als Enik nun sogar in Richtung dezidierter Popmusik schnüffelt. Wobei das mit dem Pop dann doch recht relativ ist. Das ausladende Album The Deepest Space of Now (Brave & Dizzy) eint in all den angerissenen Stilen von Folk-Pop über Electronica bis Trap vor allem eine gewisse Weirdness. Mit sehr markanter Stimme vorgetragene tolle wie eingängige Songs, bei denen aber trotzdem nicht die Gefahr besteht, dass er so bald zu einem Mainstream-Format wie „Sing meinen Song” eingeladen wird.
G.A.M.S., Duo des erprobten Song-Avantgardisten Guido Möbius und des Free-Improv-Schlagzeugers und Elektroakustikers Andi Stecher zeigt da schon deutlich weniger Hemmungen. Ihr Debüt G.A.M.S. (Karlrecords) wildert an den definitiv zu wenig erforschten äußersten Grenzgebieten von Prog-Rock und Psycho-Pop mit immenser Lust am komisch sein, findet aber doch immer wieder zurück zu so etwas wie Folksongs. Vielleicht sind sie auf ihren Klangexpeditionen ja einmal Renaldo and the Loaf begegnet? Die beiden Briten machen ihre seltsamen Sachen verbürgt seit den späten siebziger Jahren und sind sporadisch bis heute aktiv. Schön, dass sich ein so etabliertes Label wie Editions Mego ihrem Backkatalog angenommen hat. Die Tapes Songs For Swinging Larvae / Songs From The Surgery aus den frühen Achtzigern erschienen bereits im Frühjahr dieses Jahres, The Elbow is Taboo (beide: Editions Mego) von 1987 nun aktuell. Alles reichlich abstruses Zeug, außerhalb jeglicher Kategorie. Klänge, die damals der Industrial-Szene zu trippig und psychedelisch waren, der Improv Szene zu songhaft und zu wenig streng, und allen anderen viel zu weit draußen. Genuine Außenseitermusik, die sensationell anstrengend und genial nervend sein konnte, aber eben genauso aufregend genial.
Video: HXXS – Learner
Fehler Kuti (sic) von den Krautelektronikern 1115 arbeitet sich auch solo an den Widersprüchen ab, denen er als Afrodeutscher, elektronischer Musiker und organischer Intellektueller in Deutschland tagtäglich ausgesetzt ist. Die kosmische Lo-Fi-Urban-Electronica von Schland is the Place for Me (Alien Transistor) verarbeitet Erfahrungen von Entfremdung und Freundschaft, von den Grenzen der Anerkennung und Toleranz in freundliche, leicht experimentelle Electronica, die von Krautrock wie von Soul und Funk gelernt hat. Das verarbeitete Unbehagen mit den komischen Deutschen, von denen Fehler Kuti ja selber einer ist, liegt im Detail der Ausschlüsse und Ausgrenzungen, mit denen sich der gemeine Biodeutsche oftmals sein ganzes Leben lang nicht konfrontiert sieht, es aber fast eben so oft gut meint. Komplizierte Verhältnisse, die einfache Musik erfordern. Fehler Kutis nächster Verwandter, musikalisch wie inhaltlich, ist daher eindeutig Dean Blunt. Dessen hin und wieder sehr bitteren Sarkasmus teilt Fehler Kuti allerdings nicht unbedingt. Oder doch? Über das Cover des Albums muss der wohlmeinende linksliberale Biodeutsche erstmal rüber (können).
Das deutsch-amerikanische Duo Crème de Hassan aus Paul LaBrecque und „Pharoah Chromium“ Ghazi Barakat bedient sich ebenfalls der altdeutschen Ausdrucksformen von Krautrock und kosmischen Synthesizerklängen und verbindet diese konzeptuell mit traditionellen außereuropäischen, meist nordafrikanischen Trance-Sounds. Auf dem dritten gemeinsamen Album Tricontinental Circus (Inversions), das zweite erschien Anfang des Jahres als LaBrecque / Barakat (Motherboard berichtete), dominieren weniger lange Improvisationen als knappe Soundcollagen, die das Album insgesamt etwas abwechslungsreicher und gewagter erscheinen lassen, aber eben auch etwas anstrengender und weniger unmittelbar zugänglich. Ihre Eigenheiten, die weit über die offensichtliche Referenz an Post-Industrial Projekte wie Muslimgauze hinaus weist, hat sich hier eher noch verstärkt.
Stream: Fehler Kuti – Mayday Mayday
Und weil es diese Zeit des Jahres ist, darf so ein richtiges Weihnachtsalbum in der Kolumne nicht fehlen. Pepper Mill Rondo, die beiden Labelcheffes von Hausu Mountain, haben sich nicht lumpen lassen und uns ein formidabel fettes C74-Tape dekonstruierter, dekonstruktivisionierter, destruktivistischer, ach was, einfach genialer Weihnachtsmusik aus Jingles, Bells und verschmorten Game-Konsolen gebastelt. It’s Christmas Time (Hausu Mountain, VÖ 11. Dezember) also fortgeschrittener Sampleschnitzel-Irrwitz für Vapor-X-Elfen. Holy Bimbam, der einzig menschenmögliche Soundtrack zu dieser (jeder) Saison.
Stream: Pepper Mill Rondo – Elf By Myself