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Motherboard: November 2025

Die in Los Angeles lebende kanadische Künstler:in mit dem gerne klein zu schreibenden Alias claire rousay hat definitiv einen Lauf. Nach den exzellenten Kollaborationen No Floor mit More Eaze im Frühjahr (Motherboard berichtete) und Quilted Lament mit Gretchen Korsmo im Sommer (ein äußerst gehaltvolles Ambient-Träumchen auf dem slowakischen Label Mappa) bringt der Herbst das Solowerk A Little Death (Thrill Jockey, 31. Oktober), das wiederum das ganze künstlerische Spektrum rousays auffächert und wieder in eins setzt. Introspektion und Voicemails, lärmige Messie-Momente, mikrotonale Drones, Lo-Fi-Spontanimprovisationen auf allerlei akustischen Instrumenten und versierte Streicherarrangements vermischen sich und verwehen wieder, neben-, auf- und ineinander. Selbstredend gibt es wieder Kollaborationen mit Korsmo, More Eaze, M. Sage und einigen mehr. Allein die Vocoder-Trap-Momente sind weitgehend verschwunden. In aller fragmentarischen Vorläufigkeit gibt das Album doch ein überwältigendes Statement über claire rousay als Kunstschaffende und nicht zuletzt über den Zustand der Welt ab.

Die Kopenhagener Künstler:in Alto Aria ist vieles, vor allem musikalisch. Ausgehend von Ambient und abstrakten Post-Club-Beats ergibt sich aus disparaten Noise-Partikeln nicht selten große und emotional radikale Popmusik. Als wäre die Zukunft ein melancholisch ruhiger und friedvoll stiller Moment der körperlichen und geistigen Freiheit, der Freiheit des Ausdrucks und der Möglichkeiten, der Vorstellungskraft des Leibes. Eine Ahnung, wie eine solche Form der Zeit vielleicht sein könnte, gibt das wortwörtlich phänomenale Album Ephemeral (Rhizome, 16. November) mit jeder flüchtigen Faser seiner Existenz. Dass dabei so unterschiedliche Genre-Größen wie Croatian Amor, Space Afrika oder Dimming geholfen haben, ist kein Zufall. Außerdem covert sie „You’re Not Alone” in der denkbar elegisch flauschigsten Weise.

Erwartungen positiv zu enttäuschen, ist die Superkraft der Singer-Songwriterin Faith Coloccia aus dem US-amerikanischen Nordwesten. Von Psychedelic und Folk (etwa bei Mamiffer) bis zu instrumentalen Lo-Fi-Beats (bei Barnett + Coloccia) hat sie schon einige Genre-Konventionen verunsichert, fast immer in Kollaborationen und meist im dunkleren Spektrum der musikalischen Emotionen. Smelter (Room40, 17. Oktober), ihre Kollaboration mit dem ebenfalls im amerikanischen Nordwesten lebenden Field-Recording- und Soundprocessing-Spezialisten Daniel Menche, überrascht mit ungewöhnlich warmen Drone-Sounds aus stark bearbeiteten und von Stimme und Instrumenten begleiteten Field Recordings von Wasser in allen Aggregatzuständen und Dynamiken. Die ungemütlichen Umstände der winterlichen Aufnahmen von Eisflächen, Schnee- und Regenstürmen sind in etwas Freundliches transformiert, doch behalten einen Rest an Unbekanntem, an kaum zu greifender Fremdheit, was diese Stücke immer besonders macht.

Angesichts endloser Wiederverwertung bereits tausendfach verwendeter Samples (zum Beispiel von „Le Mystère Des Voix Bulgares”), die jüngst noch technisch avanciert durch die musikalische Interpolation generativer KI verschärft wurde, scheint die Kultur des mehr oder minder avancierten Recyclings von Samples an ein verwertungslogisches Extrem, vielleicht sogar an ein Ende gekommen zu sein. Trotz allem – oder gerade jetzt, genau in dieser gefühlten Sackgasse – ist ein kreativer Umgang mit Samples aber unbedingt noch möglich, ja sogar nötig. Wie es unwahrscheinlich gut gelingen kann, zeigt das jüngste Album der in New York lebenden Mexikanerin Delia Beatriz aka Debit. Ihre „entschleunigten” Samples auf Desaceleradas (Modern Love, 7. November) sind von alten Tapes gezogen, erzählen von der Musik und Kultur lateinamerikanischer Migranten in den USA. Aus Cumbia, Reggaeton, Dub in verlangsamten, verzerrten und soundprozessierten Schleifen entstanden spannungsreiche Dark-Ambient-Noise-Soundscapes, die zutiefst mit Sinn aufgeladen sind und mit Leidenschaft arrangiert wurden. Es ist rigide Konzeptkunst, aber eine, die Sinn und Spaß macht. So viel mehr als üblich, so viel interessanter, als es jede KI könnte.

Ailin Grad alias Aylu aus Buenos Aires ist schon länger in den Zwischenräumen von Sound Art, Ambient und avancierter Beatschneiderei unterwegs. Dennoch ist Fobia (Other People, 17. Oktober) so etwas wie Aylus internationales Debüt, erscheint es doch auf dem explorationsfreudigen Label von Nicolas Jaar. Und was für eine Entdeckung das ist. Aylus reduziert-intensive Tracks wirken oft täuschend simpel, agieren aber nie unterkomplex. Sie erforschen einen maschinellen Minimalismus, in dem unter sehr subtil-zarter Oberflächen-Textur sehr viel passiert – im sehr Wenigen, das vor sich geht. Ähnlich wie in Loraine James‘ Projekt Whatever The Weather ist bei Aylu noch spürbar, dass ihre Stücke bei den stolperkomplizierten Beats von Juke und Footwork in die Schule gegangen sind, mit einem Aufbaustudium in IDM und Glitch, sich dann aber weitgehend von Beats jeglicher Art emanzipiert haben – und doch diese Erfahrung, diesen Spirit noch mittragen. Wenn das noch Ambient ist, dann ist es ein Ambient-Album des Jahres.

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