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HTRK: „Eine Menge guter Fehler”

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Foto: Frankie Casillo

Zum Release ihres neuen Albums traf sich die Groove mit der australischen Band HTRK. Ihr Sound entstammt ursprünglich dem Surf-Rock Melbournes, hat sich zwischenzeitlich aber mit diversen Dub-Einflüssen vermengt und konnte auch Fans elektronischer Musik für sich gewinnen, ihren Tourauftakt spielten sie auf der Berlin Atonal Week. Im Gespräch reflektiert das Duo, bestehend aus Jonnine Standish und Nigel Yang, über musikalische Reifeprozesse, den Verlust ihres Kollegen Sean Stewart sowie ihre Vergangenheit und etwaige Zukunft in Berlin.

Während nebenan das Berliner Atonal Festival seiner zweiten Nacht entgegengeht, lassen Jonnine Standish und Nigel Yang von der Band HTRK auf sich warten. Sind sie in den zahlreichen Gängen und Türen zwischen Tresor, OHM und Kraftwerk verschollen? Frönen sie den kulinarischen Highlights des alibihaften Food-Courts auf dem Gelände, der gemäß seiner dürftigen Erscheinung eigentlich eher Foodschlauch heißen müsste? Oder hat sie die erste Nacht des Festivals derart mitgerissen, dass sie noch immer in ihren Hotelbetten die vorige Nacht nach Absolvierung ihres Eröffnungskonzertes auskurieren müssen?

Foto: Frankie Casillo

Eine Kurznachricht und einige weitere Warteminuten später zeigt sich, dass es nichts dergleichen war. Schwer behangen mit Einkaufstaschen diverser Boutiquen trudeln die beiden in den industriellen Charme verströmen wollenden und tatsächlich seelenlosen Innenhof eines Hotels in der Nähe des Festivals ein, ihre Gesichter wirken gleichermaßen beseelt wie müde. 

Sie entschuldigen sich, ihre Zeit in der Stadt, die sie einst bewohnten, sei knapp bemessen und sie hätten sich in ihren Vorzügen verloren. Jonnine obendrein entschuldigt sich gleich doppelt, sie müsse bald weiter. Ob wir etwaige Fragen zu Gesang und Lyrics nach vorn verlegen könnten?

Berliner Geschichten

Erst einmal dreht es sich doch wieder um Berlin. Die Stadt scheint es den Australiern angetan zu haben, auch wenn ihre Zeit hier zwischen 2006 und 2007 finanziell und persönlich prekär war; teilweise gab es Streit darum, wer ein Ei essen dürfe.

Auch die bei aller Internationalität der Stadt dennoch vorhandene Sprachbarriere war ein Problem. Der Versuch, dem mit einer neuen Art Bulimie-lernen zu begegnen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt: „Wir nahmen eine Menge Speed und versuchten, Deutsch binnen einer Nacht zu lernen”, erzählt Nigel, „aber merkten, dass wir das Gelernte nicht abrufen konnten, wenn wir nicht wieder auf Speed waren.”

Dennoch kam der Umzug nach Berlin damals einer Offenbarung für die Band gleich. Jonnine befand die Stadt als intelligent, sexy, offen; unvergleichbar mit anderen Städten. Eine Veränderung zu damals haben beide wahrgenommen, Jonnine macht sie unter anderem am Stil der Menschen fest – früher hätten sie Stiefel und High Heels getragen, heute laufen alle in T-Shirts und Sneakern rum. 

Und die gestrige Show? Eine „großartige Energie” seitens des Publikums lobt Nigel. Angesprochen auf zahlreiche Rückkopplungen, die der intimen Atmosphäre eher zuträglich denn abträglich waren, grinst er zufrieden und stimmt zu, „es gab eine Menge guter Fehler” und fügt weiter an: „Die Show war alles andere als perfekt, aber gerade das mochte ich.” Auch Jonnine nahm die Show sehr mit, zum ersten Mal hätte sie sich beim Betreten der Bühne der Tränen erwehren müssen. Die andächtige Stimmung – die Band glich fast Salzsäulen, völlig konzentriert auf ihre Arbeit als Musiker, das Publikum hingegen gab sich vollends der Ehrerbietung hin – nahm sie „fast wie einen Kult” wahr.

Foto: Frankie Casillo

Zwischen Dubsounds und Gitarre

Das Konzert war auch eine Premiere ihres in derselben Woche veröffentlichten vierten Studioalbums Venus in Leo. Es stellt in vielen Bereichen einen Paradigmenwechsel für die Band dar. Während ihr fünf Jahre zurückliegendes Vorgängeralbum gänzlich auf den Klang der Gitarre verzichtete, sich neben Jonnines eigenwilligem Gesang in tonalen Versatzstücken aus Dubsounds und Ambient versuchte, fand Nigel auf dem neuen Langspieler zurück zur Arbeit mit dem Instrument. „Nach dem Tod Seans verspürte ich keinerlei Lust mehr darauf, Gitarre zu spielen, HTRK bestand bis dahin maßgeblich aus dem Zusammenspiel von Gitarre und Bass”, erklärt Nigel. Das 2014 erschienene Psychic 9-5 Club war massiv beeinflusst vom Freitod des Bassisten Sean Stewart. Zwar experimentierte die Band auch deshalb kurzerhand mit alternativen Ausdrucksformen zum klassischen Zusammenspiel von Bass und Gitarre, dennoch sperrte sie sich nicht gegen den Einfluss des toten Kollegen.

Der elektronische Sound des Vorgängeralbums war zudem auch eine Hommage an die Ausgehgewohnheiten der Band – ihr Leben in Europa war geprägt von Raves, Dubtechno und Jungle. Gerade die Szenen Londons waren große Inspiration zu ihrem Soundexperiment, das ihnen Vergleiche zu The XX einbrachte. Der zeitliche Abstand zum Verlust ihres Freundes und die akustische Veränderung ihres Umfelds weckten in Nigel aber auch wieder den Anreiz, die Gitarre in die Hand zu nehmen. Der Sound von Venus In Leo ist stark von der Rückkehr nach Australien geprägt. Melbourne, so Nigel, habe keine wirkliche Dubszene, elektronische Musik findet dort ebensowenig statt. Dominant sind hier vor Allem gitarrenlastiger Surf Rock, Barkultur mit Livemusik, Community Radios. Dementsprechend reduziert ist die Verwendung des Drumcomputers. Auch der Performance-Aspekt spielte durchaus eine Rolle, ihr Bühnenauftritt ist zwar bewusst reduziert, die reine Kombination von Akai MPC und Gesang war ihnen aber auch zu abstrakt, die Show sollte wieder physischer und unmittelbarer werden – „Wir wissen inzwischen, wie wir am besten sind.”

„Wir fühlen uns wieder wie eine Gang, eine Band. Und es fühlt sich gut an, das zu sein.”

Nigel Yang

Auf die Frage, wie viel Sean Stewart in der heutigen Version von HTRK ist, entgegnet Nigel „Er wird stets ein Teil der Band sein, weil seine Ideen zu unserer Musik stets von starker Meinung waren”. Jonnine habe sich stets gefreut, wenn er, dessen Geschmack vor allem dem Dreckigen und Verruchten zugeneigt war, ihre Lyrics mochte. In gewisser Weise seien sie eine zweieinhalbköpfige Band. Neben dem Einfluss Stewarts gibt es regelmäßige Zusammenarbeit mit langjährigen Partner*innen, die bei der Produktion und Musikvideos helfen. Regelmäßigkeit ist ihnen wichtig, denn „wenn Menschen dich und deine [musikalische] Welt sehr gut kennen, funktioniert die Arbeit ohne viele Worte”, entgegnet Jonnine. Auch Nigel bekräftigt, dass diese Familie an Unterstützern eine Art Mitglied sei, sie aber als Zweiergespann letztlich gut funktionieren – „Wir fühlen uns wieder wie eine Gang, eine Band. Und es fühlt sich gut an, das zu sein.”

Dieses Wieder beinhaltet nicht nur die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, es ist viel passiert in dieser langen Pause. Fünf Jahre liegt ihr vergangenes Album zurück. In dieser Zeit produzierten die beiden einen Filmsoundtrack, Jonnine hatte andere Engagements wie zum Beispiel die Arbeit als Kreativdirektorin bei der Melbourne Fashion Week 2017. Außerdem wurde Nigel wurde 2017 Vater, was ihm seither einiges an Zeit abverlangt. Beseelt lässt er durchscheinen, dass er in seiner Vaterrolle aufgeht. Auch räumliche Trennung hinderte erst einmal die Entstehung des neuen Albums, ehe Nigel 2018 von Sydney zurück nach Melbourne zog. Druck verspürten sie aber nicht: „Wir haben den Luxus, Alben erst dann rausbringen zu können, wenn sie aus uns herauskommen. Wir haben nichts erzwungen und es einfach geschehen lassen, in diesem Fall dauerte es vier Jahre.”

Neue Prozesse fürs neue Album

Das Gespräch dauert inzwischen weit über 20 Minuten, die anfangs gehetzte Jonnine liegt sichtlich entspannt in einem Rattansessel und unterbricht kurz, sie müsse ihrer Verabredung ihre Verspätung mitteilen. Mit etwas Verspätung wechselt das Thema nun zu ihrem Gesang, bzw. ihren Texten. Auf Psychic 9-5 Club verwandte sie tatsächlich viel Wikipedia als Inspirationsquelle, suchte nach bestimmten Begriffen und vergrub sich in weiterführenden Artikeln, „ich mag es, Songs thematisch recht dicht zu gestalten”. Venus In Leo wiederum beinhalte mehr Storytelling, ein übergreifendes Narrativ, ein Großteil der Texte befasst sich mit der persönlichen Vergangenheit Jonnine Standishs, so zum Beispiel dem Haus ihrer Kindheit oder ihr ambivalentes Verhältnis zu Weihnachten und Neujahr.

Auch in der Produktion hat die Band sich gewandelt, am Anfang stehen meist der Beat oder ein Gitarrenriff als Gerüst, der Gesang entstand daraufhin als reine Melodie, die die Sängerin erst später mit Worten füllte. Während die Lyrics vorheriger Alben noch auf Tage- und Notizbüchern basierten, hatte sie für die neuen Produktionen keine einzige Zeile geschrieben, sowohl Stücke als auch Texte gingen aus den Jamsessions zum Album hervor. Auf „Into The Drama”, dem Introtrack, übernahmen sie das Gemurmel der Demoversion gar für die letzten Sekunden des endgültigen Tracks, die wortlose Melodie war letztlich harmonischer als der Text.

Foto: Frankie Casillo

Der Aufnahmeprozess des Albums sei tatsächlich auch nicht allzu unterschiedlich von ihren Live-Auftritten gewesen, erzählt die Band. Für die endgültige Aufnahme brauchten sie nur wenige Takes, insgesamt wurde das gesamte Album mit Gedanken an die Bühne entwickelt. Im Studio wie auch live kommen sie mit wenig Geräten aus: Der Sampler Akai MPC Live liefert Basslines und die reduzierten Beatgerüste, die Nigel zuvor im Studio einspielte. Untermalt von Jonnines Lachen gesteht Nigel ein, dass er eigentlich nur auf Start und Stop drückt, die eigentliche Aufmerksamkeit gilt dem Instrument. Während Jonnine sich live rein auf den Gesang konzentriert, spielt Nigel Gitarre, einzig ein Effektpedal loopt diverse Riffs.

Noch einmal wendet sich das Gespräch auf Berlin, auf die Nachfrage nach deutschsprachigen Soundschnipseln in Work (Work, Work) hin erzählen sie von den wenigen Hinterlassenschaften Sean Stewarts, seinen Emails und den zahlreichen Soundaufnahmen, die er in seinem Berliner Zimmer gemacht hatte. Damals hatten sie alle die Angewohnheit, oft den Fernseher laufen zu lassen, ohne sich wirklich dem Programm zu widmen – des Nachts bekamen sie allzu oft die schier endlosen Werbeblöcke für Telefonsexhotlines mit, deren Anpreisungen für fremdsprachige Menschen, so Nigel, durchaus exotisch klängen. Auch die typische Hintergrundmusik dieser Werbeblöcke, die ebenfalls Inspirationsquelle des Genres Vaporwave sind, nahm er mitunter als gut produziert und teils emotional wahr, obwohl sie eigentlich stets nur als Hintergrundbegleitung gedacht war.

Foto: Frankie Casillo

Rückblickend fasst er die Zeit in Berlin mit „Sex, Hedonismus und Entbehrung” zusammen, es werden persönliche Episoden und Kehrseiten der Hauptstadt ausgetauscht. Jonnine bekennt, insbesondere der Winter sei ihr zu viel gewesen, mit seiner Isolation und der vielen Zeit, die im Inneren verbracht werde, vor diversen Bildschirmarten. Teilweise, so Jonnine, „war kaum jemand auf den Straßen, alles wirkte wie leergefegt. Beim Blick aus dem Fenster sah ich nur Dunkelheit und Schnee, niemand war unterwegs.”

Dennoch, vielleicht auch auf die Versicherung hin, der Winter hier sei inzwischen bei weitem nicht mehr so unbarmherzig wie vor zehn Jahren, erwägen beide, wieder nach Berlin zu ziehen. Jonnine findet, die Stadt fühle sich nicht mehr wie eine Transitstadt an, sondern eher wie ein Ort des Verweilens, des Niederlassens, an dem Familen gegründet und Kinder großgezogen werden, reich an Farben und Natur.

Ich glaube, ich habe inzwischen Frieden mit der Liebe geschlossen

Jonnine Standish

Ziemlich versöhnliche Töne für die Stimme einer Band, deren Musik vor allem von tiefer Melancholie gezeichnet ist. Die zudem einst in einem Interview versicherte, nie über Liebe schreiben zu wollen. Oder tut sie das inzwischen doch? Immerhin fühlen sich „You Know How to Make Me Happy” und „New Year’s Eve” durchaus wie Liebeslieder an. „Ich glaube, ich habe inzwischen Frieden mit der Liebe geschlossen” entgegnet Jonnine lachend, und gibt zu, dass „You Know How to Make Me Happy” definitiv eine Art Liebeslied sei. Gleichzeitig findet sie es aber unheimlich schwierig, zu einem solch breitgetretenen und populären Thema einen guten Song zu schreiben, lieber behandle sie Themen, die weniger gängig sind.

Und was HTRK nun vorhat, bei all den positiven Einflüssen und Gefühlen? Den Moment leben, und sich gänzlich dem Album, der Tour und ihren Shows hingeben. Einen weiteren Filmsoundtrack haben sie auch bereits in Planung; dennoch geloben sie, sich alsbald wieder an neue Songs zu setzen. Lachend schließt Jonnine ab: „Eigentlich bevorzugen wir es, nicht schon wieder so eine lange Pause zwischen unseren Alben entstehen zu lassen, aber wir sind HTRK, wir können für nichts garantieren.”

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