DJ Harvey – The Sound Of Mercury Rising Vol. II (Pikes)
Das Pikes Hotel liegt in den Hügeln von San Antonio und hat seinen festen Platz in der Architektur des Mythos Ibiza. In den späten Siebzigern eröffnet, zählten Grace Jones, Tony Curtis, Spandau Ballet, Bon Jovi, George Michael und Freddie Mercury zu den regelmäßigen Gästen. Dem Videodreh zu Whams „Club Tropicana” diente es als Set. Seit fünf Jahren ist die legendäre Location Homebase für DJ Harveys Mercury Rising-Partys. Zur Feier des kleinen Jubiläums ist mit der Compilation The Sound Of Mercury Rising Vol. II ein Füllhorn von, je nach Version, 13 bis 20 Tracks erschienen, das sich auch als Verbeugung vor dem in diesem Jahr verstorbenen Gründer Tony Pike versteht. „You can check in, but you can never check out” lautet der Claim, den Pike für sein Boutique-Hotel erfunden hat. Entsprechend hat sich Disco-Don Harvey hier nicht hängen lassen. Allein schon das phänomenal hypnotische „Tatooine Moons“ von Forgotten Corner & Khidja wäre Grund genug, einzusteigen. Sympathisch auch, dass Harvey sich keineswegs darauf beschränkt, lediglich seinen Riecher für Mondpreis-würdige Collectors Items auszustellen, sondern auch vor vielfach despektierlich angesehenem, seinerzeit als „Retortenmusik“ denunzierten Material wie Mandy Smiths von Stock, Aitken & Waterman produzierter Debütsingle „I Just Can’t Wait“ nicht zurückschreckt. Mit sicherer Hand und komplett unprätentiösem Mixing (Übergänge sind was für Wichtigtuer) wird hier Älteres aus drei Dekaden wie „Dance Dance Dance“ (1977) der Sängerin Marta Acuna, die mit Patrick Adams gearbeitet hat, Pamela Nivens „It’s You I Love” (1983) oder Mr. Marvins „Entity“ (1991) neben Unveröffentlichtem wie „Mr. Mercury“ vom belgischen Act Rheinzand, an dem mit Mo Becha eine Hälfte der Glimmers beteiligt ist, oder Switchdance’ famose Acid-Nummer „Arabian Ride“. Respektvoll, erwachsen und genau deshalb enorm sexy. Harry Schmidt
Gost Zvuk – 5 Years (Gost Zvuk Russian Federation)
„Keine Zukunft ohne Vergangenheit”, sagt der Labelchef der russischen Underground-Eleganza, Ildar Zaynetdinov. Seit 2014 führt er Gost Zvuk (ГОСТ ЗВУК), eine Nabe für elektronische Musik aus Russland – und belebt mit dem Sublabel Gost Archive auch die sowjetische Musikvergangenheit. „Unsere Motivation bestand aber immer darin, eine Plattform für lokale Produzent*innen zu schaffen”, so Zaynetdinov, der den russischen Sound vor allem über seine Ästhetik definiert. 2019 ist Gost Zvuk fünf Jahre alt, eine Institution im Moskauer Underground, mit Künstler*innen wie Buttechno, OL, Flaty oder Vtgnike in den Clubs auf der ganzen Welt vertreten. Grund genug, das fünfjährige Bestehen mit einem Kracher zu feiern. Und auch unbekannten Gesichtern der Szene eine Möglichkeit zu geben, sich nach vorn zu tun. Schließlich gibt’s abseits von Dub-Tankern wie OLs „Subatex” oder Flatys „Overthinker Heat” einiges zu entdecken: Das zerschossene Sample-Chaos von INFX, alternativen Soviet Space-Pop von Gamayun, verhallten 90s-House von Kedr Livanskiy & AEM Rhythm oder den Tarkowski-Ambient von Kassir. Insgesamt 21 Künstler*innen tummeln sich auf der Compilation, polieren den Zeitgeist des russischen Electronic-Sounds aus der Flasche und erfüllen dem Laden zum Geburtstag 21 Track-Wünsche. Recht so – С днём рождения! Christoph Benkeser
Jeff Mills – Sight Sound And Space (Axis)
Sieht man einmal von dem Konzeptalbum Moon (The Area of Influence) ab, stand das Jahr 2019 für Jeff Mills im Zeichen der Director’s Cut-Serie. Das ist eine Reihe von Vinyl-Maxis mit neu gemasterten Versionen von Stücken aus dem riesigen Katalog, den der US-Techno-Pionier in fast drei Dekaden aufgebaut hat. Als Teil dieser Serie ist auch die 3CD-Box Sight Sound and Space zu verstehen, jede der drei CDs hat einen eigenen Titel. Mills hat die 42 Tracks so in einen thematischen Kontext gebracht und musikalisch geordnet. Film ist das Thema von Sight, zu hören sind hier Stücke aus dem Album Metropolis, der Blade Runner EP oder aus Soundtracks, die der Musiker aus Detroit komponiert hat. Auf Sound dreht sich alles um Techno, Klassiker wie „Growth” oder „The Bells” finden sich hier, auch der zuvor nicht erhältliche Track „The 25th Hour“. Space ist schließlich Jeff Mills’ unentwegter Auseinandersetzung mit den Themen Science Fiction und Weltall gewidmet. Auf dieser dritten CD finden sich gleich vier bisher unveröffentlichten Stücke. Neben den 42 Tracks der drei Discs ist noch ein 47-seitiges Booklet mit Linernotes des Meister enthalten. Die digitale Version begnügt sich mit lediglich 27 Stücken. Jeff Mills setzt also tatsächlich auf das Medium CD. Falls nun jemand einwenden möchte, dass es erst letztes Jahr mit Sequence eine Axis-Retrospektive gab – das ist vollkommen richtig. Die deutlich interessantere und facettenreichere Compilation ist aber Sight Sound and Space. Holger Klein
Kompakt Total 19 (Kompakt)
Alle Jahre wieder … genau, seit nunmehr 19 Jahren kommt kurz nach dem Sommergeschäft die Total-Compilation aus dem Hause Kompakt. Dabei handelt es sich um einen unhinterfragbaren Selbstläufer. Dennoch sind zwei Dekaden eine lange Zeit und so ergab sich lustiger- und seltsamerweise vor einigen Wochen in Köln, dass bei der zugehörigen Party zur Compilation wahrscheinlich erstmalig Raver tanzten, die noch gar nicht geboren waren, als das Ganze initiiert wurde. Generell heißt es da Spannung halten, aber auch, wie bei jedem guten Marathon – und solch einen strebt man in Köln anscheinend an -, das eigene Tempo finden. Nicht einfach mitgehen, sondern auf den eigenen Körper hören.
Deswegen ist Total 19 noch keine Offenbarung. Doch der Jahresrückblick, der mehr ist als eine Werkschau, zeigt sich hier von einer vergleichsweise spannenden Seite. Erst nach fünf Tracks landet man bei einer typischen Kompakt-Nummer, das ist hier der Julian Stetter-Remix von Albert Luxus. Davor experimentieren sich Weval durch einen Pop-Entwurf, der an Radioheads Kid A-Phase erinnert, Urgestein Jörg Burger bietet Electronica, die schwer nach TripHop klingt, Sascha Funke hat sich anscheinend beim letztjährigen Kooperations-Partner Niklas Wandt abgeschaut, was die cool kids zur Zeit so spielen. Und Label-Chef Michael Mayer zeigt im Gespann mit Total Confusion-Kompagnon Tobias Thomas, dass man für jede Merkwürdigkeit zu haben ist.
Der Rest der Platte zeigt ebenso, was in den letzten Nächten im Kompakt-Bunker gespielt wurde: Sägezahn trifft hier auf Breakbeat-Einflüsse, Justus Köhnckes camper Electro-Disco auf eleganten Big-Room von ANNA und Gui Borattos und Kölschs-EDM-Rave. Alles beim Alten, also. Marcel Schnackenberg
Ritter Butzke – 10 Years (Ritter Butzke Studio)
Mit 10 Years feiert der Berliner Club Ritter Butzke sein zehnjähriges Bestehen. Nachdem der Laden 2007 zunächst illegal eröffnet hatte, fanden die Betreiber*innen 2009 in der Ritterstraße 26 in Kreuzberg einen offizielles Zuhause. Einen Namen machte sich das Butzke mit seinen opulenten Tech- und Deephouse-Line-ups. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass das Album, das anlässlich der Feierlichkeiten erscheint, mit einigen großen Namen dieser Genres daherkommt.
Eine solche Compilation enthält natürlich einen obligatorischen Anteil an generischem Techhouse, den detailverliebte Hörer*innen zu skippen wissen. Jenseits solcher Generika finden sich aber einige Highlights: So überzeugt Dominik Eulberg mit „Welt am Montag”, einem Downtempo Track mit organischen Synths und Dub-Delay. N’To liefert mit „Unic” eine schöne Acid House-Nummer, die mehr an Extrawelt erinnert als der auf der Compilation enthaltene Extrawelt-Track. Township Rebellion steuert mit „Chapter 3” einen darken Deephouse-Track mit technoidem Einschlag bei; Dapayk & Vars runden die Scheibe mit einer wohlig-verträumten Klangreise ab.
Der Rest der Platte bewegt sich leider irgendwo zwischen uninspiriert und übermotiviert. Die genannten Tracks vermögen dies zu entschuldigen. Finn Heemeyer
Shinichiro Yokota – Ultimate Yokota 1991-2019 (Sound Of Vast)
„Do It Again!” ist der Hit der Live-Show des japanischen Produzenten Soichi Terada, der dank der von Hunee zusammengestellten Compilation Sounds From The Far East seit 2015 eine Renaissance erlebt. Dass der Housetrack gar nicht von ihm selbst ist, sondern von seinem Freund Shinichiro Yokota, war bis dato nur dem peniblen Housefan bekannt. Mit Ultimate Yokota erscheint nun eine Compilation seines Werks, die seine Klasse als japanischer House-Pionier mit zwölf verspielten Tracks eindrucksvoll unterstreicht. Den Anfang machen fünf Stücke aus dem Jahr 1991 – alle leichtfüßig, ungeniert, voller zarter, kleiner, zuweilen asiatisch angehauchter Melodien, die über minimal produzierten Grooves tanzen. Dass alles ein wenig nach Soichi Terada klingt, ist klar, denn er war Yokotas Mentor. Gemeinsam steuern sie auch den 2019 produzierten Tune „Tokyo 018” bei, der im Vergleich zum älteren Material sauber klingt, aber aber trotzdem die Liebe zur verspielten Melodie kultiviert. Auch die übrigen Stücke sind jüngeren Datums, klingen aber ausgeklügelter, leben von souligen Vocals und Melodien, die aber nach wie vor nur eins wollen: den Tänzer*innen ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Michael Leuffen