Acid Pauli – Shifting Gier (Ouïe Circle)
Martin Gretschmann hat als Mitbegründer der Weilheimer Schule mit seinem Console-Projekt und als Mitglied von The Notwist Musikgeschichte geschrieben. Unter seinem Alias Acid Pauli liefert er seit mehr als zwanzig Jahren auch psychedelischere Techno- & Mashup-Produktionen. Sein Bastardpop-Remix „I See A Dark(er)ness” auf Gema 05 wird mittlerweile zwischen 80 und 500 Euro gehandelt. Und mit Nico Stojan betreibt er seit 2016 das Berliner Label Ouïe. Gefühlt hat er, ob als Clubbesitzer, Musiker oder in Theater- und Hörspielproduktionen zwischen München, Hamburg, Köln und Berlin immer irgendwo seine Finger mit im Spiel. Seine neue EP Shifting Gier ist ein ruhiger, verspulter Groover, der an einen sommerlichen Montagmorgen in der Bar 25 erinnert. Im Zeitlupen-Jack wummern die Bass-Frequenzen analog. Und über dem Titeltrack shiftet ein eingefiltertes Elektronikrauschen, als hätte Acid Pauli das digitale Hissen eines schlecht komprimierten, gerippten YouTube-MP3-Files extrahiert, zerstückelt und dessen Tonhöhen microgepitcht. Diese kategorischen Frequenzgänge bearbeiten die übrigen dubbigen Sounds so genial, dass der Hörer irgendwann vollends zugedudelt die Kontrolle über seine Analyse-Tools (z.B.: Erinnerung) verliert. Das ist pure Erfahrung. „Gierporn” und „Wer giert verliert” sind klassische Bummeltechno-Tracks mit hübschem Kassettenband-Grundrauschen. Lange Reverb-Fahnen dehnen die verhallten Melodien in transzendente und auch paranoide Zustände aus. Da Gretschmann – auch Teil des Live-Acts Feathered Sun – sein Tonstudio in der Nähe des Kater Blau betreibt, klingt das so alles ziemlich stimmig. „Ab ins Bälle-Bad”. Ob die Tracktitel jedoch etwas mit den politischen Entwicklungen am Holzmarkt oder doch nur mit getuneten Proll-Schlitten zu tun haben, das bleibt unklar. Vielleicht trug aber auch nur die lustige Cover-Art (Pilze) auf unerklärliche Weise zur Titelfindung bei. Mirko Hecktor
Bell Towers – Juicy Blend (Public Possession)
Pop war schon immer ein Fixstern in Bell Towers’ musikalischem Output, aber so deutlich wie auf Juicy Blend hat der Australier ihn noch nie zum Leuchten gebracht. Wenn das ansonsten nicht gerade zu Jubelarien verführende Jahr 2019 eines gebracht hat, dann interessante Pop-Entwürfe wie die von Jets, Klein Zage oder Beautiful Swimmers. In diese Reihe gehört definitiv auch „Juicy Blend”, vor allem wegen seiner subtil-betörenden Melodie und dem gefühlvollen Understatement in Bell Towers’ Stimme. Remixe kommen von Bullion, der den Clubcharakter des Songs stärker betont, ohne seine Struktur und melodische Stärke allzu stark in den Hintergrund zu drängen, und von Jaakko Eino Kalevi, dessen Version sich tief vor den 80ern verneigt – like Nik Kershaw und Howard Jones never happened. Mathias Schaffhäuser
Lauer – Know You (Permanent Vacation)
Wenn Ärmel puffen, klatschen Leggins ins Neonbecken und Schulter polstern sich auf dem Bravo Hits-Highway zurück in die Achtziger. Puh, ganz schön viel Klischees für ein Kind dieser Zeit: Philipp Lauer, der sich neben der Solo-Arbeit mit Gerd Janson die Remix-Krone aufsetzt, hat mit modischen Massakern nichts zu tun, sondern dreht einfach gerne an der Uhr. Bei ihm leuchten die Roland-Synthesizer wie 75-jährige Pensionist*innen beim Frühschoppen im Fernsehgarten. Bässe strecken sich zum Power-Yoga in die Heldenstellung und mutieren im nächsten Moment zu Ohrwürmern. Klar, spätestens jetzt weißte, das Zeug pickt schlimmer in den Ohren als Zuckerwatte am Stiel. Auf der virtuellen Rutschbahn durch die Gassenhauer aus Nu-Disco und Hi-NRG zieht Lauer die Badehose runter, damit die Sache kitschig wird. Bei „Know You” zocken Kids am Kaugummiautomaten Tetris. Gesangspartner Jasnau schmettert in Depeche Mode-Manier ein Ständchen, und bevor der Dude mit den freshesten Synthesizern nördlich von Frankfurt die Frosch-Oase auspackt, um den Club zum Finale mit Zitronengras einzuduften, haben alle Pipi in den Augen – wegen den Melodien! Christoph Benkeser
Ossia – The Marzahn Versions (Berceuse Heroique)
Ossia gehört zum Soundkollektiv Young Echo aus Bristol, hat selbst schon auf Blackest Ever Black veröffentlicht und betreibt eine gute Handvoll Labels wie FuckPunk, NoCorner, Peng Sounds und Lava Lava. The Marzahn Versions verweist im EP-Titel darüber hinaus auf Berlin als momentanen Lebensmittelpunkt. Aus diesem Konglomerat formt sich eine Musik, die die Kraft hat, alle Technomüdigkeit und jeden Kulturpessimismus gut gelaunt vom Tisch zu wischen. Taugliche Referenzen sind zu Ossias Musik nur schwer zu benennen – natürlich spielen Dub, Industrial und Detroit eine Rolle, aber alle beim Erwähnen dieser Begriffe losgetretenen Assoziationen leiten in die Irre und sind somit eher kontraproduktiv. Ossias Musik residiert jenseits ärgerlicher Versatzstück-Bastelarbeiten und bietet die seltene Gelegenheit, noch einmal wirklich überrascht zu werden im Techno-House-Electro-Kontext. Wie Weihnachten – nein, viel besser! Mathias Schaffhäuser
Stellar OM Source – I See Through You (Dekmantel)
Christelle Gualdi ist zurück. I See Through You, die neue EP der inzwischen in Antwerpen lebenden Französin, basiert auf Material ihrer Stellar OM Source-Live-Gigs. Musikalische Diversität und immer wieder ein Blick zurück in die Neunziger prägen ihre DJ-Sets und auch diese Platte. Ein Hang zur Beliebigkeit lässt sich nicht leugnen. Die vier Tracks auf I See Through You sind gewissermaßen eine Ode an die 1-Euro-Fächer deines Lieblingsplattenladens. „Anthony “Shake” Shakir signed to Crydamoure” war bei Resident Advisor zu lesen. „Night Alone”, der gelungenste Track dieser Platte, klingt in Wirklichkeit aber eher wie ein Smoothie aus Italo House, Eurodance und EBM. „Lost Codes” macht auch noch Spaß, dieses soundmäßig zugekleisterte Stück ist das Frühneunziger-Techno-Schnäppchen, das man gerne macht, wenn man denn will. Beim Acid-Gezwirbel von „White Echoes” kann einen hingegen schon mal die Lust verlassen. Bemerkenswert ist zum Schluss noch „Wild Palms”, hier trifft Speed Garage auf zackige Trance-Armbewegungen, dazu ein Schuss UK Progressive House von 1994. Puh. Holger Klein