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Zeitgeschichten: Marshall Jefferson

30 Jahre Acid House

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Wie fühlt es sich heute an, ein Musikgenre erfunden zu haben?
Ach, es ist schon verrückt. Du machst einen Song, er wird groß und sie nennen seinen Stil Acid House. Dann schreibst du einen neuen Song und er wird Deep House genannt. Das fand ich immer komisch. Für mich war alles immer House und die Kategorisierungen haben mich enttäuscht. Zudem hätte ich mir gewünscht, dass sich mehr wirkliche Musiker für House interessiert hätten und die Musik mit weiterentwickelt hätten. Und ich finde es rückblickend auch schade, dass es damals, als sich der Stil herausbildete, keine weiblichen Produzentinnen gab. Die meisten DJs, die damals auch als Produzenten tätig waren, hatten keine künstlerische Vision. Die haben einfach nur einen Keyboard-Player gemietet und gesagt: „Spiel diese Hitplatte nach!“ Und solche Leute haben House weiter populär gemacht, was für mich auch dazu geführt hat, dass sich House nur begrenzt entwickeln konnte. Wir hatten ja unseren Stil. Du kannst mich klar von Steve ”Silk“ Hurley unterscheiden. Und er klingt wieder anders als Larry Heard. Der wiederum klingt anders als Farley ”Jackmaster” Funk. Und Farley anders als Chip E. Wir hatten alle ein eigenes Feeling. Wenn die ganzen copycats mit ihren gemieteten Produzenten wenigstens gesagt hätten: „Spiel wie Elton John oder Stevie Wonder!“ Ich dachte immer: Ist das Dummheit oder Faulheit? Klar, ich habe simple Sachen gemacht, aber du kannst sie nicht kopieren.


Stream: Marshall Jefferson – I’ve Lost Control (House Side)

Gibt es ganz besondere Dinge, die du mit Hits wie „Open Your Eyes“ oder „I’ve Lost Control“ verbindest?
Ja, und ganz unterschiedliche. Ich war zum Beispiel mal in Köln auf der Popkomm und traf Dr. Motte. Er kam zu mir und sagte: „Ich habe immer deine Musik gehört. Mit Freunden hörten wir ‚Open Your Eyes‘ und alle im Raum haben Liebe gespürt. Wir haben dann mit 150 Leuten eine Parade abgehalten und sie ‚Loveparade‘ getauft.“ Zu der Zeit erzählte er mir aber auch von einem Space Teddy, der ihm Nachrichten schickt. Ich dachte nur: Aha, ok. Ein paar Jahre später wird die ‚Loveparade‘ immer größer. Ich konnte das nicht glauben. Das war ein tolles Gefühl, weil mein Song Liebe verbreiten sollte. Und das tat er. „Open Your Eyes“ ist für mich ohnehin ein sehr inspirierender Song. Byron Stingily von Ten City hat mir einst die Lyrics diktiert. Wir saßen zusammen und er sagte: „In the beginning there was paradise, but man foolished man, wanted more out of life.“ Und als er das sagte, dachte ich nur: Das wären geniale Lyrics für einen Song. Ich bin dann nach Hause und habe mit dem Satz im Kopf alles komponiert. Am nächsten Tag habe ich es Stingily vorgespielt und er meinte:
„Was ist das? Das sind ja heftige Lyrics.“ Ich musste ihm dann erklären, dass es seine Lyrics sind. Er war sehr verwundert. Und „I’ve Lost Control“ habe ich mit Sleazy D. morgens in meinem Keller produziert. Ich kam von der Nachtschicht, er kam aus der Music Box und sagte nur: „I’ve lost control“. Ich dachte: Das klingt gut, lass uns jammen! Wir haben das dann spontan produziert, auf Tape gezogen und er hat es zu Ron Hardy in die Music Box gebracht. Ich konnte da ja wegen meines Jobs nicht hin. Irgendwann sagte Sleazy: „Du musst in die Music Box kommen, Ron spielt die ganze Zeit ‚I’ve Lost Control’.” Als ich dann sah, wie voll der Dancefloor wurde, wenn der Song lief, war ich sehr glücklich. Da war der Song auch noch nicht erschienen. Das ist erst knapp zwei Jahre nach dem besagten Morgen passiert.

War es ein Problem für dich, dass deine Produktionen vor dem Erscheinen bereits mehrfach als Tape illegal kopiert wurden?
Nein, das hat mich nicht gestört. Zu der Zeit waren wir underground und ich habe das eher als gegenseitigen Support verstanden. Unser Zeug wurde damals nie im Radio gespielt. Das kannten nur die Leute, die in die Clubs gingen.

Die Music Box hat ja heute einen mythischen Status. Wie waren die Nächte und wie oft wurde da gefeiert?
Immer Dienstag und Samstag. Die Energie war sehr intensiv. Nicht zuletzt, weil Ron Hardy ein DJ war, der in seiner DJ-Booth mitfeierte. Das hat viel ausgemacht.

Spürst du diese Energie heute noch selbst wenn du auflegst?
Auf jeden Fall. Aber ich muss auch zugeben, dass ich ein wirkliches Problem damit habe, das Auflegen aufzugeben. Ich würde echt gern etwas anderes machen, aber ich liebe das Reisen und das Auflegen. Das macht wirklich süchtig. Und ich habe ja auch keine Probleme: Ich war schon taub, bevor ich angefangen habe.

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