An der Wand neben dem DJ-Spult steht ein Zitat von Ricardo Villalobos gesprüht: „Es gibt keine Stars, man gibt sich Getränke ab, alle reden miteinander, alle tanzen miteinander. Alle tanzen aus dem gleichen Grund… Im Grund ist das eine anarchistische Situation. Das ist wie bei Luftmolekülen, die sich dann im Raum verteilen…“ In dem zum Dancefloor leergeräumten kleinen Laksa-Restaurant hängen Tom Dixon-Lampen, die Wände sind aus Sperrholz. Eigentlich könnte dieser Ort überall sein, tatsächlich befindet er sich in einem Hinterhof der Innenstadt von Nowosibirsk. Es ist Sonntagnacht, die Abschlussparty des CTM Siberia Festivals. Gerade legt der libanesische Betreiber des Morphine-Labels Rabih Beaini seine letzte Platte auf, einen westafrikanischen Gnawa-Rock-Song seines kürzlich verstorbenen Musikerfreundes Mahmoud Guinia. Das sibirische Publikum tobt, nimmt den dankbaren Beaini in seine Mitte und klatscht Applaus.
DJ Wheel (Foto: Anastasija Golowina)
Draußen sammelt der sibirische Produzent hmot Geld für ein Geburstagsgeschenk des lokalen DJ Wheel zusammen. Kurz bevor Helena Hauff die Decks übernimmt, hält er eine kurze Ansprache und überreicht dem fast zu Tränen gerührten DJ einen Electribe-Synthesizer – sein erstes Musikinstrument. Es ist eine jener besonderen Party-Nächte. Keiner der internationalen oder lokalen DJs verlässt nach seinem Set den Ort, alle feiern zusammen weiter. Wodka-Flaschen werden geteilt. Vor der Nudelküche unterhält sich Raster-Noton-Gründer Olaf Bender mit einem der Veranstalter, ein Obdachloser tanzt vor ihm zu den harten Techno-Beats des russischen DJs Buttechno, die nach draußen dringen. So geht es weiter bis zum Montagmorgen, obwohl da die Party schon längst zu Ende sein sollte. After Hour in der Taiga.
Rabih Beaini (Foto: Ewgenja Manerowa)
In Berlin gibt es das CTM Festival seit den 90er Jahren, in Sibirien fand es letzten Monat zum ersten Mal statt. Der bekannteste sibirische DJ-Export ist Nina Kraviz. Doch abgesehen von dieser Ausnahme stellt das riesige nordasiatische Gebiet (es umfasst eine Fläche, die 35 mal größer als Deutschland ist) eine weiße Fläche in der globalisierten elektronischen Musikwelt dar. Nach Nowosibirsk verschlägt es so gut wie keine Touristen, selbst in die Edel-Diskotheken der Stadt kommt kaum ein internationaler DJ. Die beliebtesten deutschen Musiker sind hier nach wie vor die Scorpions. Und für die örtlichen Produzenten elektronischer Musik gibt es so gut wie keinen Ort an dem sie zusammenfinden oder auftreten können. Diese Abgeschiedenheit hat aber auch seine Vorteile: „Wir sind sehr kompromisslos“, sagt etwa Stanislav Sharifullin alias hmot, der ebenfalls ein Kassetten-Label namens Klammklang betreibt, Co-Kurator des CTM Siberia Festival ist und für uns einen Podcast mit sibirischer Musik zusammengestellt hat. „Es gibt keine unabhängige Musikindustrie, wir schulden niemanden etwas, wir sind komplett frei, uns selbst auszudrücken.“ Stanislav hat auch einige der Berliner Gäste des Festivals wie Robert Henke oder die gebürtige Russin Dasha Rush eingeladen.
Helena Hauff (Foto: Elena Poljakowa)
Über einen Zeitraum von zwei Wochen fanden in den beiden Städten Krasnojarsk und Nowosibirsk Konzerte und Partys mit überwiegend Berliner und sibirischen Musikern in Theatern und Shisha-Restaurants (mangels geeigneter Clubs) statt. In einer Bibliothek gab es Workshops etwa von dem Historiker Andrey Smirnov, der seinen Studenten die Theremin-Technologie näherbrachte, die dann zum Beispiel eine Zimmerpflanze in einen Musikcontroller verwandelten. Und hier sprach auch die österreichische Musikerin Electric Indigo unter anderem darüber, dass das Auflegen für sie zwar gut und schön sei, aber nichts im Vergleich zum kreativen Prozess des Musikmachens. Im Publikum mit dabei auch DJ Wheel, den nicht wenige für den besten DJ Sibiriens halten, und der das Plattenauflegen schon an den Nagel hängen wollte – und Tage später seinen ersten Synthesizer zum Geburtstag bekommen sollte.
Robert Henkes Lumière (Foto: Anastasija Golowina)
Nowosibirsk ist mit fast zwei Millionen Einwohner die drittgrößte Stadt Russlands. Ein Ort an den die Menschen zum Arbeiten und Studieren kommen, ihn später aber auch Oft wieder verlassen. „Hier habe ich eine Zukunft“, sagt etwa Elena Nosowa, die aus Kasachstan hierher gezogen ist und für das Goethe-Institut, dem Gastgeber des CTM Siberia Festivals, arbeitet. Nowosibirsk ist eine Stadt, wo in den Kiosken Putin- neben Minecraft-T-Shirts hängen. Und wo sich in heruntergekommenen Plattenbauten Cafés befinden in denen einen die Bedienung nach der Bestellung einer Tasse äthiopischen Kaffees aus der Aeropress fragt: „Du kommst aus Berlin? Bist Du DJ?“ Über Veranstaltungen wie das CTM Festival informiert man sich hier über das russische Facebook-Pendent VK, über das sich auch illegale Downloads von aktuellen Hardwax-Veröffentlichungen finden lassen. Und genauso wie in westlichen Städten werden hier alle Partys und Konzerte konstant mit dem Smartphone festgehalten – ein Umstand der Robert Henke, der seine beeindruckende Audio-Lasershow Lumière zeigte, zu dem charmanten Kompromiss veranlasste, das Fotografieren während des Konzerts zu untersagen (die Laser entfalten nur bei absoluter Dunkelheit ihre ganze Wirkung), um dann eine Zugabe zu spielen, während der jeder Bilder machen durfte.
Foresteppe (Foto: Anstasija Golowina)
Neben den etablierten, westlichen Musikern traten viele russische Musiker, die man für sich entdecken konnte. Etwa den experimentellen Folkmusiker Foresteppe, der zu seinem Konzert Bilder aus dem russischen Märchen „Hirtenflöte“ zeigen lies, den Protagonisten des Echotourist-Kollektivs dyad, das Minimal Electro-Pop-Duo Love Cult oder eben Co-Kurator hmot, der gemeinsam mit dem sibirischen Jazz-Pianisten und musikalischen Leiter des Globus-Theater Roman Stolyar improvisierte. Für das überwiegend junge Publikum waren diese Auftritte häufig ihr ersten Live-Kontakt mit experimenteller elektronischer Musik. Und sogar für einige der teilehmenden Musiker stellte es Neuland dar. Als die westlichen Gäste sich schon auf dem Rückflug befanden, schrieb etwa das Geburtstagskind DJ Wheel an hmot: „Ich sehen einen neuen Horizont und ein neues Feuer, das in mir brennt. Und es fängt gerade erst an.“ Die Tanzfläche als urdemokratische, utopische Form des Zusammenseins, wie sie Ricardo Villalobos in dem Zitat aus dem Laksa-Restaurant beschreibt, beim CTM Siberia wurde sie für ein paar Nächte Wirklichkeit.