Über keinen musikjournalistischen Text wurde 2019 soviel diskutiert wie über The Rise of Conceptronica. Why so much electronic music this decade felt like it belonged in a museum instead of a club von Simon Reynolds. In seinem Essay geht es nicht um funktionale Clubmusik, sondern um die Sounds, die Festivals wie CTM, Atonal oder Unsound vorantreiben und die in den letzten Jahren explodiert sind. Dort sei der Begleittext oft wichtiger als die Musik, bemängelt Reynolds. In ihrer Replik erklärt unsere Autorin Nadine Schildhauer, warum er diesem Phänomen nicht gerecht wird. 

Ein hybrider Sound bahnt sich seit mehr als 10 Jahren seinen Weg in die globale Festival- und Clubszene: Die Klänge sind stark fragmentiert, manipuliert, geschichtet, verweisen nonchalant auf Theorien der Cultural Studies, verfolgen konzeptionelle Ansätze. Beispielhaft für diese Entwicklung stehen Chino Amobis gefeiertes Album Paradiso (2016) oder Elysia Cramptons Demon City (2016). Ein Abkömmling des Phänomens ist Deconstructed Club Music oder auch Post Club. Diese Ansätze charakterisiert Simon Reynolds polemisch als Conceptronica. Er findet, die Musik kommt nicht ohne das begleitende Konzept aus, sie spielt bloß die zweite Geige.

Dabei zeigt Reynolds sich durchaus als raffinierter Chronist dieses Sounds. Er schafft es, experimentelle AI-Musik von Holly Herndon, hybride Deconstructed Club Music von Janus, moody Vaporwave von James Ferraro und afrofuturistische Sounds von NON Worldwide in einen Zusammenhang zu stellen. Reynolds arbeitet die Merkmale dieses vielgestaltigen Sounds, der ebenso zeremoniell wie aufrührerisch klingen kann, sorgfältig heraus. Mit Conceptronica entwirft er einen Begriff, der breit genug ist, um Holly Herndon, Rabit oder M.E.S.H zu vereinen, ohne zu vernachlässigen, dass es sich um kein Genre, sondern um ein Phänomen handelt. Reynolds verortet die wiederkehrenden krachenden Drums als das zentrale Klangmotiv von Conceptronica.

„If a single sonic motif runs through a large proportion of conceptronica, it’s the crashing drum—a dramatic effect that sounds ceremonial and regal, but also vaguely punitive, like the smash of a police baton, or evocative of urban unrest, like the tinkling shards of a shattered riot shield.“ (wie alle weiteren Zitate: Simon Reynolds, The Rise of Conceptronica)

Die Anfänge des Sounds, die er mit Verweis auf den Kritiker Matthew Phillips als Aspekte einer „neofuturistische[n] Ästhetik“ bezeichnet, verortet Reynolds in Jam City’s Classic Curves (2012). Mit dieser Engführung verwischt er, das ist das erste Problem an dem Text, die Spuren der DJ-Sets, die die Verwendung der krachenden Drums vorangetrieben haben und verkennt den Club als Entstehungsort von Conceptronica. Dabei tauchten die krachenden Drums bereits 2008 in Clubnächten in New York und Los Angeles auf: Jazmin Soto aka Venus X (GHE20G0TH1K) und Ashland Mines aka Total Freedom (Fade To Mind) scheinen nicht in den weit gespannten Bogen der konzeptionellen Klänge, die Reynolds zufolge eher in Galerien als in Clubs gehören, zu passen. Venus X und Total Freedom – beide DJs und nicht Produzenten – haben neben vielen Clubnächten und Labels (Kingdom, N.A.A.F.I., Halcyon Veil, etc.) den Sound maßgeblich geprägt. 

Die Unmittelbarkeit und Spontaneität, die bei Janus- oder GHE20G0TH1K-Nächten zu Tage treten, finden sich nicht in Reynolds Argumentation wieder. Sein Fokus liegt ausschließlich auf Alben, Konzerten und Festivals. Zugunsten der Begriffsbildung nimmt Reynolds Aussparungen im Narrativ in Kauf, die die Rolle des Clubs unterminieren. Liest man die Beschreibungen dieser Clubnächte von Musikjournalist*innen wie Michelle Lhooq und Max Pearl, wird deutlich, dass der von Reynolds beschworene akademische Background der Conceptronica-Szene nur die halbe Wahrheit ist. Dort wird ein weitaus breiteres soziales Spektrum abgebildet, Akademiker*innen bilden da keine Mehrheit.

Mehrdeutiges Gelächter, polyrhythmischen Drums und Theoreme von Jose Esteban Muñoz

Bei der Entstehung von Conceptronica spielt die technische Entwicklung eine tragende Rolle. Mit den CDJs von Pioneer wurde es in den Neunzigerjahren leichter, heterogenere Musikstile zu mixen. Dass Reynolds Conceptronica als Phänomen begreift und nicht als Genre, hat unter anderem mit diesem technischen Standard zu tun. Die fragmentierten DJ-Sets der Deconstructed Club Music koppeln diverse Genres wie Footwork, Baile Funk, Ambient oder Nu-Metal mit dem Ha-Crash aus dem Ballroom, mit Pop-Samples und diversen Soundeffekten. Statt die Tempi anzugleichen, werden sie oft zerstückelt aneinandergereiht, überlagert, oder es werden harte Cuts gesetzt (siehe Michelle Lhooq). Die Schlussfolgerung von Reynolds lautet nun, elektronische Musik habe irgendwann konzeptionell den Bogen überspannt und passe nunmehr besser in Galerien als Clubs: 

„I’m not exactly sure when I first noticed that electronic music’s conceptual bent had gone into overdrive. […] I also noticed that the way I would engage with these releases actually resembled a visit to a museum or gallery. […] As fascinating as conceptronica can be, something about it always nagged at me. It rarely provided that sense of release or abandon that you got with ’90s rave or even from more recent dissolute forms like trap, whose commodity-fetishism and sexual politics are counter-revolutionary but which sonically brings the bliss.”

Bei Reynolds gibt es elektronische Musik vorwiegend als „befreienden“, clubtauglichen Rave und als „allein aus den Klängen heraus funktionierender“ IDM ohne Überbau:

“Another major difference between conceptronica and old-school IDM is that the latter could be used as a relaxing background shimmer, a spur to unthinking reverie rather than intellectual musing.”

Aber auch IDM hat in seiner Entstehungszeit in den 1990ern konzeptionelle, stark theorielastige Musik hervorgebracht – denken wir nur an den Output des Labels Mille Plateaux und an das Genre Glitch. Ausdruck fand hier zwar oft über den Sound statt, aber auch das lässt sich nicht pauschalisieren. Mit Conceptronica hat eine Verschiebung vom Klanglichen hin zur Priorisierung der Bedeutungsebene stattgefunden:

„But although it uses the rhythmic tools of body music, it doesn’t primarily aim to elicit a physical response. It’s music to contemplate with your ears, to think about and think with.”

Dabei übersieht Reynolds die Tatsache, dass beispielsweise Elysia Cramptons Kritik am repressiven Staat Boliviens nicht als primäres Ziel hat, im Hintergrund oder als ekstatischer Rave zu funktionieren. Ihre vielschichtig strukturierten Songs aus Gedichtfetzen, Referenzen zum Theoretiker Jose Esteban Muñoz, mehrdeutigem Gelächter, polyrhythmischen Drums, Huayño und Cumbia fordern ihr Publikum klanglich heraus. Crampton verbindet auf einzigartige Weise traditionellen südamerikanischen Folk mit neuerem Crunk aus den Südstaaten der USA und fusioniert dies zu einer neuen Form experimenteller Musik. Dabei schichtet sie ihre Songs, lässt Gedichtfetzen, Referenzen auf den Theoretiker Jose Esteban Muñoz, Soundeffekte, polyrhythmische Drums, Huayño und Cumbia durchscheinen und fordert ihr Publikum damit heraus. Das Album fesselt Zuhörende und lässt sich kaum auf einen musealen Sound reduzieren. Gleiches gilt für Holly Herndon. Ihre aktuelle Live-Show hat noch einmal verdeutlicht, dass diese Musik auch funktionieren kann, ohne den theoretischen Überbau zu kennen, da Elemente wie ihr Chor u. a. mit Colin Self, die Visuals und die Sounds von Matt Dryhurst sowie ihre wandelbare und manipulierte Stimme euphorisch und mitreißend sind. Reynolds kann das aber nicht ganz und gar genießen. Er fühlt sich belehrt:

„With conceptronica, there can be a feeling, at times, of being lectured.”

Diese Form der diskursiven Musik dient nicht der Akkumulation von kulturellem Kapital, sondern der Absicherung der Künstler*innen von fremden Diskursen vereinnahmt zu werden und die Kontrolle über das eigene Narrativ zu behalten. Durch den „Überbau” ist es nicht mehr so leicht, Musik und Musiker*innen von außen einen Stempel aufzudrücken. So sollten in einer älteren Fassung seines Artikels Herndon-Zitate aus ihrem Ableton-Summit Talk erscheinen, diese sind aber den Kürzungsprozess zum Opfer gefallen, wurden allerdings später auf seinem Blog veröffentlicht: 

“I can either contextualize things myself or just put it out there. But people are probably going to read things into it that weren’t intended. So I like to have a role in that analysis.” (Herndon, Blissout 2019). 

Dass viele Künstler*innen ihre Musik heute sehr viel deutlicher erklären und weniger Raum für Interpretation lassen, was vor allem als Schutzmechanismus vor falschen Deutungen dient, stellt auch die Rolle von Musikjournalist*innen in Frage. Denn wer braucht dann noch Vermittler*innen wie Reynolds? Allerdings handelt es sich um kein Phänomen, dass allein Conceptronica-Künstler*innen zuzuschreiben ist, denken wir nur an Alben wie „A Seat at the Table“ von Solange oder „Lemonade“ von Beyoncé. Reynolds hingegen bemüht das früher-war-alles-besser-Narrativ und appelliert an Zeiten, in der Musik subtiler politische Botschaften vermittelt habe: 

“House music came out of the gay underground and represented values of pride, acceptance, unity, and love, but as shared subliminal principles far more than declared positions.”

House wurde von afroamerikanischen Künstler*innen in Chicago ins Leben gerufen. Somit ist diese Musik mit dem Erbe des US-amerikanischen Kolonialismus verschränkt, wenn das auch nicht explizit artikuliert wird: Die integrativen und progressiven Werte, die House vorangetrieben hat, verbinden heute die meisten mit dem Claim „Peace, Love, Unity & Respect“, mit der hedonistisch und europäisch gelesenen Rave-Kultur der Neunziger. So haben bis heute mehr weiße Menschen als Afroamerikaner*innen von House profitiert, monetär und in Form von kulturellem Kapital. 

Den Luxus der Unschuld

Von dem sogenannten whitewashing, also dem Verdecken afroamerikanischer Musikgeschichte und damit einhergehenden monetären Verlust für afroamerikanische Musikschaffende, sind nicht nur Clubgenres wie Chicago House und Detroit Techno betroffen, sondern auch wissenschaftliche Diskurse. So wurde überhaupt erst in den letzten 20 Jahren die Rolle des Free Jazz für die Wegbereitung von experimenteller Musik und Sound Studies aufgearbeitet. Chino Amobis Airport Music For Black Folk (2016) ist eine Replik auf Lawrence Englishs Airport Symphony (2007) und Brian Enos Music for Airports (1978). Während besonders Englishs Sound für klangliche Allgemeingültigkeit steht, setzt Amobi rassifizierte Gewalt in Sound um, wie die britische Wissenschaftlerin Marie Thompson in ihrem Aufsatz „Whiteness and the Ontological Turn in Sound Studies“ beschreibt. Die Auffassung, Musik müsse ohne Signifikanten aus dem „Klang heraus“ funktionieren, „um dem Klang zu erlauben, seine eigenen Gedankenformen zu erzeugen“, stammt aus einem veralteten Verständnis der Sound Studies, das den impliziten Rassismus, der afroamerikanische Jazzmusiker diskreditierte, verschleiert. Reynolds übernimmt diese Bewertungskategorie unhinterfragt und verkauft sie uns als universell und ideologiefrei. Damit schreibt er die Verschleierung fort, statt sich mit aktuelleren Exkurse zum Rassismus der Sound Studies auseinanderzusetzen, wie die von Paul Gilroy, Georg E. Lewis und Fred Moten.

Amobi vermittelt mit seinem Bezug auf Fred Moten und den Diskurs um die Idee einer schwarzen Ästhetik sowie einer radikalen afroamerikanischen Tradition in der Diaspora Geschichtsbewusstsein. Der Rückgriff auf Bedeutungsebenen ist eine Reaktion auf das über Jahrzehnte praktizierte whitewashing und damit als gezielt eingesetzte Ästhetik. Mit dem heutigen theoretischen Überbau ist das Dozieren über Musiker*innen so nicht mehr möglich. Reynolds Unbehagen gegenüber musikmachenden Kunststudierenden und Akademiker*innen ist hier deplatziert, weil die Wissenschaft in Zeiten des Backlashs einen Rückzugsort für kritische Haltungen bietet (ebenso wie im Wissenschaftsbetrieb auf Rassismen reproduziert werden). 

Im vorletzten Absatz des Essays fragt Reynolds: 

„If its subject, in the broadest sense, was liberation, why then did I not feel liberated listening to it?“

Die Frage müsste stattdessen lauten: Um wessen Befreiung geht es hier und um die Befreiung wovon? Reynolds sehnt sich nach der Unschuld der Neunzigerjahre und vermisst angesichts der criticality den Partyspaß. Einigen Künstler*innen, denen er fehlende Tanzbarkeit unterstellt, konnten sich den Luxus dieser Unschuld nie leisten. Sie befreien sich von genau solchen Generalisierungen, wie Reynolds sie vornimmt. Statt die Tatsache, dass er Teil des von den Künstler*innen kritisierten Problems ist, zu reflektieren, nutzt Reynolds seinen Einfluss, um aus seinem fehlenden persönlichen Zugang zu diesen Musikformen ein Generalurteil über vermeintlich vergeistigte Avantgardist*innen zu fällen.

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