Text: Alexis Waltz | zur Übersicht der 50 besten elektronischen Alben
Erstmals erschienen in Groove 145 (November/Dezember 2013)
Zur Jahrtausendwende, als wirklich jeder verstanden hatte, was von einer House-Party zu erwarten war, machte Ricardo Villalobos die Musik wieder geheimnisvoll. Seine Sets waren unberechenbar. Er konnte stundenlang hypnotischen Bongo-House spielen – oder, wie bei der Eröffnung der Panorama Bar 2004, eine Platte von Otto Waalkes. Seine Augen spiegelten nicht die Euphorie des Publikums. Sie waren meistens hinter einer Sonnenbrille verborgen. Bis dahin wollte die elektronische Tanzmusik möglichst nah an den Klängen, nah bei den Körpern sein. „From Our Minds To Yours“ war eine der Losungen der Neunziger. Im Ecstasy-Rausch verschmolz das Ich und das Du. Villalobos pochte auf Distanz: „What you say is more than I can say“ heißt ein Track auf Alcachofa, seinem Debütalbum von 2003. Diese Distanz erzeugte ein ganzes Spektrum neuer Erfahrungen: Isolation, Düsterkeit, aber auch Autarkie und eine ironische Doppelbödigkeit. Man steht auf dem Dancefloor und fragt sich: Was soll das denn jetzt? Ist das der krasseste Trip aller Zeiten? Oder ein alberner Scherz?
Auf Alcachofa kommt viel zusammen: smarter Minimal-House, Afterhour-Psychedelik und elektronischer Pop. Villalobos lässt das Hier und Jetzt des Dancefloors implodieren. Er ist ein Meister unwahrscheinlicher Kontraste: Der Groove ist auf ein Tippen reduziert, und doch durchzuckt er einen wie Stromstöße. Viele Klänge sind dunkel, Furcht einflößend, trotzdem sind die Tracks mitreißend und voller Energie. Ihre Vertraktheit wird von einer detroitigen Poesie gebrochen. Im Vocal von „Easy Lee“ erstarrt schillernder Synthiepop zu einem opaken, elektronischen Brummen. Alcachofa reizt seine zahllosen Ideen und Anschlüsse keineswegs aus. Trotzdem war mit dem aufgeräumten, kristallinen Sound bald Schluss. Mit dem Modularsynthesizer trat ein unberechenbares Gegenüber in Villalobos Studio. Mit diversen ethnischen Musiken, Dubstep und moderner Klassik setzte er sich einem neuen Spektrum an Einflüssen aus: Villalobos Neugierde auf Musik scheint unersättlich.
Video: Villalobos – Dexter (Fan Video)