Illustration: Super Quiet
Zuerst erschienen in Groove 163 (November/Dezember 2016).
Das Entdecken neuer, aber auch alter Musik war noch nie so einfach wie heute – Internet, Streaming und sich optimierenden Algorithmen sei Dank. Doch wie diggt man noch altes Vinyl? Muss ich dafür aus dem Haus oder kann ich das auch digital machen? Beziehungsweise kann ich das mit den Schallplatten gleich ganz lassen? Unser Autor Carlos de Brito hat sich auf die Suche begeben.
Sich mit der Atemmaske durch staubige Keller und Hinterzimmer wie in The Thing in New York wühlen, bei Platten Pedro in Berlin inmitten von rund 100.000 Schallplatten nicht wissen, wo anzufangen, oder auf einem Flohmarkt zwischen Gerümpel in einer verlorenen Kiste nach schwarzem Gold schürfen: Das sind nur einige der Bilder, die man im Kopf hat, wenn man an Digging, kurz für „digging the crates“, denkt. Diese Kulturtechnik ist, so das Internetlexikon Urban Dictionary, dadurch gekennzeichnet, dass sie a) an Orten geschieht, wo eine gewisse Unordnung herrscht – im Gegensatz zum sortierten Plattenladen, b) man ohne bestimmte Kaufintention den Laden betritt, c) man auf bis dato unbekannte Musik stößt und d) sich stundenlang dafür Zeit nimmt – alles andere wäre Shopping. Andere beziehen Digging explizit auf das Suchen nach Samples oder Sample-Quellen, also eher aus der Produzentenperspektive gesehen. Ob man den Begriff so eng fassen mag oder ob eine Stunde gebückt in den Ramschkisten graben auch schon unter Digging fällt: Es geht um das Entdecken von alter, vergessener und unentdeckter Musik – auf Vinyl.
Mehrwert vs. Bequemlichkeit
Die Vinylverkäufe der vergangenen Jahre zeigen seltsam anmutende Wachstumsraten. Grund dafür sind hauptsächlich Reissues bekannter (Major-)Platten; Vinyl ist modisch, es gibt Platten bei Urban Outfitters und in den Presswerken stehen – Record Store Day sei Undank – Labels monatelang auf der Warteliste, um endlich ihre kleinen Auflagen pressen zu lassen. Doch schaut man sich die Partyfotos in den sozialen Netzwerken an, sieht man da schon lange keine Plattenspieler mehr oder sie dienen lediglich als Laptop- bzw. Getränkeablage. Die auflegende Zunft ist aus Gründen der convenience, also jener im Englischen existierenden Doppelbedeutung aus Bequemlichkeit (keine Platten mehr schleppen) und Praktikabilität (Editier- und Loopfunktionen) bereits seit Jahren auf digitale Medien umgestiegen.
Helena Hauff:
“YouTube und Discogs funktionieren nur teilweise, irgendwann befindet man sich leider immer in einer Endlosschleife.” Zum Interview.
DJs wie die Hamburgerin Helena Hauff, die noch zu 100 Prozent mit Vinyl auflegen, sind im DJ-Circuit selten geworden. Selbst Motor City Drum Ensemble, der immer mal wieder alte Scheiben mit seinen Sets zurück bzw. erstmalig ins kollektive Gedächtnis hievt, legt laut eigener Aussage relativ viel mit Sticks auf; zu frustrierend sind die technischen Bedingungen und Probleme vor Ort. „Wenn ich aber den Club kenne und weiß, dass Vinyl wirklich einen Mehrwert bringt, dann packe ich nach wie vor lieber zu viel als zu wenig Platten ein“, erklärt er. Kaum jemand spielt also mehr Platten und doch erfreut sich Digging nach wie vor großer Beliebtheit. Alle vier von uns befragten DJs – Alex.Do, Helena Hauff, MCDE und Uta – gehen regelmäßig stöbern, wann immer sie können. Letztere sagt: „Es gibt für mich nichts Schöneres, als in anderen Städten und Ländern nach Musik zu suchen und dadurch mit Menschen in Kontakt zu kommen, die Musik genauso lieben wie ich.“
Motor City Drum Ensemble:
“Ich kaufe mehr Platten als je zuvor.” Zum Interview.
Auch im Netz ist Digging ein Thema, oder Content, wie man es dort nennt: Red Bull Music Academy begleitet zum Beispiel Madlib nach Brasilien auf der Suche nach raren Stücken, Amoeba Music aus San Francisco hat mittlerweile eine YouTube-Reihe mit rund 400 Videos und stabilen 42 Millionen Aufrufen auf die Beine gestellt, die Musiker und DJs mit Musikfunden aus ihren Läden präsentiert – von Duran Duran über DJ Spinna bis zu Gerd Janson. Offline – trotz allgemeinem Plattenladensterben – ist mit The Record Loft vor rund zwei Jahren ein viel beachteter Second-Hand-Plattenladen für elektronische Musik im Herzen Kreuzbergs aufgetaucht, der Käufer aus aller Welt anzieht. Die beiden ehemaligen Booker und Labelbetreiber James Creed und Josh Tweek wiederum haben mit The Ghost einen Second-Hand-Laden in einem Siebzigerjahre-Mercedes-Bus eröffnet. Der Bus, der auf einem Hinterhof in der Nähe des Berliner Dreiländerecks Kreuzberg, Neukölln und Treptow parkt, öffnet nach persönlicher Vereinbarung: „Manchmal fahren wir auch zu Leuten. Einmal in der Woche ist public day, meist vor dem Club der Visionäre. Berlin ist ein prima Ort für solch eine Unternehmung. Es kommen teilweise Leute aus Südamerika mit leeren Plattentaschen hierhin und reisen mit einer vollen wieder zurück“, erklärt James.