Früher lernten viele die elektronische Musik über FM-Radiosender kennen. Robert Hood etwa erfuhr erst durch Radiohosts wie Electrifying Mojo, dass diese Art von Musik überhaupt existiert, und frühere Generationen von Groove-Leser*innen wurden durch die HR3-Clubnacht mit Sven Väth an Techno herangeführt. Die digitale Revolution des 21. Jahrhunderts hat eine neue Form von Radio hervorgebracht – das Web-Radio. Diese Wende hat eine neue, kollaborative Kommunikation zwischen Radiomacher*innen und Community ermöglicht. Über das Internet verbreitet sich der musikalische Underground über lokale und nationale Grenzen hinweg und bringt Gleichgesinnte zusammen.
Wie sieht die moderne Radiolandschaft im deutschsprachigen Raum aus? Welche Erfolgsmodelle und Formate haben sich bereits etabliert? Wie wirken die lokalen Musikszenen und Radios aufeinander und was entsteht daraus? Im Rahmen unserer Serie Web-Wellen haben wir diese Fragen sieben Webradios aus dem deutschsprachigen Raum gestellt. Tune in!
Wer Kulturschaffende*r in und um Frankfurt am Main ist, dem*der ist Radio X unweigerlich ein Begriff. Das unabhängige, werbefreie Radio existiert offiziell seit 1997 und wird von über 400 ehrenamtlichen Bürger*innen 24 Stunden täglich mit unterschiedlichstem an kulturellem Angebot gefüttert. Das Programm reicht von fremdsprachigen Sendungen über informative Magazine mit lokal-kulturellem, politischem und wissenschaftlichem Fokus. Wir haben mit Antje-Maya Hirsch, Kopf der DJ-Nacht, und Sevo Stille, Gründungsmitglied und Radiomacher, über die Entstehung des Radios und seine kulturelle Relevanz für Frankfurt und Region gesprochen.
Vom Piratensender zum Partizipationsprojekt
Radio X war ursprünglich, ganz nach Punk-Attitüde, ein Piraten-Radio. Die erste Sendung fand 1987 zur Documenta und später zur Frankfurter Buchmesse und am Portikus der Städelschule (offiziell als “Sendeversuche des hr” deklariert) statt. Bis zur Etablierung mit erstem eigenen Studio im Jahr 1996/97 durchlief das Radio eine schwierige Anfangsphase, da in Hessen die politischen Rahmenbedingungen keine Alternativsender zuließen. Lange Zeit war das Kernteam von Radio X in Frankfurt eher Veranstalter von Parties, Konzerten und Ausstellungen, und on Air nur in Gastsendungen bei Radios außerhalb Hessens vertreten, z.B. bei Radio Z Nürnberg, LoRa Zürich und vor allem Radio 100 Berlin, bis letzteres von einer Chartradio-Kette übernommen wurde. Als das Mediengesetz in Hessen novelliert wurde und nichtkommerziellen Lokalfunk zuließ, war der nächste Schritt zum eigenen Studio, um die Dinge nach persönlichem Gusto anzugehen, nicht mehr weit.
Auf die Frage hin, wie sich die Identität von Radio X zusammensetzt, sagt Sevo ganz klar: „Wir sind keine Beobachter*innen kultureller Ereignisse, sondern bieten eine Plattform für Partizipierende der kulturellen Szene. Das können Künstler*innen und Musiker*innen sein oder Menschen vom Theater.“ So stieß auch Maya zum Team. Sie kam durch befreundete Künstler des Saasfee* Kollektivs zu Radio X. „Das Konzept ‘Radio X’ besteht darin ein Rahmen von Aktiven zu sein, aus dessen Dynamiken heraus ein Programm entsteht. Sowas wie eine zentrale Redaktion gibt es nicht. Wir geben nichts vor.“ Sendungsmacher*innen kuratieren selbstständig Sendungen und gemeinsam wird im Plenum über Sendungszeiträume, Ideen etc entschieden. Auch im Raum Frankfurt finden immer wieder Radio X Veranstaltungen statt, die sowohl der Finanzierung dienen, als auch dem Beitrag zur Kultur.
Eine Insel für die einstmals blühende Subkultur Frankfurts
Die Szene und damit natürlich auch das Gesicht von Radio X verändert sich ständig. Maya und Sevo sehen die Veränderung der Frankfurter Subkultur(en) ambivalent. „Wenn man es mit Früher vergleicht, ist das Gehen sicher deutlicher geworden. Früher blieb man noch in Frankfurt hängen, mittlerweile ist es eine Durchlauf-Station geworden, weil es eine teure Stadt mit einem sehr begrenzten Markt ist. Offenbach am Main ist da noch etwas jünger und nicht ganz so stark gentrifiziert. Dort gibt es die Hochschule für Gestaltung Offenbach und das Robert Johnson, die für kulturelle Diversität sorgen.“ Im Gegensatz zu früher, als Frankfurt noch eine blühende Stadt für Subkultur war, ist jetzt kaum noch etwas übrig davon, da nur spärlich etwas getan wird um kulturell Interessierte zu halten und ihnen Möglichkeiten zu bieten. Deshalb ist eine Insel wie Radio X umso wichtiger für eine Stadt wie Frankfurt. Dennoch gibt es ein paar Leute und Crews, die dem entgegenwirken, wie zum Beispiel die Girls Crew „GGVybe“, die sich in einer Mischung aus Hip Hop, RnB und Jersey Club, aber auch experimenteller Clubmusik zusammentun und mit “Vice Versa” regelmäßig DJ- oder Graffiti-Workshops organisieren, um vor allem Frauen und sich als LGBTQI+ definierende Personen zu unterstützen.
Maya leitet die Sendung „X-Fade die DJ-Nacht“. Seit der ersten Sendung läuft jeden Abend von 23:00-02:00 Uhr ein Live-Set von wechselnden DJs, und das sieben Tage die Woche ohne je eine Unterbrechung. Die Sendung gibt es auch schon seit den Anfängen und entstand aus einem einfachen Grund: Es gab viele DJs und alle hatten Bock aufzulegen. „Wenn das Wort allmählich abstirbt, ist die logische Konsequenz, die DJs an die Plattenteller zu lassen“, so Sevo. Das Konzept hinter X-Fade ist es vor allem, und das ist ganz wichtig unterstreicht Maya, Locals zu unterstützen. „Wir könnten auch aufgezeichnete Mixtapes oder vorproduzierte Sets von DJs aus aller Welt bei uns laufen lassen, aber das ist nicht das, was wir mit X-Fade bezwecken wollen.“ Das kleine Studio 2, aus dem X-Fade gesendet wird, soll eine Begegnungsstätte für DJs sein. Jede*r DJ darf Freunde mitbringen, es darf geraucht werden und ein kleiner Getränkeautomat sorgt für Erfrischung. Das schafft eine ganz intime Wohnzimmer-Atmosphäre, in der dann auch die besten Ergebnisse entstehen. „Manche muss man heute noch im Zaum halten, dass sie nicht die ganze Nacht durch spielen“, sagt Maya und muss dabei herzlich lachen. Trotz des Fokus auf die lokale Szene gibt es auch ab und an einmal internationalen Besuch, wie zum Beispiel von Theo Parrish, der auch zu Hause in Chicago lokale Radio-Sender unterstützt. „Das war mein persönliches Highlight“, sagt Maya stolz.
Ständige Veränderung trotz fester Sendefrequenz
Obwohl Radio X im Vergleich zu unseren anderen Features etwas mehr von der alte Schule ist (und auch die einzige Radio Station mit fester Sendefrequenz), versuchen sie doch junge Künstler*innen und Musiker*innen zu unterstützen, wo es nur geht. Sei es nun mit der Leitung eigener Sendungen, der Kuratierung von kulturellen Veranstaltungen oder einem Set bei der DJ-Nacht. Mit Beständigkeit hat es Radio X dorthin geschafft, wo es heute steht. Entgegen der eigentlichen Bedeutung des Wortes, ist es aber die ständige Veränderung, die die Identität und damit die Kontinuität des Frankfurter Kultur-Radios ausmacht.