Foto: Mai Nestor.
Silvia Jiménez Alvarez alias JASSS ist Soundkünstlerin durch und durch: Als DJ ist sie auf den Bühnen der Welt unterwegs, als Produzentin hat sie auf Anunnaki Cartel, Mannequin und iDEAL intime Avantgarde-Sounds in dubbig angehauchter Techno-Manier veröffentlicht, und darüber hinaus partizipiert sie an audiovisuellen Performances. So facettenreich ihr Auftreten ist, so mannigfaltig und tiefgründig sind ihre Mixe, die keine Genregrenzen kennen. Mit ihrem singulären Gespür für Genrekonglomerate beeindruckt sie aktuell die Clubszene. Franziska Finkenstein hat die Spanierin getroffen.
Es ist einer dieser grauen, kalten, nassen Tage in Berlin, an denen man entweder im Bett liegen bleiben oder in ein gemütliches Café gehen und dem andauernden Regengeplätscher, vor sich hin kontemplierend, zugucken möchte. Ich allerdings treffe mich an jenem Tag mit JASSS – der Künstlerin, deren Musik passenderweise eine sehr ähnliche Ästhetik wie die trüben Straßenecken Neuköllns transportiert. An der Oberfläche wirkt alles rougher und trostloser als sonst, man findet aber in jeder Ecke ein kunstvolles Graffito oder sympathisches Café, die den Straßen ihren besonderen, emotionalen Charme verleihen. Das ist mein Gefühl, als ich zum Interviewtermin laufe und noch mal in JASSS‘ Debüt Weightless reinhöre. Die Sounds sprudeln vor Roughness und den Schatten der Lebenslaster vor sich hin. Kraftvolle Drone- und Industrialeinflüsse treffen da auf ernste, menschliche Tristesse.
Da betritt die Künstlerin in ihrem langen Ledermantel den Raum. Silvia wirkt bedacht und entspannt cool. Ihre tiefe, verrauchte Stimme verraten ihre langen Arbeitsnächte im Berghain, BLITZ oder Drugstore Beograd. In ihrer Freizeit gehe sie dafür so gut wie nie auf Partys, immer nur, wenn sie dort spielt. So stelle ich mir JASSS auch vor: sich dem Trubel der Stadt entziehend, Zuhause entspannt sitzend und konzentriert arbeitend.
Aktuell ist die Spanierin eine aufstrebende Figur in der elektronischen Musikkultur und als gefragte Künstlerin in den Clubszenen der Stadt und der Welt angekommen.
„Mixe zu machen, gibt mir Energie“
Ob FACT, Crack Magazine, Solid Steel Radio oder kürzlich Dekmantel – sie alle wollen in das unergründliche Musikrepertoire der DJ einen Blick werfen. Musikalisch begibt sie sich beim Mischen gerne in düstere Tiefen elektronischer Klangwelten, die von Drone, Industrial oder EBM beeinflusst sind hin zu Noise, Experimental, Jazz und Dub. Dabei hält JASSS nichts von Genre-Kategorien. Nicht, weil sie keine Kategorien mag, sondern weil sie selbst nie daran beim Entdecken und Stöbern gedacht hat. Bei ihr war und ist „alles komplett ungeordnet.“ So sind ihre Mixe ein extremes Konglomerat, die fein ausgewählt aus der Unordnung entstehen. Dabei klingen sie aber nie zu abstrakt. Sie sind fassbar und im Großen und Ganzen clubtauglich. Das haben sie ihrem emotiven, melodiösen Charakter zu verdanken, der das Publikum catcht.
Stream: JASSS – Dekmantel Podcast 217
„Mixe zu machen, gibt mir Energie,“ sagt Silvia Jiménez Alvarez, die in der spanischen Kleinstadt Pola de Siero (nahe Oviedo) mit den Jazz- und Psychedelic-Platten ihrer Eltern und draußen mit Punk und Hardcore aufgewachsen ist. An Musik und somit mehr Energie zu kommen, war nicht immer einfach. „In meiner Heimat gab es keine richtige Musikszene. Es gab vielleicht eine Person, die Dubstep gehört hat.“ Die Möglichkeiten, mehr zu entdecken in einer Gegend, in der der Zugang zu den Facetten von Musik schwierig bis gar nicht möglich erscheint, weil keine Szene da ist, sind begrenzt. „Wenn Du als Underground-Musikfan etwas auf die Beine bringen wolltest, hat sich dir alles entgegengestellt. Das war tough.“ Die Engagierten erscheinen somit als „isolierte, sich abmühende Charaktere“. So waren die Optionen, dort mehr Musik zu entdecken und damit künstlerisch was zu machen für die junge Silvia irgendwann ausgeschöpft. Ihr erster Zugang zu den Facetten elektronischer Musik bot sich durch die Festplatte ihres zehn Jahre älteren Kollegen, mit dem sie in einer Bar arbeitete, wo sie ab und zu selbst spielte. Nachdem sie die Musik durchgediggt hatte, intensivierte sich ihr Musikdurst. Sie wollte mehr erleben. „Alles lebt in deiner Imagination. Wie sieht die Welt da draußen wohl aus?“ Der einzige Weg war also, fortzugehen.
Fremdartig in der Metropole
Für Silvia war schnell klar, dass sie aus der Stadt ausbrechen und Neues sehen und erkunden wollte, um ihre künstlerischen, aber auch persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen. In Amsterdam fand sie einen musikalisch florierenden Ort, der ihren Durst nach mehr zunächst stillen sollte. Dort lernte sie gleichgesinnte Musikliebhaber*innen kennen, die rund ums De School und Rush Hour Records herumtobten, sich auch für die Sounds aus der ganzen Welt interessierten. Anschließend folgte Berlin, wo sie jetzt seit sechs Jahren lebt. Für die eigene (musikalische) Entwicklung erschienen die Umzüge nur logisch. „Ich liebe mein Zuhause, aber es ist wirklich komisch, wenn du merkst, dass du eigentlich woanders hingehörst, dass du eine andere Mentalität besitzt.“ Berlin bietet bei diesem Ausbruch ein inspirierendes Biotop und ein neues Zuhause. 2015 beginnt dort ihre DJ-Karriere. Sie spielt in der Griessmuehle und im Humboldthain. Es folgen OHM, Berghain und Tresor. In dieser Zeit entdeckt sie auch das eigene Produzieren für sich. Ihr Sound ist frisch und düster. Sie experimentiert mit den Möglichkeiten des technoiden Clubsounds. „Wenn der Tag mehr Stunden hätte, würde ich noch mehr machen und ausprobieren.“ So hungrig ihre künstlerischen Bedürfnisse sind, so kraftvoll und ideenreich klingt ihr Output.
„Schätze die Schönheit von dem, was du machst.“
Obwohl die Hauptstadt so reich an Szenen und inspirierenden musikalischen Einflüssen für JASSS ist, kann es doch auch am künstlerischen Ego zehren, wenn so viele musikalische Gruppen aufeinandertreffen. Wie geht JASSS mit so viel Input um, frage ich sie. Es fühle sich manchmal „fremdartig“ in der Metropole an, weil sie so ohne diese Szenenvielfalt aufgewachsen ist. Ist es dann umso schwieriger, Authentizität zu bewahren? Silvia antwortet mit ihrer tiefen, kraftvollen Stimme: „Blicke einfach nicht zu sehr um dich herum. Lass dich nicht zu sehr von der Arbeit anderer beeinflussen.“ So wie sie schon früher in ihrem Heimatort ihr Ding gemacht hat, macht sie das jetzt noch immer. Auch wenn JASSS sich nun von einer der zyklischen Suggestionswellen mitreißen lassen könnte, trotzt sie dieser Flut. Sie scheint eine starke Einzelgängerin in ihrer Welt zu sein, so wie sie es Jahre zuvor schon war, als sie sich allein auf die Suche nach ihrem Platz begab, ohne ein spezielles Ziel vor Augen zu haben. Auch in ihren Produktionsweisen gibt es nicht eine Variante, die eine Weise mit einem bestimmten Ziel für JASSS. „Es gibt dieses eine Gefühl, was am Anfang da ist, und daraus entsteht etwas. Der Prozess an sich ist nur halb bewusst gesteuert, weil ich nach etwas Undefiniertem suche.“ Für sie ist es eine Art metaphysischer Prozess, der losgelöst ist von Zeiten und Eindeutigkeit. Sie lässt sich in den vielfältigen Klängen treiben, die zwar gesteuert sind, aber kein konkretes Ziel haben.
Foto: Mai Nestor
Es mag nach einer Küchenweisheit klingen, aber für ihre artist persona ist es eine essentielle Philosophie: „Schätze die Schönheit von dem, was du machst.“ Und wenn du zweifelst? „Dann ist das gut. Probleme sind gut. Im Leben stecken zu bleiben, ist gut, weil das Veränderung bedeutet, woraus etwas Gutes entsteht.“
Sounds of doubt
Für JASSS‘ Produktionen ist Zweifeln obligatorisch. Jedes Mal, wenn sie zweifle, hinterfrage sie parallele Realitäten, und diese seien inspirierend. „Wie viele Möglichkeiten hast du?“, fragt sie sich dann. „Wenn du überlegst, was besser oder anders sein könnte, kann dieser Zweifel, dieses Hinterfragen, durchaus etwas Positives und Produktives für mich sein.“ So war ihr erstes, „sehr persönliches“ Album Weightless auch vom Zweifeln an Entscheidungen geprägt. Über welche genau, möchte sie nicht verraten. Für das eigene Hörerlebnis ist das auch nicht unbedingt von Belang. Ihre Musik gibt uns selbst die Möglichkeit, dem eigenen Zweifel zu frönen. Während andere, clubtaugliche Musik den Zweifel ausräumen möchte, um etwaige Sorgen in Vergessenheit zu spielen, entziehen sich JASSS‘ Tracks einer klaren Hörvariante. Im besten Falle lässt sich jede*r einzelne Hörer*in von den Stücken anleiten, die eigenen Zweifel zu ergründen. Der Club wird so viel mehr zum Ort der Selbstreflexion als zu einem, der zur eskapistischen Loslösung vom eigenen Selbst dient.
Stream: JASSS – Oral Couture
Während der Spanierin die eigenen Soundkompositionen im Schaffensprozess Energie nehmen und diese Energie in dynamische Klangwelten umwandeln, die einen aus der Zeit reißen, fangen ihre Mixe einen neuen Zeitgeist ein. Sie sind wild, dogmenlos und strange und erinnern an (Genre-)Mixturen, die durch den Salon des Amateurs-Sound einen Platz im Clubkontext gefunden haben. Mit ihrem Umgang mit „Nischenmusik“ haben sie eine neue Tür in der Clubwelt geöffnet, die unsere bisherigen Hörgewohnheiten erweitert, strapaziert und umgestrickt hat. Dabei geht es um keine elitäre Komposition, ihre DJ-Sets transportieren die Andersartigkeit und bieten weitere Spielmöglichkeiten im Club und auf Festivals. Mit ihr und nach ihr folgte eine Reihe weiterer DJs, die experimentelle und abstrakte Musik auf den Dancefloor brachten. Das, was vorher noch als ‚speziell‘ und ‚strange from beyond‘ tituliert wurde, ist heute auf großen Bühnen, beispielsweise beim Dekmantel oder Melt!, angekommen.
Dort hat auch JASSS mit ihrem facettenreichen, experimentellen Sound endlich ihren Platz gefunden. Ihre düsteren Mixturen aus Industrial, Jazz, Techno und Noise nehmen diesen experimentierfreudigen Zeitgeist auf, der vor Jahren im Clubkontext noch zu abstrakt geklungen hätte, aber heute seine Berechtigung und vor allem seine Fans hat.