Text: Alexis Waltz, Fotos: Mads Perch
Erstmals erschienen in Groove 135 (März/April 2012)
2009 konnte man sich in kaum einem House-Track so bedingungslos verlieren wie in „Pain In The Ass” von Nina Kraviz. Die Musikerin aus Russland entwickelte sich bald auch zu einem der erfolgreichsten neuen DJs: Ihre analog gemixten, vor altem Chicago-House strotzenden Sets trafen im Zeitalter aalglatter, risikoloser Traktor-Sets offensichtlich einen Nerv. Anlässlich ihres selbstbetitelten Debütalbums trafen wir Nina Kraviz in Moskau.
Ein komfortabler Zug hat mich vom Flughafen ins Zentrum von Moskau gebracht. Jetzt stehe ich in dem minus zehn Grad kalten Wind, der durch die megalomanischen Straßenzüge pfeift. Bis zu den Fenstern mit Schneematsch überzogene Limousinen und SUVs schieben sich langsam über den Asphalt. Es gibt keine Ampeln. Taxis sind nicht als solche erkennbar. Die Moskowiter, denen ein solches Fahrzeug nicht vergönnt ist, stürzen oft irritierend leicht bekleidet mit einem irrwitzigen Tempo die Fußgängerwege herunter. Sie erscheinen hart und abweisend, viele verwahrlost. Wenn es gelingt, einen anzuhalten, schaut man in ein misstrauisches Gesicht, das mit der westlichen Umschrift von Ortsnamen aus dem Kyrillischen meistens kaum etwas anfangen kann. Die Bahnsteige der U-Bahn füllen sich in Sekunden mit einer Menschenmasse, an den Wänden Listen für mich unverständlicher Zeichen. Abgekämpft erreiche ich meine Unterkunft. Die Einladung von Nina Kraviz, sie am Abend zu einem Geburtstag zu begleiten, kommt da wie eine Erlösung. Es ist Nacht, als Ninas Gesicht aus einem Autofenster herausschaut: „Nice to finally meet you.” Ich setze mich neben sie auf die Rückbank des Wagens, ihre singende Stimme erklärt entschuldigend: „Work, work, work.” Das blaue Licht des iPhones fällt geheimnisvoll auf die kantigen Konturen ihres Gesichts und die blutrot geschminkten Lippen. Der Fahrer jagt durch die jetzt leeren Straßen. Nachts ist die Härte der Stadt weniger spürbar. Viele Gebäude sind in erhabenes Flutlicht getaucht, und die wieder erbaute Christ-Erlöser-Kirche funkelt mit ihren strahlend weißen Steinen wie ein Juwel.
Das Telefon sinkt in Ninas Schoß. Vergnügt und wie ganz selbstverständlich beginnt sie zu erzählen. In Moskau könne man an jedem Wochentag ab Mittwoch ausgehen. Jetzt sind allerdings noch Weihnachtsferien, die in Russland traditionell bis Ende Januar gehen. Die Moskowiter, die es sich leisten können, verbringen diese Zeit gerne dort, wo es warm ist, in Thailand etwa. Der angesagteste Club der Stadt, das Arma17, hat deshalb geschlossen. Wir sind auf dem Weg ins Gipsy, das sich auf dem spektakulären Roter-Oktober-Industrie-Areal in einer früheren Schokoladenfabrik befindet, die gerade geschlossen wurde.
„Sie ziehen in eine größere Fabrik um?“, falle ich ihr ins Wort. Ich hatte davon im Flugzeug gelesen.
„Nein.“ Sie wartet. Kalt funkeln mich ihre Augen an. Um mir zu signalisieren, dass ich sie nicht unterbrechen darf? Oder ist es eine Kunstpause?
„In fünf Jahren werden dort luxuriöse Eigentumswohnungen gebaut. Bis dahin gibt es dort Clubs und Galerien.“
„Das ist schade.“
Sie schaut mir in die Augen.
„Tatsächlich ist es so romantischer.“
Ich versuche, Ninas Erscheinung mit dem in Beziehung zu setzen, was ich von ihr weiß: Mit der Rohheit ihrer gegen die Taktanfänge gemixten DJ-Sets, die den von ihr so heiß geliebten Chicago-House von jeglicher Nostalgie befreien. Mit ihren auf Labels wie Rekids, Underground Quality oder Naïf erschienenen House-Platten, in denen auffällig einfache Grooves mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit über Minuten hinweg im Raum stehen. In der Musik von Nina Kraviz scheint es nur den gegenwärtigen Moment zu geben, alles wirkt unmittelbar empfunden. So entsteht eine gemeinsame Ebene zwischen den strengen, monotonen Rhythmen und den freien Vocals, die keine stilistische Linie verfolgen. Sie gewinnt dem Clubsound eine Prägnanz und Emotionalität ab, die man von guter Popmusik kennt. Ein Freund von ihr hat es auf den Punkt gebracht: „Du machst Pop aus etwas, das nicht Pop ist. Tanzmusik aus etwas, zu dem man nicht tanzen kann.“ Ihre Star-Qualität liegt nicht in ihrer Erscheinung, sondern darin, dass es ihr wie einem Popstar gelingt, Leben und Musik zur Identität zu bringen.
Immer wieder liest man in Interviews mit der 30-Jährigen, was für einen Sex-Appeal die Claps einer Chicago-Nummer für sie haben. Sex ist die entscheidende Metapher, wenn es darum geht, die Musik und das Auflegen zu charakterisieren. Das überrascht nur im ersten Moment: Tatsächlich ist der vibrierende, eruptive Chicago-House der Clubsound, der die Begegnung der Tänzer am eindeutigsten als sexuelle entwirft. Die meisten anderen Stile versuchen sie auf einem anderen Niveau zu haben: Deep House etwa zielt auf eine allumfassende Spiritualität, während der ecstasygeschwängerte Techno die geschlechtliche Dimension komplett ausblendet.
Whiskey Sour & Salzgurken
Über riesige Pfützen balancieren wir zum Eingang des Gipsy. Mit einer Holzkuppel ist der Club wie ein riesiges Nomadenzelt gestaltet. Die zahllosen farbigen Flaschen, die sich hinter der Bar türmen, bestimmen die Atmosphäre des Raums. Ein hünenhafter DJ spielt derben, großspurigen House. Ninas westlich und elegant gekleidete Freundinnen setzen sich von dem studentischen Publikum ab. Das Geburtstagskind ist eine platinblonde Frau in einem silbernen Paillettenkleid. Von der Bar werden Whiskey Sours geholt. Die Clique ist gerade vom BPM-Festival in Mexiko zurückgekommen und entsprechend entspannt und sonnengebräunt. Man erzählt, wie Ricardo Villalobos nach mehreren durchfeierten Tagen endlich schlafen wollte und dann doch noch zehn Stunden lang ohne Kopfhörer aufgelegt hat. „Ohne Kopfhörer?“, wundert sich Nina. Als sie hören, dass ich aus Berlin komme, schwärmen sie von den mit Menschen überlaufenen Toiletten der Panorama Bar und den Männern, die mit entblößtem Oberkörper tanzen. Solch ein entgrenztes, ungeregeltes Verhalten ist hier nicht vorstellbar, im Moskauer Nachtleben geht es gediegener und höflicher zu. Auf den Teppichboden gefallene Zigarettenkippen werden sofort vom Servicepersonal entfernt. Fotografen knipsen unentwegt, alle posen bereitwillig, und die Bilder erscheinen in wenigen Tagen im Netz. Nina genießt die Party sichtlich, begrüßt Freunde, quatscht, lacht und trinkt. „Ich bin seit zwei Jahren nicht mehr in Moskau ausgegangen“, sagt sie. Und fügt etwas überrascht hinzu: „Damals hätte ich hier noch jeden gekannt.“
„Ich bin seit zwei Jahren nicht mehr in Moskau ausgegangen – damals hätte ich hier noch jeden gekannt.“
Irgendwann wird nur noch getanzt. Nina strahlt. Das Strahlen erfasst jeden Muskel in ihrem Gesicht. Ihre Schultern wiegen sich in den Grooves, sie macht sich ganz zu deren Resonanzkörper. Bei einem Track mit einer prägnanten, ungewöhnlichen Clap spitzt Nina ihre Ohren. Als wir gehen, lässt sie sich die CD von dem DJ mitgeben, um sie am nächsten Tag in ihrem Resident-Advisor-Podcast zu spielen.
Unsere nächste Station ist das Propaganda. Der seit dreizehn Jahren bestehende Club war einer der ersten in Moskau. Drei Jahre lang hat Nina hier jeden Freitag auf ihren Voices-Partys gespielt. Hinter einer Glasfassade steigt man durch einen schmalen Eingang einige Treppenstufen herunter. Mit Backsteinen, Eisenbeschlägen und großen Lampenschirmen ist das Propaganda ebenso liebevoll ausgestattet wie das Gipsy. Die Stimmung ist aber ganz anders: Es ist dunkler, die Gestalten der Tänzer zeichnen sich schemenhaft ab. Sie sind nicht da, um sich sehen zu lassen und Cocktails zu trinken, sondern um zu tanzen. Der Macher des einschlägigen Moskauer Labels Highway Records, Mike Spirit, thront über der Tanzfläche und spielt statisch pulsierenden Tech House.
Nina fühlt sich an diesem Ort nicht wohl. Seit man ihr vor anderthalb Jahren ihre Residency am Telefon aufgekündigt hat, war sie nie wieder hier. Schließlich fahren wir weiter zu einer privaten Afterhour. Wir halten an einem 24-Stunden-Supermarkt, in dem es Unmengen internationaler Lebensmittel zu kaufen gibt. Das comfort food der mittlerweile recht beschwipsten party people sind aber salzig eingelegte Gurken, wie es sie einst bei der Großmutter gab, und eine Art Milchschnitte aus Quark, die schon zu Sowjetzeiten hergestellt wurde. Nach einer langen Autofahrt finden wir uns in einer Wohnküche wieder. Vielleicht zehn Jungs und Mädchen in ihren Zwanzigern chillen, trinken Longdrinks und hören einem Traktor-Set zu. Ich werde überrascht beäugt, man stellt sich höflich vor. Das Geburtstagskind sinkt erschöpft auf ein Sofa. Einer der Jungs erzählt, dass er gerade aus New York zurückgekommen sei. Er liebe Moskau aber zu sehr, um von dort wegzuziehen. „Trotzdem sind New York und Berlin die Städte auf der Welt, in denen einfach alles passieren kann.“
Armando in Irkutsk
Am nächsten Tag treffe ich Nina in der kleinen, bescheidenen Zwei-Zimmer-Wohnung im Zentrum der Stadt, die sie gemeinsam mit einer Freundin bewohnt. Die pastellfarbenen Einbauschränke mit eingelassenen Halogen-Spots wirken wie Überbleibsel aus einer vergangenen Epoche. Persönlich wird der Ort durch den Krimskrams, der in der Wohnung verteilt ist. Das Zimmer der Mitbewohnerin ist vollständig mit Klamotten auf Kleiderständern ausgefüllt. In Ninas Zimmer gibt es ein DJ-Deck samt Plattenregal, einige Synthesizer, ein Bücherregal und eine Schlafcouch. Sie zeigt auf einen kleinen Tisch: „Das ist mein Studio.“
Während Nina Grapefruits auspresst, beginnt sie zu erzählen. Sie stammt nicht aus Moskau, sondern aus der sibirischen Großstadt Irkutsk, die von Moskau so weit entfernt ist wie Lissabon: „Das ist eine ganz besondere Gegend. Sie ist sehr energetisch, aber auch sehr roh. Der Sommer dauert nur drei Monate. Ich glaube, dass das kalte Klima dort einen direkteren, ehrlichen Umgang bewirkt. Ich bin ein Beispiel dieser Art von Menschen. Wenn ich wütend bin, kann man das unmittelbar spüren, und wenn ich glücklich bin, dann strahle ich über und über. Ich habe keine Mitte.“
Nina ist mit der großen Schallplattensammlung ihres Vaters, eines Ingenieurs, aufgewachsen, mit Pop von Grace Jones und Roxy Music, Jazz von Weather Report und Progressive Rock von Pink Floyd. Sie sei keine soziale Jugendliche gewesen. Während sich die Freundinnen für Jungs und Ausgehen interessierten, war sie lieber allein. Ihr Erweckungserlebnis in Sachen elektronische Musik verschaffte ihr das Radio: „Bis dahin hatte ich Musik nie gemixt gehört. Das war ein absolutes Mysterium. Durch die Zeitverschiebung kam die Sendung – Garage von Radio Moskau – erst um drei Uhr morgens. Ich habe sie mit dem Kassettenrekorder aufgenommen. Armando, House aus den Neunzigern. Von dem Moment an war ich besessen von diesem Sound, habe alles über Chicago und Detroit herausgefunden und mir vorgestellt, wie sie dort ihre Musik machen.“ Sie liebte den harten Techno von Eye Q, Hardfloor, Fumiya Tanaka, der in Irkutsk auf raubkopierten CDs erhältlich war. „Keiner meiner Freunde hat mich da verstanden. Ich sagte: ‚Das ist Ken Ishii! Techno aus Japan!‘ Da hieß es: „Jaja, wir rufen dich später an.‘“
„Die Herausforderung liegt in der Beschränkung.“
Der Clubmusik gelingt es selten, an Orten Fuß zu fassen, an denen es keine Partys gibt. Die körperbezogene Musik scheint sich erst durch das gemeinsame Tanzen zu vermitteln. Nina hatte dieses Problem nicht, sie konnte sich auch in die Situation der Party versetzen, ohne je eine erlebt zu haben: „Sonderbarerweise habe ich mir sofort vorgestellt, vor einer Crowd aufzulegen.“ Ihr erstes Forum war eine eigene Radiosendung: „Da war ich das quitschfidele, dauerbegeisterte Mädchen. Irgendwann habe ich fast nur noch geredet. Das war die erste Sache, die ich lernen musste, dass es auch zu viel sein kann. Minimalismus ist da tatsächlich der Schlüssel.“ Fast jede von Ninas Antworten hat die Gestalt eines kleinen Vortrags. Dabei kommt sie nicht vom Hundertsten ins Tausendste, sondern immer wieder zu denselben künstlerischen oder existenziellen Themen und Ideen. So führt sie diesen Gedanken gleich zum entscheidenden Punkt: „Die Herausforderung liegt in der Beschränkung. Wenn man sich auf etwas Kleines konzentriert, verortet man sein Potenzial. Das ist für mich Freiheit: nicht, so viel wie möglich Schokolade zu essen oder jede denkbare sexuelle Perversion auszuleben. Erst wenn man sich beschränkt, kann man die eigenen Möglichkeiten begreifen. Das ist für mich der Sinn der Religion, sich die Möglichkeit geben zu fokussieren.“ Das Motiv der Beschränkung als Befreiung wird in dem Gespräch immer wieder auftauchen. Mal, wenn es darum geht, mit einer einzigen Plattentasche zehn Gigs zu spielen, ohne sich selbst dabei zu langweilen; mal, wenn es um die Gestaltung einer Liebesbeziehung geht.
Nina war nicht die Einzige aus ihrem Umfeld, die nach der Schule nach Moskau zog. Sie studierte Zahnmedizin, übte den Beruf einige Jahre lang aus. Als Journalistin führte sie für das 2003 eingestellte Magazin Ptuch zahlreiche Interviews mit internationalen DJs. Die Begegnungen mit Afrika Bambaataa, Jeff Mills und Theo Parrish haben sie am meisten beeindruckt: „Ich habe immer wirklich harte, rohe, schnelle Musik geliebt. Robert Hood, Tresor und Blueprint, das Chicago-House-Label aus den Achtzigern. Dance Mania ist mein Lieblingslabel, ich habe fast zweihundert Dance-Mania-Platten.“
Song für den zukünftigen Liebhaber
Nina begann in Bars und Cafés aufzulegen. Ihre ersten Erfahrungen als Musikerin machte sie als Sängerin der Band MySpaceRocket. „Ich war das einzige Mädchen zusammen mit vier Jungs. Da gab es diesen Kasachen, Andriesh: Er dachte, er sei der Boss und ich müsse ihn anbeten.“ Sie ahmt die Engelszungen nach, mit der sie ihn hätte anhimmeln sollen: „Du bist so talentiert. Ich bin allein die Stimme, du bist alles andere. Ich war aber völlig anders drauf, eher so“, Ninas Stimme ertönt in einem herrischen Marge-Simpson-Bass, „Nein, dieses Vocal gehört so. Und die Snaredrum kommt dahin.“ Der Konflikt eskalierte, als Nina 2006 zur Red Bull Music Academy eingeladen wurde: „Diese beiden Wochen haben mein Leben völlig verändert.“ Sie lernte, Ableton zu bedienen, arbeitete mit Chez Damier. Sie gab den MySpaceRocket-Song „Amok“ Greg Wilson, der ihn auf seinem Label B77 rausbrachte. Als Wilson ihnen anbot, ein ganzes Album zu veröffentlichen, rebellierte die Band. Die Jungs wollten eine andere Richtung einschlagen und Punkrock spielen. Nina wollte die bereits entstandenen Stücke selbst mischen. Das verweigerten ihr die anderen, sie sei schließlich bloß Sängerin. Da verließ sie die Band und kaufte sich – noch vor Wut schnaubend – am nächsten Tag Soundkarte, Mikrofon und einen Synthesizer: „Ich produzierte tagelang Musik, ohne zu schlafen. Das war meine schöpferischste Zeit. Heute bin ich Andriesh für diesen Arschtritt dankbar, und wir verstehen uns auch wieder.“
Die Veröffentlichung des Moskowiter Produzentenkollegen Anton Zap auf dem amerikanischen House-Label Underground Quality inspirierte Nina, Labelmacher Jus-Ed auch Tracks zu schicken. Ein halbes Jahr später erhielt sie eine begeisterte Antwort, und 2009 erschien dort ihre erste Doppel-12-Inch mit dem Titel „Voices Rmx Project“ samt Neuinterpretationen von unter anderem Levon Vincent, DJ Qu und Fred P von Ninas Track „Voices“. Wenig später folgten weitere Platten auf Rekids, Efdemins Label Naïf und erneut Underground Quality. Matt Edwards von Rekids hatte sie auf der Music Acadamy kennengelernt, und war mit ihm seit dieser Zeit in Kontakt geblieben. In Ninas Musik gibt es immer den Kontrast zwischen den extrem kontrollierten Grooves, die aus ihrer Monotonie heraus funktionieren, und den sehr freien, heterogenen Vocals, die die Hermetik der Grooves aufbrechen. Sie erklärt: „Ich musste die Leere mit etwas füllen. Die einzige Sache, bei ich mir sicher war, war meine Stimme. Oft liege ich hier im Dunkeln, setze meine Kopfhörer auf, schalte ein Echo an und singe. Ich liebe es, etwas mit meinem eigenen Körper zu produzieren, das durch eine Maschine geht und dann endlos erklingt. Das Eigene wird zu etwas anderem. Die meisten Vocals nehme ich in einem Take auf. Ich habe die Idee und erzähle sie einer imaginären Person. Jemandem, den ich liebe. Jemandem, den ich liebe, aber noch gar nicht kenne. Jemandem, vor dem ich Angst habe.“ Von dieser Methode des Zuhörers in Gedanken spricht Nina immer wieder.
Bevor wir wieder losziehen, reden wir über ihr Debütalbum. Mit sphärischen, stehenden Sounds hat sie sich einen neuen Klangraum erschlossen. Ähnlich wie die Grooves haben sie eine packende, irisierende Wirkung, ohne dass eine Fülle entsteht. Ninas Stimme klingt jetzt ernster als bei den anderen Themen, sie hat jetzt einen spröden, britischen Akzent. Sie erklärt mir, dass sie zur eventuellen Wirkung ihrer Musik nichts zu sagen hätte. Für sie beschreibt sich Nina Kraviz aus den Stimmungen und Texten der Songs: „Oft kam ich von bestimmten Emotionen erfasst nach Hause. Plötzlich entstanden daraus Wörter und eine Geschichte. Bei „Friends“ etwa gab es dieses Bild, das ich ganz stark gespürt habe. Diese Stimmen von überall, die sagen: ‚Wir sind deine Freunde.‘ Dieses Bild kenne ich seit meiner Kindheit.“
Berlin, Paris oder Innsbruck?
Der erste Club meiner zweiten Nacht in Moskau ist das neu eröffnete 20:12. Die großen Räume wirken wie ein gediegener Salon. Hinter der Bar steht ein übermanngroßes, schwarzes Regal, auf dem Whiskey-Flaschen und dekorative Gegenstände drapiert sind. „So haben die Clubs in Moskau in den Neunzigern ausgesehen“, erklärt Nina. Stacey Pullen legt auf einer Leih-PA poppigen House auf. „Dass der das macht!“, sage ich. Nina summt die etwas dümmliche Melodie nach: „Dass der das spielt!“
An diesem Abend führt uns Ninas Verehrer durch die Nacht. Der gut aussehende, junge Mann steht immer ein wenig im Hintergrund. In seinen Worten und Gesten gibt es keinen Moment der Unbestimmtheit. Er organisiert Gästelisten und winkt Taxis heran. Wenn er bemerkt, dass sie hungrig ist, sitzt sie wenig später an einem Tisch und ein Teller mit dampfendem Essen steht vor ihr. Was sie gleichermaßen amüsiert und beeindruckt. Als Ninas Gast stehe auch ich automatisch unter seinem Schutz, denn als ein Betrunkener wütend auf mich einredet, wird dieser sofort weggeschoben. Unsere nächste Station ist das exklusive Roof Of The World. Wir klettern vereiste Stufen hoch, an einer Traube bibbernder Menschen vorbei. „Hier kommt man nur rein, wenn man Clubmitglied ist, oder wenn man persönlich eingeladen wird“, erklärt mir das Geburtstagskind von gestern. Der Dancefloor ist vollständig von Fenstern und einer Terrasse umschlossen, hinter der sich die Silhouette Moskaus erhebt. Wo jetzt wattiger Schnee liegt, finden im Sommer die beliebtesten Partys der Stadt statt. Das Publikum des Roof Of The World ist vielleicht auch ferienbedingt sehr heterogen: Anzugträger, junge Menschen in T-Shirts, Männer, die Frauen hinter sich herziehen. Es geht nicht darum, eine gemeinsame Energie zu finden. Vielmehr versucht jeder seinen eigenen Auftritt, verkörpert eine individuelle Pose, die ich nicht einordnen kann. „Ich habe keine Ahnung, wer diese Menschen sind“, sage ich zu Nina. „Ich auch nicht“, erwidert sie. Es scheint nicht die Art von Club zu sein, die sie normalerweise besucht. Das Geburtstagskind weiß Bescheid: „Hier ist man reich. Oder man gehört zur Kulturszene.“ Ich zeige auf einen Mann, der etwas abseits tanzt. Komplett in Schwarz gekleidet, mit Lederstiefeln samt Schnallen: „Der geht einfach gerne aus. Den kenne ich schon seit Jahren.“ Ein junger, nervöser Mann im Sakko stürzt an uns vorbei. „Und der?“ Sie zeigt auf die Hochhäuser vor den Fenstern: „Die hat sein Vater gebaut.“ Nina presst ihr Kinn mechanisch im Rhythmus der Musik an die Brust, um die Steifheit des wummernden Tech-House-Sounds zu unterstreichen, der auch hier läuft. Trotz der unbestreitbaren Wirkung des Raums macht dieser Ort ratlos.
„Eine Dance-Mania-Platte funktioniert in England immer besser als in Moskau.“
Am nächsten Tag sitzen wir an Ninas winzigem Küchentisch. Meine Ausgeh-Erfahrung der letzten beiden Nächte legt nahe, dass Ninas reduzierter, nüchterner Chicago-Sound so ziemlich das Gegenteil von dem großspurigen Partysound ist, der das Moskauer Nachtleben zu dominieren scheint. Es erstaunt, dass ihre Musik nicht eine Spur von dem angenommen hat, was hier als amtlicher Clubsound gehandelt wird: „Ich kann nur die Musik spielen, die ich liebe. Weil sie mir so gefällt, kann ich auch damit die Leute unterhalten. Hier ändert sich gerade viel, aber eine Dance-Mania-Platte funktioniert in England immer besser als in Moskau.“ Trotzdem fühlt sie sich mit dem Nachtleben in Moskau sehr verbunden. In ihren Augen steht es dem in anderen europäischen Großstädten in nichts nach. Dass ihr internationaler Erfolg die Kündigung ihrer Residency im Propaganda bewirkt hat, trübt ihr Bild von der Moskauer Szene jedoch. Es verschafft ihr das Gefühl, dass ihr Engagement für die Musik nicht entsprechend gewürdigt wird. Sie hat oft darüber nachgedacht, nach Westeuropa zu ziehen: nach Paris, Berlin oder auch in eine kleinere Stadt wie das österreichische Innsbruck, wo sowohl der Flughafen wie auch die Berge schnell erreichbar sind. Pläne hat sie diesbezüglich allerdings keine. 2011 spielte sie 120 internationale Gigs – da ist von einem festen Wohnsitz ohnehin kaum zu sprechen.
Erektion und Akrobatik
Mehr als ihre eigenen Produktionen und alles andere ist das Auflegen Ninas Thema. Sie sieht sich nicht als Musikerin, aber in Bezug auf ihr Gespür für das Publikum hat sie keinen Zweifel: „Man spürt, dass etwas nicht stimmt, wenn der DJ plötzlich in sich gekehrt ist. Das kann viele Ursachen haben. Jedenfalls interagiert er nicht mehr. Er hat es verloren, wie eine Erektion. Wenn man anfängt darüber nachzudenken, ist es natürlich sofort weg. Wenn es aber da ist, dann spüren die Leute das sofort. Nur ein Idiot denkt, dass die Crowd dumm ist.“ Diese geheimnisvolle Beziehung fasziniert Nina. Ihre Augen funkeln: „Sie ist wie eine Meute wilder Tiere in der Natur. Auf zwei Dinge reagieren sie als Erstes: auf Angst und auf Stärke. Wenn in der Natur ein Tier deine Angst spürt, dann vernichtet es dich. Wenn es aber spürt, dass du es schaffst, dass du voll und ganz da bist, dann bist du der Held.“ Die Worte kommen aus ihrem Hals wie das Grollen einer Raubkatze. Ich lache. Sie zögert, wartet einen Moment. Dann sagt sie ganz leise: „Aber nicht zu sehr. Drei oder vier Prozent Angst müssen bleiben. Manchmal steht man da, denkt: ‚Wow, was für ein Club! Was für eine Crowd!‘ Dann ist man sich zu sicher und spielt zwei falsche Platten. Dann kriegt man Panik und es ist vorbei.“
Diese magische Beziehung entsteht aber nicht, indem Nina das gesamte Publikum im Blick hat. Sie erzählt von der Schauspieltheorie Michael Tschechows. Für Tschechow war nicht entscheidend, was auf der Bühne vorgeführt wird, sondern die Konzentration auf und die Aufmerksamkeit für das Publikum. Sich als Schauspieler auf die Knöpfe an der Jacke einer Person im Publikum zu konzentrieren fesselt mehr als die komplizierteste Akrobatik. „Ich will den Leuten in die Augen schauen. Meistens finde ich zwei oder drei Leute, mit denen ich die ganze Zeit im Kontakt bin. Das habe ich im Propaganda gelernt.“
Über das Verhältnis zu ihrem Publikum beim Auflegen redet Nina wie von einer Liebesbeziehung. Liebe und Party funktionieren analog zueinander: Es geht um Verführung, aber auch darum, wie man für den Partner auch nach langer Zeit noch aufregend bleibt. Was zwischen zwei Menschen Monate und Jahre sind, spielt sich auf einer Party innerhalb von Stunden ab. Letztlich steht dahinter die Überzeugung, dass auch an so einem disparaten Ort wie einem Club eine verbindliche Beziehung gestaltet werden muss: „Ich habe eine starke Vorstellung davon, was es bedeutet mit jemandem länger zusammen zu sein. Im Gegensatz zur unverbindlichen erotischen Anziehung. Wenn du das Interesse der Person geweckt hast, tauchst du immer tiefer in den Menschen ein, das ist aufregend.“
Nina ist eine Schauspielerin. Ihre diversen realen und imaginären Gegenüber erlauben es ihr, sich in die verschiedensten Personen zu verwandeln. Mal ist sie das überdrehte kleine Mädchen, mal die professionelle, elegant-distanzierte Kulturarbeiterin. Mit einer Zigarette zwischen den Fingern kann sie eine femme fatale werden, hinter dem DJ-Deck ein potenter Mann mit dickeren Eiern als Jamie Jones. In ihrer Musik wird dieses Spiel nur in ihrer Stimme spürbar. Sie plaudert, verlangt, verführt, lehrt und beschwört.
Die Grooves bleiben von diesem Spiel unberührt. Sie kommen von woanders her, sie bringen ein tiefes körperliches Genießen zum Ausdruck. Sie müssen spröde, monoton und erratisch bleiben, denn jeder Versuch, ihnen ein Antlitz zu verleihen, macht sie zur Fratze. Das ist der Vorwurf, den sie mit ihrem Ansatz implizit an den herrschenden Clubsound richtet. Nina hat ein einzigartiges Vertrauen in und Gespür für die Körperlichkeit der Musik. Diese zu empfinden und dabei zu ertragen, dass alles andere unbestimmt bleiben muss, gelingt ihr auf einzigartige Weise. „Ich kann nicht sagen, was ich spiele. Es geht um den Groove und die Spannung, es muss eine Richtung haben. Und es muss eine Idee geben. Man muss sofort spüren, dass die Person etwas zu sagen hat. Wenn dir ein Mädchen auf der Straße begegnet – diese Geschichte haben mir Männer hundertmal erzählt – und ihre Augen diesen gewitzten Blick, dieses aufmerksame Schimmern haben. Aber du kannst nicht erklären, was dich so fesselt. Darum geht es: kein Sinn, aber doch einen Sinn.“ Sie wird immer leiser, spricht langsamer. Jetzt klingt ihre Stimme zart, brüchig: „Auf dem Weg kann man dann ziemlich entspannt sein und vergnügliche oder wütende Momente haben. Aber trotzdem geht man einem Ziel entgegen, es gibt ein Ende. Irgendwann ist es vorbei.“ „Und was passiert dann?“, frage ich. Das war die falsche Frage. Bestimmt, fast ein wenig enttäuscht erklärt sie: „Das ist bedeutungslos. Es geht darum, was sich daraus ergibt, dass die Zeit begrenzt ist. No purpose, but still a purpose.”