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RÜCKSCHAU Heart of Noise 2015 von A bis Z

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Text: Sebastian Weiß, Fotos: Daniel Jarosch, Sebastian Weiß (oben)

A wie Alpen

Vollkommen treffend wird Innsbruck – als Ort des Heart of Noise-Festivals – in Reiseführern gerne als die Hauptstadt der Alpen bezeichnet. Nicht viele Festivals bieten ein derart freigeistiges Programm zwischen Noise, Experimentalmusik und elektronischer Peripherie einerseits und eine sagenhaft-idyllische Kulisse mit Blick auf die nördlichen Zentralalpen andererseits. Inklusive des historischen Stadtkerns stellt Innsbruck wirklich eine einzigartige Begegnungsstätte für ein Festival jenseits von populären Genres dar.

B wie The Bug

Kevin Martin alias The Bug sorgte Donnerstagnacht als erster Headliner gleich mal für einen Quasi-Eklat. Der Brite trotzte nicht nur einigen Soundproblemen, sondern spaltete mit seinem ohrenbetäubenden und Bass-gewaltigen Set die Meinungen der Besucher. Sein eigener Facebook-Post, in dem er sich unter anderem auch über die Organisation beschwert, fasst das Reaktionsspektrum ganz gut zusammen: „Tonite, one guy in the crowd kept shouting “The Bug is god!”, whilst another shouted at me and threatened me, insisting, “ASSHOLE, you killed my ears, you fuckin crazy bastard, you fuckin ASSHOLE”..So, i guess you could say it was extreme…“. Angesichts des von ihm verwendeten Twin Ampeg-Verstärkers und der brutalen Attitüde seines Vokalisten Manga ist „extrem“ eine ziemlich passende Kategorie für Martins Performance.

 

the-bug

 

C wie Cunningham, Darren (alias Actress) 

Mit seinem Projekt Actress beendete Darren J. Cunningham in der Nacht zum Sonntag das Festival mit einem Set, das man durchaus als Personifikation des diesjährigen Festivalmottos „From Ontology To Hedonism With No Breaks“ (siehe H wie Hedonismus) deuten konnte. Was der Brite bereits jüngst auf seiner DJ-Kicks-Compilation andeutete, zeigte auch die Präsentation seiner eigenen Stücke: Actress demontiert Techno in seine Einzelteile, verbindet rhythmisch mordide Bewegungen mit (White) Noise(s) und setzt sich mal tanzbar, mal flächig mit einer großen Portion Eigensinnigkeit in selbst kreierte (Trance-)Schnittstellen.

 

Actress

 

D wie Distanzen

Ein riesiges Plus beim Heart of Noise waren die besucherfreundlichen Distanzen zwischen den insgesamt vier Locations: Stadtsaal, Para Noise Garden, Gotischer Keller und Adlers Top Roof. Alles sehr dicht bei-, und nur wenige Meter voneinander entfernt.

E wie Einheit Brötzmann

Als „Ikonentreffen“ kündigten die Organisatoren die Kollaboration von FM Einheit und Casper Brötzmann an, und haben mit diesem Superlativ nicht zu wenig versprochen, kamen doch gerade alle Industrial-Spezis bei einem der intensivsten Aufritte des Festivals auf ihren Geschmack: Während sich Gitarrist Brötzmann an seinen Feedback-Rückkopplungen ergötzte, zerkloppte der Schlagzeuger der Einstürzenden Neubauten auf seinem riesigen Stahltisch dicke Ziegelsteine oder schickte mit einer Bohrmaschine die Ohren der Besucher auf eine auditive Tour de Force.

 

einheit-broetzmann

 

F wie Fernow, Dominic (alias Prurient)

Apropos Tour de Force: Dominic Fernow sorgte mit seinem Prurient-Set sicherlich für die größte Verstörung beim Publikum. Irgendwo zwischen Noise, Techno und einer derben Punk-Attitüde verletzte der New Yorker (unter anderem auch bekannt als Vatican Shadow) nicht nur das eine oder andere Trommelfell, sondern entpuppte sich als einer der kompromisslosesten Acts beim Heart of Noise. Die am häufigsten gestellte Frage nach seinem Auftritt: „Könnt Ihr mir das mal erklären – was war das jetzt eigentlich?“ Unser spontaner Versuch einer Antwort: Anti-Yoga-Musik.

 

prurient

 

G wie Gaga

Der Duden weist für das Adjektiv „gaga“ unter anderem Bedeutungen wie „nicht bei Sinnen“ oder „von allen guten Geistern verlassen“ aus. Durchaus passende Attribute für die Idee, das Festival von der Kunstfigur Alexander Marcus eröffnen zu lassen. Die Spaßnudel verbindet Schlagertexte mit billigen Housebeats und schimpft sich deshalb als „Electrolore“-Erfinder. Seine halbe Playback-Show im Para Noise Garden als Kontrast zum restlichen Line-up zu deklarieren, käme einem Euphemismus gleich. Antithese trifft es schon eher, gerade auch weil sein Song „Homo Dance“ durchaus mit Homophobie kokettiert. Ein zum Fremdschämen einladender Auftritt zwischen ZDF-Fernsehgarten-Charme und Atzen-Disko-Stimmung. Ziemlich gaga!

H wie Hedonismus

„From Ontology To Hedonism With No Breaks“ ist zweifelsfrei ein sperriger Slogan. Verkürzt könnte man auch salopp sagen: Anything goes. Ganz im Sinne von: Alles kann und noch vielmehr muss. Was der beschriebene Weg von der Wirklichkeit zum zügellosen Hedonismus aber ebenfalls zum Ausdruck bringt, ist der Gedanke, dass jede Musikrichtung und jede noch so affige Performance von dem einen gemocht, doch vom anderen gehasst werden kann. Nicht nur Geschmack, sondern auch die Wahrnehmung jeden einzelnen Zuhörers ist verschieden. So gesehen kann der Auftritt von Alexander Marcus auch als cleveres Kalkül der beiden Festivalkuratoren Stefan Meister und Chris Koubek betrachtet werden.

I wie Innode

Stefan Németh arbeitet als studierter Zoologe im Bereich der Molekularbiologie. Dass der Mann aus Wien also etwas von Strukturen und der Interaktion von Prozessen versteht, zeigte auch sein audiovisueller Aufritt unter seinem Alias Innode. Mit analogen Synthesizern und einem Live-Schlagzeuger konstruierte er rhythmisch höchst präzise Beat-Konstrukte, deren melodiöse Anwandlungen immer wieder seinen Hang ins Melodramatische offenlegten. Sowohl die zahlreichen gewieft aufgebauten Drum-Schichten als auch der subtile Klimax seiner Crescendo-artigen Performance haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

 

innode

 

J wie Jazz

Der trockene Blick auf das Programm ließ zwar eine sehr schmale, musikalische Streuung erwarten, distanzierte man sich allerdings von den gängigen Genreschubladen, so fiel beim Heart of Noise vor allem eines auf: Die durchaus homogene Methode diverser Künstler, Musik als grenzenlose Entscheidungsmöglichkeit zu verstehen, die sowohl auf den Moment als auch souveräne Unabhängigkeit setzt. Neben den offensichtlichen Assoziationen schwangen deshalb im Subtext der Konzerte sowohl Jazz als auch Krautrock mit – weniger als Genres, vielmehr als latente Blaupausen.

K wie Krautrock

Auch wenn der ewig streitbare (Genre-)Begriff – im Vergleich zum Heart of Noise 2014 – zumindest aus dem Festivalprogramm getilgt wurde, war der prinzipielle Gusto von Krautrock ebenfalls im Verborgenen ein ständiger Gast. Gerade die Auftritte von Künstlern wie dem Trio Noiz zeigten, welche Macht eine improvisierte und unmittelbare Klangsprache haben kann.

L wie Licht

Neben der streitbaren Lautstärke (siehe X wie XXL-Volume) war zudem auch die Lichtinstallation beim Heart of Noise wirklich bemerkenswert. In den Umbaupausen wurde der Stadtsaal nicht nur in ein atmosphärisches Violett getaucht, die Licht-Jockeys hatten an allen drei Tagen, und das trotz der musikalischen Ecken und Kanten, ein beeindruckendes Gespür für fortwährend passende Farben und Formen. Klar, hin und wieder war durchaus etwas zu viel Action geboten, etwa wenn alle Moving Lights wie verrückt durch den Saal strahlten. Aber alleine die Licht-Klang-Dialoge bei den Sets von Innode oder Shifted waren mustergültig.

 

licht

 

M wie Mischung des Publikums

Unter den sicherlich weniger als 2000 Menschen, die das Heart of Noise besuchten, war das Publikum tatsächlich ziemlich durchmischt – auch wenn das Gros sicherlich aus österreichischen Gästen aus der Region bestand. Hier traf der gechillte Kiffer auf den langhaarigen Metaller, das gebildete Pärchen auf Party-motivierte Jugendliche, der introvertierte Noise-Freak auf die BPM-hungrigen Raver.

N wie Noise

Auf der inoffiziellen Strichliste für die am häufigsten gefallenen Worte während des Festivals stand der Noise-Begriff mit großem Abstand auf Platz Eins. Einfach nur Krach machen, kann natürlich jeder. Dem Heart of Noise ist es fürderhin gelungen, eine ziemlich breitangelegte Reflexion über die Bedeutung des Begriffs auf der einen, sowie über das Genre auf der anderen Seite anzubieten. Wie heißt doch dieses schöne Zitat: „People who make no noise are dangerous.“

O wie Objekt

Dass der in Berlin lebende Produzent Objekt Freitagnacht bereits eines der tanzbarsten Sets aufs wortwörtliche Parkett legte, verdeutlicht den sublimen No-Dance-Habitus des Festivals. Obwohl der Projektname des gebürtigen Briten entfernt auf die frühe Elektronikzeit hindeutet, bildeten vor allem subsonische Bässe sein Fundament, wobei TJ Hertz mal düster verhuschte Vocalsamples, mal metallisch dröhnende Sounds in seine 120 Minuten einspeiste. 4/4-Takte waren nicht die Einzige, die hier aufgebrochen wurden: Don’t call it techno!

 

objekt

 

P wie Para Noise Garden

Als öffentlicher Raum für Klang-, Frei- und Stadtraum gedacht, stand die von den Architekten columbosnext entworfene Skulptur „Satellit“ im Mittelpunkt des so genannten Para Noise Garden. Aufgrund des schlechten Wetters wurden die meisten (sogar kostenfreien) Auftritte aber leider ins Foyer des Stadtsaals verlegt. So bleibt ein unverschuldeter, doch bitterer Nachgeschmack, das auf der als „konsumfreie[n] Zone“ präsentierten Bühne – neben dem Duo Knrrz – lediglich Alexander Marcus zu hören war.

 

para-noise

 

Q wie Quiet Ensemble

Dem römischen Duo Quiet Ensemble war es als einzigem Act vorenthalten, im Gotischen Keller von Innsbruck zu spielen. Während ihre Installation „Quintetto“ mit Hilfe einer Software die Bewegungen von fünf Fischen in Klänge umwandelte, gehörte die Live-Performance „The Enlightenment“ eindeutig zu einem der Festival-Highlights. Zahlreiche Neonlichter, verschiedene Scheinwerfer und Stroboskop-Gewitter ergaben ein beeindruckendes „Lichtorchester“, das in der historischen Location mit den restaurierten Gewölben einen perfekten Platz fand.

 


Video: Quiet EnsembleThe Enlightment

 

R wie Roof Top Adlers

Auf dem Dach des Adlers Hotel sollte zur Einstimmung in den Freitagabend mit den Künstlern Alaska Al, Fluktuation8 und Dalhous der etwas floororientierte Teil des Festivals stattfinden. Mögen die Sets der Protagonisten bei dem einen oder anderen Drink zwar geschmeckt haben, eine Open-Air-Party macht bei Wind und Regen trotz schützender Schirme nur wenig Freude.

S wie Shifted

Gerade weil seine letzte Doppel-EP „Arrangements in Monochrome“ Noise- und Industrial-Stimmungen beherbergte, machte der Co-Chef des Avian-Labels im Programm ziemlich viel Sinn. Wer jedoch allzu Verschnörkeltes erwartet hatte, wurde eines Besseren belehrt: Shifted setzte den Big Room nicht nur als Maßstab, sondern brachte mit trotziger Bassdrum und einem hypnotischen Spleen für metallisch sowie hart wabernden Sounds ein für das Heart of Noise Festival fast schon straightes Technoset ins Rollen. Reduzierter Angriffstechno, der handwerklich ohne einen Fehler auskam.

T wie Time Is The Soul Of Things

Eine Gruppe junger KünstlerInnen reflektierte mit ihrer Performance „Time Is The Soul of Things“ auf abstrakte und plastische Weise das Verhältnis zwischen Zeit und Digitalisierung. Eine übergroße Plane, unter die weißer Rauch geblasen wurde, mutierte zu einer Art temporärem Gefängnis, in dem sich die unbekannten (und nicht zu sehenden) Insassen dennoch darum bemühten, die Statur mit zunehmender Dauer in Form zu halten. Währenddessen wurden bunt-verschmolzene Visuals auf die Plane projiziert.

 

soul-of-things

 

U wie Universität für angewandte Kunst Wien

Sowohl die zuletzt genannte Performance, als auch die interaktive Installation „The Generative Artist On Tour“ im Foyer des Stadtsaals präsentierten Arbeiten der StudentInnen der Universität für angewandte Kunst Wien. Im Eingangsbereich wurde das Publikum etwa Teil der ruhigen Ambientmusik, weil jede Bewegung, jeder Gegenstand auf den Tischen und sogar die Farbe der Kleidung mittels Videotracking an Synthesizer transportiert wurde. Ein spannendes Projekt mit großem Potential!

V wie Valerio Tricoli

Mit seinen Alben auf PAN zeigte Valerio Tricoli bereits eindrucksvoll, dass der Italiener ein großer Freund der Verfremdung ist. Mit seinem forschenden Set zeigte der Mann aus Palermo samt CD-Player, Laptop und einem großen Mischpult, warum das Festival die „Sein oder nicht sein“-Frage in diesem Jahr sogar ins Festivalmotto aufgenommen hat.

W wie Wetter

Mit viel Regen und eher sporadischen Sonnenstrahlen legte das Wetter eindeutig die enttäuschendste Performance des Festivals hin.

X wie XXL-Volume

Ob die extreme Breitseite von The Bug, das kreischende Noise-Techno-Hardcore-Set von Prurient oder das industrielle Live-Gemetzel von Perc – was alle Gigs im Stadtsaal Innsbruck gemein hatten, war die ohrenzerreißende Lautstärke. Sowohl die Marshall-Verstärker auf der Bühne, als auch der Warnhinweis am Eingang doch mit Ohrschützern vorzusorgen, waren nicht als Scherz gemeint und machten das Zuhalten der Ohren zur Festivalgeste schlechthin.

Y wie Year 2016

Die Veranstalter müssen sich demnächst nach einer neuen Main Location für das Heart of Noise 2016 umsehen, weil der Stadtsaal wohl abgerissen wird – zum Unverständnis vieler Besucher. Angeblich sei die Venue nicht mehr zeitgemäß. Nun, wir hätten uns zwar durchaus deutlich mehr Chill- oder Sitzmöglichkeiten gewünscht, dennoch konnte die Halle nicht nur mit einem zwar schwierig zu zähmenden, doch insgesamt breiten Sound überzeugen. Ebenfalls von Vorteil war, dass man die mobilen Stühle mühelos an den Rand verfrachten konnte, um somit recht schnell eine große Tanzfläche zu gewinnen.

 

stadtsaal

 

Z wie Zusammenfassung zum Heart of Noise 2015

Bis auf geringe Makel (wenige Sitzgelegenheiten im Stadtsaal) und einem großen Fragezeichen (Alexander Marcus) war das Heart of Noise 2015 definitiv die Reise wert. Sicherlich werden hier größtenteils musikalische Nischen fernab des großen Mainstreams in den Vordergrund gerückt, doch die Preise (Festivalticket = 35 Euro, Tagesticket = 15 Euro) sind mehr als fair und laden regelrecht zur Herausforderung des eigenen Trommelfells ein. Sowohl der tägliche Programmbeginn am späten Nachmittag als auch die kurzen Wege zwischen den Locations zeigen, dass in Innsbruck nicht nur die Musik mit Köpfchen ausgewählt wurde. Mit seinem interdisziplinären Ansatz ist das dreitägige Festival ganz klar ein Geheimtipp für alle Noise/Ambient/Drone-Freunde, die sich inmitten einer einzigartige Naturkulisse gerne mal akustisch vermöbeln lassen. Natürlich ist das Festival nicht für Jedermann geeignet, dafür bietet das durchdachte und trotzdem ausgewogene Programm aber sehr viel Entdeckungswürdiges. Bei gutem Wetter wäre unser Spaß freilich noch größer gewesen, doch selbst bei Regen und Schnee würden wir 2016 wieder zum Heart of Noise fahren.

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