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Lunchmeat 2022: Wo Visuals mehr sind als Gimmicks

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Das Lunchmeat 2022 beginnt für mich am Mittwoch. Schon am Dienstag residierte Lee Gamble mit seinem Label UIQ im Ankali, neben dem Fuchs2 der interessanteste Club der Stadt, wie Einheimische versichern. Tanzbetrieb steht heute aber nicht auf dem Programm, Sitzen und Zuhören ist angesagt. Zwei Sets sind im CAMP, dem „Center for Architecture and Metropolitan Planning” im Zentrum der Stadt, geplant, hinter beiden findet sich im Programm in Klammern das Kürzel „AV live”. Keine Ausnahme, sondern eher die Regel auf dem Lunchmeat, das unter der Symbiose aus Bild und Ton mehr versteht als ein bloßes Gimmick.

Wie um diese These zu untermauern, tritt nun das Duo mit dem etwas seltsamen Namen Cloudhitects an. Die beiden finden sich neben einem überdimensionalen Bildschirm ein, der sage und schreibe 20 mal vier Meter misst, und wissen dessen Größe für sich zu nutzen. Über ihn flimmern leicht verschwommene, schwarzweiße Landschaften, deren Grobkörnigkeit die Schärfegrenzen zwischen fotorealistischer Darstellung und Videospiel aus den Neunzigern verwischt. Die Kamera bewegt sich durch Kirchen, über verlassene Baustellen, durch Parks. Das mutet in Einheit mit schrillen Glocken, dubbigen Chords und der ein oder anderen Kick hauntologisch an und verfehlt seine Wirkung nicht: Geisterbahnfahrt in Levitation.

Nach einer kurzen Pause, in der sich eine lange Schlange vor der einzigen Bar bildet und viele der Anwesenden eine Zigarette paffen, betritt Lucas Gutierrez die Szenerie. Für sein Set steht er vor der monströsen Leinwand, auf der sich allerlei geometrische Formen- und grelle Farbenspiele breitmachen. Visuell geht es hier abstrakter zu, musikalisch hingegen bewegen wir uns im Blaupausenbereich dessen, was auch in den nächsten Tagen in den Kellerräumen der Nationalgalerie, dem Hauptveranstaltungsort des Festivals, laufen wird: Breaks, Deconstructed-Club-Klänge und – sofern nicht anders gewollt – kristallklares Sounddesign. Gegen 11 geht die bestuhlte Berieselung zu Ende. Gut so, denn die nächsten drei Nächte werden hauptsächlich auf den Beinen verbracht.

Das mutmaßliche Headliner-Set am Donnerstag bestreiten JASSS und Videokünstler Ben Kreukniet, der – hat das schon mal jemand erwähnt? – bereits mit James Blake und Massive Attack zusammengearbeitet hat. Davon ausgehend macht eine Kollaboration mit der Spanierin Sinn, schließlich schlug diese auf ihrem Ostgut-Ton-Album A World Of Service, nach dem die Performance benannt ist, deutlich sediertere Töne an als noch auf Weightless oder dem Clubmonster „Turbo Olé”. Was auffällt: JASSS singt wirklich, wirklich gut, keine Selbstverständlichkeit für einen Club-gone-Pop-Act. „Camelo” beispielsweise reißt live durch ihren Stimmeinsatz besonders mit. Die visuelle Komponente des Auftritts hingegen – die Leinwand trennt eine waagerechte Röhre, die mal leuchtet, mal dunkel bleibt, in zwei Teile, JASSS steht manchmal vor der Leinwand, mal kümmert sie sich um die Musik – wirkt etwas hektisch.

Pan Daijing Lunchmeat 2022 by Press
Pan Daijing hängt vornüber (Foto: Presse)

Anders Pan Daijing, die im kleineren der beiden Räume, der mit Ausnahme der schwarzen Vorhänge und dem musikalischen Fokuspunkt einem konventionellen Club ähnelt, spielt. Sie kanalisiert das Morbide, beschwört aus den Nebelschwaden, die sie umgeben, eine unangenehme Spannung herauf. Dafür benötigt sie keine abstrakten Visuals, sondern stellt ihren Körper ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Parallel ertönen charakteristische Drones und Ambientflächen, Daijing verrenkt sich in ihrem altroten Zweiteiler, breitet gegen Ende ihres Sets die Arme aus und hängt ihren Kopf vornüber, als würde sie in einem Brunnen ertrinken. Dabei wiederholt sie dieselben verzweifelten Stichwörter immer wieder, von Weihnachten und Bäumen ist die Rede, der Saal zum Zerreißen gespannt. Dann Spannungsabfall, Applaus, Analyse des Gesehenen vor der Nationalgalerie. Vielleicht bei einem der Drinks, die, maximal albern, auf Namen wie „AI Bitch” (Über das diesjährige Festival wacht eine KI namens Molly) oder „Crazy Dancer” hören, sich dann aber glücklicherweise doch nur als normale Langgetränke entpuppen.

Lunchmeat 2022 Lobby by Jakub Dolezal
Die angemessen sterile Lobby im Erdgeschoss der Nationalgalerie (Foto: Jakub Doležal)

Auf eine löbliche, im weitesten Sinne gastronomische Maßnahme weisen tags darauf zwei etwas verlegen wirkende Tschech:innen hin. Der junge, unscheinbare Mann in Windbreaker-Weste und seine Mitarbeiterin schleichen über den Vorplatz und erklären Besucher:innen, bei denen sie das vielleicht für nötig halten, dass es im Erdgeschoss der Nationalgalerie eine Drugchecking-Möglichkeit und stets frische Früchte gebe. Definitiv ein Aspekt, in dem das Lunchmeat hiesigen Festivals voraus. ist. Der Drugchecking-Stand muss aber nicht in den höchsten Gang schalten, an einen entfesselten Rave nähert sich das Festival nur zu späterer Stunde an.

Paraaiso Lunchmeat 2022 by Eli Eliasek
Paraadiso lassen ihre Visuals für sich sprechen – mit Untertiteln (Foto Eli Eliásek)

Ancestral Vision, eine der größten tschechischen Nachwuchshoffnungen, klinkt um 21 Uhr erst mal verschrobene Breaks, Pop- sowie Hip-Hop-Tropen in blitzsauberer Ästhetik ineinander und erntet dafür, trotz des frühen Slots als Lokalmatador, zu Recht Applaus. Die folgenden Namen sind bekannter: TSVI und Seven Orbits kontrastieren als Paraadiso technoides Kick-Gewitter mit ans Kitschige bordenden, aber doch gelungenen Visuals. Besonders die für viele gar nicht sichtbaren Untertitel lassen jede Doppelbödigkeit vermissen und bieten mit emotionalen Botschaften Schutz zwischen dem audiovisuellen Meteoritenschauer, der sich auf Leinwand und Dancefloor ergießt.

Blackhaine Lunchmeat 2022 by Jakub Dolezal
Blackhaine bringt den schwarzen Hass (Foto: Jakub Doležal)

Blackhaine hingegen, der mit seiner Entourage den Clubraum fast komplett abdunkelt und sich wie ein geisteskranker Hüne mit Mikrofon durch den Raum, ins Publikum und wieder zurück auf die Bühne schimpft, zwingt den Zuschauer:innen seine ungefilterte Aggression auf. Großbritannien, das Leben, Drogen, zwischenmenschliche Beziehungen – alles hat vorrangig Schattenseiten. Eine willkommene Abwechslung im Programm, ein musikalischer wie visueller Kahlschlag, der die Aufnahmefähigkeit für rein elektronische Konzeptkunst wiederherstellt.

Cocktail Party Effect Lunchmeat 2022 by Eli Eliasek
Cocktail Party Effect und Jan Hladil bringen Dreiecke (Foto: Eli Eliásek)

Die liefern nun Cocktail Party Effect und Jan Hladil, die visuellen Trends mit anachronistischen Dreiecken eine Absage erteilen und musikalisch mit der wohl abgehacktesten Performance des Lunchmeat überzeugen. Karenn verzichten für ihr Liveset auf Visuals und köcheln die Stimmung im Amphitheater mit analogem Techno hoch, der, das muss man neidlos anerkennen, in Club- und Conceptronica-Settings gleichermaßen funktioniert und das Personal im Erdgeschoss nun womöglich doch ins Rotieren bringt.

Karenn Lunchmeat 2022 by Jakub Dolezal
Karenn hingegen beginnen bringen Rave-Programm am Freitagabend (Foto: Jakub Doležal)

Letzter Tag. In Holesovice, dem Künstler- und Studentenstadtteil Prags, in dem das Lunchmeat residiert, regnet es konstant, aber nicht heftig. Die Cafés hier wissen ihrem Publikum zu gefallen. In der Aufmachung ähnlich hip wie in Berlin, nur meist geschmackvoller eingerichtet, bieten sie Zuflucht vor dem mittlerweile tristen Wetter. Innen merkt man, dass sich an diesem kulturellen Standort was tut: Diverse Veranstaltungen und Festivals werden auf schnörkellos designten Plakaten beworben. Themen: Hyperrealismus, Simulation, Virtuelle Realität, Film. Das Lunchmeat in der Nationalgalerie, die ihrerseits mit hochkarätigen Ausstellungen aufwartet, befindet sich in bester Gesellschaft.

Sapphire Slows bespielt um halb 9 die Club Stage mit einem Liveset, zu dem, kein seltener Anblick um diese Tageszeit, das Publikum andächtig wogt. So ziemlich jede:r im Raum weiß: Das hier ist die Überleitung in eine weitere kräftezehrende Nacht. Die Musik der Japanerin gibt das her: Langsam baut sie ihre Tracks auf und haucht dazu Vocals ins Mikrofon. Dazwischen Pausen, in denen man das Gebrabbel der Menge vernimmt.

Holy Other NYX Lunchmeat 2022 by Dita Havrankova
Von Cap und Kapuze beschützt, von NYX begleitet: Holy Other (Foto: Dita Havránková)

Vom zwischendurch arg ambienten Pop geht es rüber in die Concert Hall, wo Holy Other & NYX & Pedro Maia spielen. Ersterer kündigte vor knapp einem Jahr nach neunjähriger Pause sein zweites Album Lieve an, auf dem Zweitere diverse Gesangsparts übernimmt. NYX steht im weißen Kleid auf der Bühne vor Maias uneindeutigen Visuals. Holy Other, Ende der Zweitausender und Anfang der Zehner ein populärer Vertreter des Witch House, beschwört in Latzhose und mit Kapuze über dem Kopf poppige, bedeutungsschwangere Melodien, die es so auf dem Festival noch nicht zu hören gab. Saxofone, Flüstern, und NYX’ klagende Vocals erinnern an Acts wie Croatian Amor oder Telefon Tel Aviv.

µ-Ziq Lunchmeat 2022 by Eli Eliasek
µ-Ziq und ID:MORA lassen die Maus tanzen (Foto: Eli Eliásek)

Mit tiefschürfenden Emotionen machen µ-Ziq & ID:MORA sowie der unbestrittene Headliner des Lunchmeat, Squarepusher, kurzen Prozess. Mike Paradinas zwirbelt die bis dato schnellsten Breaks aus seinem Setup, die visuelle Begleitung reicht von einer disproportionalen HÖR-Booth bis zu psychedelischen Grenzerfahrungen. Vom Abstrakten zum Konkreten und wieder Zurück, vor der Bühne zwei kleinere Bildschirme, die einen Puffer zwischen Künstlern und Publikum darstellen. Vielleicht die technokratischste Performance des Festivals, was die kristalline Sterilität der Musik noch untermauert.

Squarepusher 2 Lunchmeat 2022 by Jakub Dolezal
Squarepusher erzeugt Rock-Atmosphäre (Foto: Jakub Doležal)

Tom Jenkinson hingegen tritt als Rockstar auf, thront erhöht über dem Publikum in einer blinkenden Kulisse, einem Skrillex-Raumschiff für Arme, das wirkt, als hätte er es sich einfach nur hinstellen lassen, weil er es kann. Manisch klampft er zu irrsinnig schnellen Breakbeats mit höchst erfrischendem weil unvergleichlichem Acid-Einschlag, headbangt große Teile des Sets und grinst gierig ins Publikum. Sein Haar wogt im Takt, ein surrealer Scheitel gibt ihm die Aura eines verrückten Professors. Eine Gruppe junger Briten, die mir noch am Donnerstag mitteilten, sie seien extra für dieses Set angereist, kommt nun sicherlich auf ihre Kosten. Und, was soll man sagen: Jenkinson präsentiert sich derart im Saft, dass es der Crowd schwerfällt, Schritt zu halten.

Squarepusher Lunchmeat 2022 by Jakub Dolezal
Das Amphitheater tobt (Foto: Jakub Doležal)

Nach einer hastigen Zigarette ein letzter Besuch auf der Club Stage, wo Mumdance „Knights of the Jaguar” auf eine Weise spielt, wie man den legendären Underground-Resistance-Track nur selten gehört hat: Teils gezähmt unter Breaks, dann wieder entfesselt im Four-to-the-Floor-Modus. Eine Geste mit Signifikanz fürs Lunchmeat: Das Festival setzt zwar relativ kompromisslos auf die visuelle Ebene, um einen künstlerischen Mehrwert zu erzeugen, verliert den Rave, besonders in den Abendstunden, aber nicht aus den Augen.

Der Anschauungsunterricht, dem das Lunchmeat sein Publikum unterzieht, fruchtet. Geduldig setzen sich Besucher:innen mit den Performances auseinander, nicht nur, weil sie wissen, dass sie dafür in der Regel entlohnt werden, sondern weil die visuelle Komponente von vornherein zum Festival gehört. Im weiten Feld der elektronischen Avantgarde-Veranstaltungen ist das Lunchmeat damit eine Anomalie: Es hechelt dem grassierenden Visual-Fetisch, der in den letzten Jahren immer stärker aufkam und von Künstler:innen wie von Konsument:innen zu Recht kritisiert wird, nicht hinterher, sondern erachtet ihn als selbstverständlich, als untrennbar mit sich verbunden. Also: Ein Festival ohne aufgesetzte Gimmicks, das auch in dieser Ausgabe vollumfänglich überzeugte.

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