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Zeitgeschichten: Chicago 1995

Dance Mania, Cajual, Relief und Curtis Jones

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Deeon, Slugo und Milton von Playground Productionz holen mich bei Barney’s Records ab. Sie gehören auf Dance Mania neben Leuten wie Jamin’ Gerald oder Parris Mitchell zu den momentan aktivsten Vertretern des von DJ Funk initiierten Ghetto-Stils. Wir fahren zum Büro ihrer neu gegründeten Firma „Low End Entertainment“, die die beiden Labels Freak Mode und Underground Madness vereinigt. Eine Bassbox, die fast den ganzen Kofferraum des Wagens ausfüllt, pumpt uns die butterweiche Kickdrum eines gerade fertiggestellten Tracks in den Rücken, und schon kann auch mein erstes Missverständnis geklärt werden: „Nein, das ist keine original Roland TR-808 auf unseren Tracks, du hörst nur ihre gesampelten Sounds aus der R70. Die wird von den meisten Produzenten der South Side verwendet. Wir haben zwar eine 808, aber die ist doch zum Produzieren viel zu unpraktisch.“ Im Vorraum des Büros stehen die Boxentürme des eigenen Soundsystems. Weil ihre Musik in den Clubs nicht gespielt wird und ihr eher jugendliches Publikum dort auch noch gar keinen Zutritt hat, sind sie auf selbst veranstaltete Partys angewiesen. Gern würden sie auch mal nach Europa zum Auflegen kommen. Ein wenig neidisch ist man da auf die Leute von Relief Records schon. Das eigentliche Büro ist ein winziger mit Fax und Computer ausgestatteter Raum. Hier ist alles picobello aufgeräumt. Es ist der ganze Stolz der drei.

Chicago ist doch eher die House-Music-Stadt als New York. Das soll jetzt nicht heißen, dass der Streit über den Ursprung von House Music auf einmal zugunsten der Windy City entschieden wäre, auch wenn sich, wie ja hinlänglich bekannt ist, der Name von der Chicagoer Diskothek Warehouse herleitet und dir jeder dort das als erstes erklärt – Originalton Cajmere: „House Music comes from Chicago!“ Nur beherrscht House Music in Chicago mit einer Ausschließlichkeit alle Tanzflächen, die man in New York, der Geburtsstadt von HipHop, nicht findet. Cajmere beschreibt das so: „Du fährst in deinem Auto und hörst dabei irgendwelchen R’n’B oder Rap oder was auch immer. Das ist cool, aber in Chicago: Gefeiert wird hier mit House Music. Das ist es, was die Party in Gang hält, denn die Leute hier lieben es zu tanzen!“ Er meint damit Bewegungsabläufe, bei denen sich die Wildheit Breakdanceartigen Umherspringens mit der Anmut und Eleganz von Ballettfiguren mischt und deren vorherrschendes Element die Drehung um die eigene Körperachse ist.

Vor allem geht es dabei aber um das Freisetzen von Energie. Früher nannte man das „Jacking“. „To jack findet man auch in jacking off wieder, was so viel wie masturbieren bedeutet“, erklärt mir ein Mitarbeiter von Cajual Records. „Jeder kann das tun. Es ist eine Art, seine Energie freizusetzen. Wenn du feierst und die Musik hörst, fängst du an zu jacken. Du tanzt. Du wirst verrückt. Du verlierst den Verstand und lässt alles raus.“ Hier macht er auch den Hauptunterschied aus zwischen House Music aus Chicago und aus New York: „In New York wollen die Leute eher swingen. Hier willst du ausgehen und deinen Scheiß loswerden. Ich denke, in unserer Musik ist mehr Energie, auch in den Vocal Tracks. Nicht mehr Soul, aber mehr Funk. Aus New York kommen eher schöne Stücke. Die haben nicht den ganzen Funk, nicht die ganze Energie. Viel Bass. Verstehst du?“ Die beiden zurzeit wichtigsten Houseclubs der Stadt heißen Red Dog und Shelter. Doch ein wenig zu meiner Überraschung war das Programm dort eher disco- und vocalorientiert, natürlich aber auch ziemlich gut. Doch nicht „tracky“, also nicht das, was man unter dem neuen Chicago-Sound in erster Linie versteht. Die Tracks auf Relief Records oder Dance Mania sind die Musik der größtenteils illegalen Partys, die auch von einem Publikum unter 21 Jahren besucht werden dürfen, da dort kein Alkohol ausgeschenkt wird. Mit „Flash“ hat Cajmere zu dieser Szene seinen ironischen Kommentar abgegeben: „Ich sah all die Kids am frühen Morgen auf diesen Partys rumhängen und habe mich immer gefragt, wo ihre Eltern sind. Denn die wären sicher schockiert, wenn sie sehen könnten, was ihre Kinder treiben. Also dachte ich, es wäre ein Spaß, eine Gruppe dieser Eltern zu so einer Party mitzunehmen.“

Neben Alkohol, Cannabis und E wird vor allem Lachgas konsumiert. Überall sieht man Leute an riesigen Ballons nuckeln. Das hat etwas sehr Infantiles. Der Typ, bei dem ich wohnte, schaffte es tatsächlich, mehrere Tage mit einem Ballon auf dem Schoß abzuhängen und fernzusehen. In einer Gegend mit vielen Cafés und Secondhandläden auf Chicagos Nordseite findet man Gramaphone Records, den Lieblingsplattenladen der Chicagoer Houseszene. DJ Sneak und Derrick Carter arbeiten hier als Verkäufer. Das Angebot enthält alles, was Chicagos House-Music-Tradition ausmacht. Neben den Regalen mit House gibt es umfangreiche Disco- und Electropop-Abteilungen. Viele der alten Titel aus den 70er- und 80er-Jahren werden als Bootleg wiederveröffentlicht. Man ist sich seiner Verantwortung bewusst.

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