Foto: Bettina Stöß
Masse lautet der Titel der zweiten Koproduktion des Staatsballetts Berlin mit dem Berghain, die seit dem 4. Mai in der Halle neben dem Berliner Club uraufgeführt wird. Unter diesem Oberbegriff entwickelten Xenia Wiest, Nadja Saidakova und Tim Plegge Choreographien, die sich dem Phänomen sowohl in seiner physikalischen, als auch in seiner sozialen Bedeutung zu nähern versuchen. Die Musik steuern die dem Berghain nahestehenden Musikproduzenten Efdemin und Marcel Fengler (als DIN), Frank Wiedemann (von Âme) und Marcel Dettmann, sowie Henrik Schwarz bei. Mit Norbert Bisky konnte ein bedeutender zeitgenössischer Maler für die Gestaltung des Bühnenbildes gewonnen werden. Für Bisky war die Arbeit daran vor allem mit Fragen über das urbane Leben und die Funktion von Städten verbunden. Neben der expliziten Auseinandersetzung mit dem Ort der Inszenierung bezieht Bisky so verschiedene Themen wie Religion, Vereinzelung, die Energie-Urgewalten und den zunehmenden Skeptizismus gegenüber unbegrenztem Wachstum in seine Arbeit mit ein. Eine Zunge, die sich aus dem Hintergrund wie erstarrte Lava als schwarze Welle schwungvoll in den Bühnenraum ergießt und in unkontrollierbaren Formen durch Ausläufer zum Publikum hin die Bühne absteckt, bildet das Fundament – die Tanzfläche. Rechts davon ragt das ausgebrannte Skelett eines schräg in den Boden gerammten Busses an der Seite empor, den Bisky als Ort einer temporären Schicksalsgemeinschaft beschreibt. So reduziert das Bühnenbild am Ende wirkt, so grandios fügt es sich in das monumentale, rund 17 Meter hohe Kesselhaus des ehemaligen Heizkraftwerkes aus DDR-Zeiten ein, in dem bizarre Betontrichter aus der Höhe ins Leere ragen und als Überbleibsel an die früheren Kohlekessel erinnern. Industrielle Architektur, die beeindruckt und in der Bisky durch seine zurückhaltende Gestaltung ein Bühnenbild entstehen lässt, das gleichermaßen auf Bewegung und Erstarrung hindeutet. Es wurde komplett auf Projektionen verzichtet und ein Ort geschaffen, der trotz seines Zustandes als vermeintliche Ruine gleichzeitig eine ungeheure Lebendigkeit ausstrahlt. Im Gegensatz dazu ist das ebenfalls von Bisky gestaltete Werbeplakat knallig-bunt und provokativ gehalten.
Die Ballettproduktion selbst setzt modernen Tanz und klassische Musik in den Kontrast zu Techno und elektronischer Musik. Hochkultur trifft auf subkulturelle Lebensstile, Clubkultur auf Pirouetten und Hebefiguren. Zwei verschiedenartige Kunstformen, die jedoch Bewegung als gemeinsamen Nenner vereinen. Dies funktioniert diesmal deutlich besser als noch bei „Shut Up And Dance! Updated“ aus dem Jahr 2007. Auch damals steuerten bereits Produzenten wie Tobias Freund und Max Loderbauer alias nsi., Sleeparchive, Luke Slater, Âme oder Luciano die Musik bei und trotzdem wies das Zusammenspiel beider Fraktionen letztendlich doch zu viele grobmotorische Züge auf, um wirklich überzeugen zu können.
Bei dem nun inszenierten Ballett-Dreiteiler gibt es keine Handlung, dafür ein Thema: „Masse“. Die Masse, das ist eine Eigenschaft der Materie und damit eine physikalische Grundgröße. Masse ist aber auch ein soziologischer Begriff. Die drei Choreografen interpretieren dieses Spannungsfeld auf unterschiedliche und gegensätzliche Weise: Den Auftakt macht Xenia Wiest mit Quinque viae – Dynamics of Existence und geht dabei der Frage nach, wie sich eine unbestimmte Masse in einzelne individualisierte Teile aufspaltet. Stark wirkt dabei die Ausleuchtung dieses gewaltigen, schroffen Raumes in immer neuen Perspektiven und Atmosphären. Seinen besonderen Reiz gewinnt der erste Akt aber durch die musikalische Gestaltung von Efdemin und Marcel Fengler. Die abstrakten Experimente der beiden Produzenten sind zwischen Techno und Electronica angesiedelt. Vereinzelte Piano-Melodien verlieren sich in vermeintlich endlosen Drone-Schleifen, um sich kurz darauf mit wehenden Fahnen zu brachial wummernden Breakbeats mit glasklar geschichteter Percussion aufzutürmen. Ein Hin und Her zwischen fast lieblich wirkenden Synthesizer-Akkorden und tief polternden Kickdrums, das in der Kompositionsabfolge in sich jedoch sehr geschlossen und flüssig wirkt. Die Akustik der Halle ist fantastisch. Wer aber die PA aus dem Berghain gewohnt ist, wird schnell merken, dass man aus dem Sound im Kesselhaus noch mehr hätte herausholen können. Wie die klassisch ausgebildeten Tänzer des Staatsballetts sich zu den harten Klängen bewegen, sich zu Gruppen verdichten und wieder auseinanderdriften, wirkt teilweise etwas plakativ, ist im Kontextes jedoch nachvollziehbar.
Im zweiten Akt Boson hinterfragt Nadja Saidakova die Grenzen des menschlichen Körpers. Diesmal haben die Tänzer hautfarbene Bodysuits an, in denen sie praktisch nackt wirken. Das Spiel mit erotischen Reizen wird besonders in den ersten beiden Akten fast schon zum Leitmotiv der Choreografien und lässt die wohlgeformten Muskelkörper der Tänzer sehr attraktiv aussehen. Marcel Dettmann und Frank Wiedemann interpretieren den zweiten Akt in drei Teilen. In „Accelerando“ vollzieht sich eine allmähliche Beschleunigung des Tempos, der die beiden Produzenten durch die immer wiederkehrende Verwendung eines Gongs Regelmäßigkeit und Struktur verleihen. „Martellato“ ist der zweite Teil und beschreibt gehämmertes, scharf akzentuiertes oder fest gestrichenes Spiel, welches durch seinen Aufbau eine Menge Dynamik bekommt. Die Musik und die detaillierte Lichtregie lassen den sich auf der Bühne bewegenden Tänzern genug Freiraum und spiegeln, jedes Element für sich, einen Teil eines großen Ganzen wieder – eine „Masse“ eben. Der dritte Part, „Spiritoso“, kann die Spannungskurve trotz der weniger aggressiven Stilmittel konstant halten. Der verstärkte Einsatz von warmen, melodischen Synthesizern erzeugt einen Gegenpol zur düsteren Kulisse.
Besaßen die ersten beiden Akte noch einen fließenden Übergang, so hebt sich der dritte Akt musikalisch ab und taucht in neue Gefilde ein. Henrik Schwarz verwendet verstärkt melodische Akzentuierungen und ist auch der Einzige, der Gesang in seine Komposition miteinbezieht. Gitarren, Streicher und Klavierharmonien nehmen teils pompösen Charakter an, wirken aber dennoch nicht zu überdreht und erzeugen einen interessanten Bruch zu den Vorgängern. Dazu geht Tim Plegge in seiner Choreographie They der Frage der Transformation nach. Auffallend sind hierbei die Duette zu Beginn und als Abschluss. Hier geht es offensichtlich um abstrahierte Beziehungsmuster und soziologische Fragen, die in so starken Emotionen wie Verliebtheit im ersten Duett dargestellt werden. Auch versteht es Plegge, der von den drei Choreografen sicherlich der Erfahrenste ist, die stärksten Hebefiguren und Bewegungsabläufe in seinen Akt zu integrieren.
Das Konzept ist aus Marketing-Sicht sicherlich für alle Beteiligten ein Erfolg. Sowohl für das Berghain, das bereits über Jahre eine Vorreiterrolle in der Verbindung von Feierbetrieb und Kulturangebot einnimmt, als auch für das vom Sparzwang der öffentlich geförderten Kultur der Hauptstadt geplagte Staatsballett Berlin. Trotzdem tat das Event seinem kulturellen Anspruch mehr als genüge, auch wenn die Begegnung von Techno und Hochkultur in Industrieruinen gerade für Berlin keine komplette Neuheit darstellt. So inszenierte etwa bereits in den Neunzigern Katharina Thalbach Mozarts Oper „Don Giovanni“ in einem Technoclub, dem früheren E-Werk. Das Aufeinandertreffen von Ballett und Techno ist dennoch etwas Besonderes, denn der Spitzentanz lebt von Schönheit und Präzision, Techno von der Ekstase, dem Ungehemmten. Der außergewöhnliche Spielort überzeugt, die Musik, die sich hervorragend ins Geschehen einfügen kann und letztlich natürlich die Erotik der Tänzerinnen und Tänzer, denen man teils etwa gelungenere Choreografien gewünscht hätte.
Masse ist noch am 22., 24. und 25. Mai 2013 in der Halle am Berghain zu sehen. Alle Vorstellungen sind bereits ausverkauft.