Bradley Zero (Foto: Presse)
Bekannt wurde der britische DJ durch seine Ansagen bei den ersten Boiler Rooms, die um 2010 herum in London entstanden. Mittlerweile ist Bradley Zero Chef vom Plattenlabel Rhythm Section International und Host bei NTS, zieht wichtige Fäden im Hintergrund der Londoner Clubszene und achtet in erster Linie darauf, andere ins Scheinwerferlicht rücken.
Seine DJ-Sets leben von Techno und House, die er gekonnt mit Jazz, Soul und Hip Hop untermalt. Für dieses Feature sprach er mit GROOVE-Autor Moritz Weber über seinen unbeabsichtigten Weg zum DJ und Labelchef, über die neue Rhythm-Section-Compilation SHOUTS 2021, eine mögliche London-Berlin-Connection und warum er selbst niemals einen Track veröffentlichen wird.
Nach einem kleinen Missverständnis zwischen Londoner und Berliner Zeit werde ich von einem gut gelaunten Bradley Zero begrüßt. Überall in seinem Zimmer stehen Pflanzen, vereinzelt liegen Platten auf dem Boden, wenn sie nicht gerade aus dem vollen Schrank herausquellen. Auf seinem Schreibtisch sind Plattenspieler und Mixer für seine Radioshow aufgebaut. NTS- und Rhythm-Section-Sticker kleben auf den Möbeln. Seine langen schwarzen Dreadlocks sind zusammengebunden, und mir strahlt ein breites Grinsen entgegen, das an seine Boiler-Room-Videos erinnert.
„Es war der verrückteste Kontakt mit all dieser Musik, die ich damals aus der Ferne bewunderte, und – whoom – plötzlich war ich mittendrin!” Das ist das Erste, was Bradley einfällt nach seiner Zeit bei Boiler Room. Nach einem Studium der Bildenden Künste in London arbeitete er zunächst in einem Apple Store, da er in der Kunstszene nicht Fuß fassen konnte. Seinen Alltag bestimmten DJ-Sets in kleineren Clubs, auf Hauspartys oder auf Outdoor Raves.
2009 startete er seine eigene Radioshow auf NTS und organisierte zwei Jahre später bereits kleinere Partys, die schon damals unter dem Motto Rhythm Section liefen. Trotz bescheidener Mittel erzeugten die Partys ihren ganz eigenen Charme – Vinyl-Only, keine vorab bekannten Set-Zeiten und ein familiäres Umfeld lockten viele Menschen in den südlich gelegenen Stadtteil Peckham. Nach und nach setzten sich diese Partys als wichtiger Bestandteil der Londoner Clubszene durch – und schon bald klopfte das Team von Boiler Room an.
„Boiler Room ist mittlerweile eine riesige Maschine, die weltweit über 100 Mitarbeiter*innen beschäftigt. Aber damals haben wir zu fünft oder zu sechst in einem kleinen Schlafzimmer gearbeitet. Wir haben alles gemacht – Flüge gebucht, Securitys angerufen, Putzkräfte organisiert, Flyer designt, das Line-Up zusammengestellt. Drei- bis fünfmal pro Woche, das war Wahnsinn.”
Bradley kommt aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus. „Es ist schwer zu beschreiben, wie wild es wirklich war. In der einen Minute sah ich Dokumentationen über Theo Parrish und Carl Craig, studierte ihre Arbeit und stellte mir vor, sie überhaupt mal spielen zu sehen oder selbst meine gesammelte Musik in der richtigen Umgebung, am richtigen Ort spielen zu können. In der nächsten Minute war ich in Detroit und veranstaltete ein Event mit Kyle Hall und Richie Hawtin. Ich fragte mich: was zum Teufel ist hier los?”
„Das waren diese verrückten Momente, in denen man all seinen Held*innen begegnet ist. Und ich habe mich selbst gekniffen, um sicherzugehen, dass es echt war.”
Eine interessante Zeit – Boiler Room als neue Plattform und die Größen der elektronischen Musik, für die zu Beginn noch die Kamera mit Tape an der Wand befestigt wurde, um sie zu filmen. „Das waren diese verrückten Momente, in denen man all seinen Held*innen begegnet ist. Und ich habe mich selbst gekniffen, um sicherzugehen, dass es echt war.”
Und mittendrin ein junger DJ, ursprünglich geboren in Leeds, der unendlich viel Musik aufsaugen konnte und quer durch die Welt reiste. Als Promoter und Ansager wurde er zusätzlich zum Anlaufpunkt für neue Musik. „Die Leute haben mir wirklich gute Musik zugeschickt. Es war sinnvoll, ein Label zu gründen. Ich hatte bereits die Follower*innen der Rhythm-Section-Partys. Es fühlte sich einfach natürlich an. Es wäre ein echter Verlust für die Musik gewesen, das Projekt nicht zu starten.”
Nach drei Jahren Boiler Room gründete Bradley Zero sein Label Rhythm Section International und brachte die erste EP, Al Dobson Jrs. Rye Lane Vol 1., raus. Genau das war auch der Plan, es gab keine konkrete Vorauswahl: Eine groovige Platte, die den Sound von Rhythm Section definieren sollte – gleichzeitig ein Künstler aus Peckham, der die Energie und den warmen Stil der Straßen widerspiegeln kann. Auch hier war alles selbstgemacht – vom Artwork der Platten über das Pressing bis hin zum Versand. „Ich hatte immer Vertrauen in das Projekt. Klar hat man Höhen und Tiefen. Dafür gibt es keinen Leitfaden. Ich lerne immer noch etwas dazu, es hört nie auf. Das Schöne und das Schwierige an der Leitung eines Labels ist, dass es so viele Variablen gibt.”
Dabei hatte sich Bradley Zero nie vorgestellt, als DJ überhaupt Geld zu verdienen. „Ich habe nie daran gedacht, dass DJ zu sein ein Beruf für mich sein könnte. Es war ganz normal, denn als ich klein war, war ich zu Hause von solchen Dingen umgeben. Mein Vater hatte immer seine Decks draußen, er liebte sein Soundsystem oder reinigte seine Platten.” Dazu kommt noch, dass er vor Bradleys Geburt einen eigenen Plattenladen hatte.
Der hält kurz inne und fährt dann bescheiden fort: „Das war ganz normal. Es war einfach da. Und ich habe es nicht in irgendeiner Weise verfolgt, um es professionell zu machen. Ich glaube, die Dinge haben sich geändert, als ich anfing, in Clubs aufzulegen.” Die Absicht, als DJ in der Musikwelt durchzustarten, gab es nie konkret. Das zeigt auch sein musikalischer Blick: „Ich habe mit dem Sammeln von Schallplatten begonnen, als ich 15 oder 16 Jahre alt war. Ich glaube, es hat etwas mit Sammeln zu tun, mit Suchen und Finden und Bilden. Es war ein Drang, eine Collection aufzubauen. Ich habe das schon immer gemacht.”
„Das Tolle am DJing ist, dass man das, wovon man besessen ist, in Freude umsetzen und andere Leute damit emotional berühren kann.”
Auch als ich ihn danach frage, warum er nach über 20 Arrangements für andere Künstler*innen unter seinem eigenen Namen nichts veröffentlichen möchte, antwortet er sehr direkt und entschlossen. „Ich bin hauptsächlich hinter den Kulissen tätig; A&R, Produktionsleitung, sage bei Dingen, wie sie laufen sollten, oder gebe Feedback, wie ein Track angeordnet werden könnte. Aber ich bin nicht wirklich ein praktischer Studioproduzent.”
Dann scherzt Bradley wieder. „Was die Produktion anbelangt: Das ist nichts, was ich besonders gut kann. Ich habe ein gutes Gehör. Und mein gutes Gehör kann mir sagen, wozu ich fähig bin. Und meine Produktionsskills sind definitiv nicht gut genug. Ich habe viel mehr Freude daran, zu helfen, etwas anzustoßen, und in der Lage zu sein, eine Plattform zu bieten und zu teilen. Ich denke, das ist meine Stärke.”
Nach mehreren Jahren und mit fast 150 organisierten Events hat sich das Label immer mehr ins Zentrum der Londoner Clubszene gerückt. Neue Künstler*innen kamen hinzu und eine immer einnehmendere freundschaftliche und familiäre Stimmung machte sich breit. „Die positive Einstellung ist ungeheuer wichtig, ich möchte gerne bleibende Freundschaften schließen”, erzählt Bradley. Das Ursprungsteam von Rhythm Section hat sich seit der Gründung nicht verändert.
Zum fünfjährigen Jubiläum kam die erste Ausgabe von SHOUTS, eine Meilenstein-Compilation, eine Bestandsaufnahme mit etablierten und weniger bekannten Weggefährt*innen des Südlondoner Labels wie Yu Su, Apiento oder Prequel. Direkt ein Jahr später folgte die Nächste. „Es ist eine Plattform, um über Dinge zu berichten, die wir lieben und die wir gerne weiterverbreiten möchten. Wir kommen in Kontakt mit Künstler*innen, die wir bewundern, mit neuen Künstler*innen, die wir im Radio unterstützen, die aber vielleicht nicht genug Material für ein ganzes Album haben. Wir haben die Möglichkeit die Musik viel schneller zu veröffentlichen.”
Diesmal ist nicht nur die Szene aus dem Londoner Umkreis dabei, sondern Künstler*innen aus der ganzen Welt. Auch musikalisch entfernt sich die Compilation ein wenig von der ersten Ausgabe und umfasst Einflüsse aus Funk, R’n’B, Spoken Word oder Jazz. Zunächst war die erste Ausgabe nur als eine einmalige Sache gedacht. Sozusagen als Bestandsaufnahme, was als Team zusammen erreicht wurde – 50 Veröffentlichungen aus unterschiedlichsten Genres in sechs Jahren. Jedoch lässt Bradley nebenbei fallen, dass ein rein digitales Sublabel die Compilation regelmäßig weiterführen könnte.
Es sitzt eine sehr bescheidene Person vor mir. Eine Person, die auf dem Boden der Tatsachen geblieben ist. Schließlich ist er nicht mit einem Song oder Album berühmt geworden, sondern hat sich über viele Jahre seine Rolle erarbeitet – und das merkt man. Er redet nicht direkt drauf los, sondern wirkt sehr reflektiert und überlegt. Es kommt auch nicht das Gefühl auf, als würden Bradley nur Geld und Erfolg antreiben. Viel lieber möchte er als Freund und Helfer gesehen werden.
Eine Person, bei der man immer weiß, dass er seine Hilfe anbietet. Sein natürlicher Weg zur Musik hat ihn so geprägt, dass er für sich persönlich erfolgreich sein möchte. Und genau so funktionieren alle Projekte, die er anfasst. Sei es ein DJ-Set, seine Arbeit als Labelchef oder eine seiner Radioshows – alle finden in der ganz eigenen Stimmung statt, die er gefühlt mühelos erzeugt.
Neben ganzen Tagen in verschiedenen Plattenläden sucht Bradley auch auf anderen Plattformen nach neuer Musik und Inspirationen. „Ich habe bestimmte Tage, an denen ich aktiv Musik höre. Und die Art und Weise, wie ich das tue, ist über das Radio. Das Radio ist also eine wirklich schöne, wiederkehrende Sache, die aktive Suche bedeutet.” Seit einigen Jahren bilden Streamingradios eine neue Plattform, um neue Musik und Künstler*innen zu finden. Bradley gehört zu den Personen, die diesen Prozess mitgegangen sind.
Bei seinen Radioshows bedient er sich hauptsächlich seiner großen Plattensammlung, aber präsentiert auch neue Releases oder unveröffentlichte Songs von kleineren Labels „Man erreicht im Grunde genommen viel mehr Menschen, aber man sollte sich dessen auch bewusst sein, denn es hängt wirklich davon ab, was man spielt. Und was man spielt, hat keine direkten Auswirkungen auf Menschen, die man sehen und fühlen kann. Es ist eine Konversation, aber auf eine andere Art und Weise. Es ist eher wie eine Art Predigt. Den Tag vor einer Radiosendung verbringe ich damit, Musik zu hören oder in Plattenläden zu gehen. Die NTS-Sendung ist die Art von Anker, die neue Musik hervorbringt, weil sie dort gebraucht wird.”
Seine nüchterne Herangehensweise mit einem klaren Blick auf die Musikindustrie führte Bradley Zero dahin, wo er jetzt steht. „Es hat sich viel verändert. Jetzt wollen die Leute DJ werden, einen Agenten haben, dieses glamouröse Leben führen. Das ist eine lustige Sache. Es gibt diesen glamourösen Moment, ein kurzes Aufflackern von Glamour, wenn du auf der Bühne stehst mit einer Flasche Champagner oder was auch immer. Und alle tanzen, und all diese schönen Menschen sind hinter der Bühne. Das passiert etwa eine Stunde im Monat. Und den Rest der Zeit arbeitet man in einem Büro bis spät in die Nacht. Man schickt tonnenweise E-Mails. Man hört eine Demo nach der anderen an, eine Promo nach der anderen. Ich verbringe ganze Tage damit, Platten aus dem Schrank zu reißen und sie auszuprobieren. Es ist harte Arbeit, die sich über Jahre hinweg auszahlt. Ich engagiere mich einfach für Dinge, die mir wirklich am Herzen liegen.”
„Wenn man vor Publikum spielt, ist das wirklich eine Unterhaltung basierend auf Gegenseitigkeit.”
Auch als irgendwann das Thema Corona und Lockdown aufkommt, überrascht erneut Zeros reflektierte Art – eine gewisse Skepsis gegenüber den frühzeitigen Öffnungen in London vermischt sich mit der absoluten Freude, wieder vor einem Publikum spielen zu können. „Es war wirklich nervenaufreibend. Ich hatte mich schon lange nicht mehr auf dieses Gefühl eingelassen, mit den Emotionen einer Menschenmenge zu spielen. Eine Crowd zu spüren, zu verstehen, was man tun muss, um von Punkt A zu Punkt B zu Punkt C zu gelangen, um die Energie zu erhöhen. Ich habe eine Weile gebraucht, um diese Rezeptoren in meinem Gehirn wieder zu finden. Das ist eine ziemlich abstrakte Sache, die schwierig zu beschreiben ist. Es ist ein großer Unterschied, ob man vor 1000 Leuten spielt oder im Radio.”
Nun finden wieder regelmäßige Rhythm-Section-Partys statt, der Terminkalender ist voll. „Es gab ein paar freudige Momente, in denen es Klick machte und ich das Gefühl hatte, endlich wieder zurück zu sein. Die erste Party war ein Moment des reinen Glücks. Aber dazwischen war es wirklich nervenaufreibend, denn es gab viel Angst und Zögern, in einen überfüllten Raum zurückzukehren.”
Bradley Zero hat sich ein Umfeld errichtet, in dem er den versteckten Mittelpunkt darstellt. Ein familiäres Plattenlabel, auf dem er die Künstler*innen in den Vordergrund stellt und jenseits des Scheinwerferlichts die Fäden zieht. Auch während des ersten Lockdowns versuchte er alles, um sein Team durch die Krise zu bringen. „Nach dem ersten Schock habe ich als Erstes versucht, die Aufmerksamkeit wieder auf das Team zu lenken. Zu diesem Zeitpunkt waren wir fünf Leute, die für Rhythm Section arbeiteten. Jetzt sind es mehr. Aber damals hatte ich die große Verantwortung, alle irgendwie auf Trab zu halten. Die Mitarbeiter*innen sind im Wesentlichen Freiberufler*innen. Wenn sie also nicht von mir bezahlt werden, werden sie auch von niemand anderem bezahlt.”
Kurzarbeit oder Kündigen waren kein Thema. „Wir haben es geschafft, und es hat wirklich funktioniert. Wir haben uns darauf konzentriert, neue Veröffentlichungen voranzutreiben, neues Merch zu kreieren, auf Bandcamp unsere Präsenz zu steigern, den Leuten Mastering-Kurse anzubieten und solche Dinge halt.”
Bei diesem herausfordernden Schritt dürfte sicherlich das abgeschlossene Studium geholfen haben. Neben der Arbeit für sein Label nutze Bradley seine Zeit im Lockdown nämlich zum Lernen und absolvierte einen Master im Wirtschaftsbereich, um weiterhin unabhängig seine Labelarbeit zu verbessern
Gleichzeitig arbeitet er an der Gründung einer Sonnenbrillenmarke namens Subsun – ein neues Projekt, ein Kontrast zum Labelgeschäft. „Ich neige dazu, mich selbst herauszufordern. Ich beschwere mich immer, dass ich zu beschäftigt bin und keine Zeit habe. Und sobald ich etwas Zeit finde und das Projekt beende, das mich davon abhält, was ich eigentlich tun wollte, finde ich etwas anderes, das mich herausfordert. Das ist ein guter und ein schlechter Tausch. Es ist etwas in mir, das dieses Nichts mit Aktion füllen muss.”
Wie wird es in Zukunft weitergehen? Eine Berlin-London-Connection mit regelmäßigen Partys schließt er jedenfalls nicht aus. Neue Künstler*innen-Signings für das Label, viele anstehende Releases und eine weltweite Rhythm-Section-Tour sind bereits beschlossen. Dabei betont er, dass Berlin ganz klar auf seiner Liste steht. „Wir scheinen eine Menge Fans von Rhythm Section in Berlin zu haben. Aber irgendwie werde ich nicht oft gebeten, dort zu spielen. Und ich denke, das muss sich ändern.”
Bradley fängt kurz an zu lachen und redet schmunzelnd weiter. „Ich denke, der Sound in Berlin verändert sich in einer Weise, dass Techno weniger dominant wird. Ich meine, es gibt einen großen Raum für Techno. Ich mag Techno. Ich spiele Techno. Ich denke, dass Techno lange Zeit so übermächtig war, dass alles, was von dieser strengen Form abwich, nicht hineinpasste. Ich habe das Gefühl, dass sich das jetzt ändert. Und ich glaube, Berlin ist ein bisschen funkiger. Ich glaube, Berlin ist offen für eine gewisse musikalische Vielfalt. Und das ist sicherlich eine gute Sache.”