Es ist schon ziemlich irre – aus Sicht des Jahres 2025 –, wie elektronische Musik Anfang der Neunziger funktionierte, nicht zuletzt auch visuell. Sounds, Beats und Grooves sind immer ein Abbild ihrer Zeit, die dazugehörigen Bilder jedoch sind die wahren Verstärker, die dem Klang wie mit einem Brennglas Kontext aufprägen.
Es ist 1993, und Sven Väth sitzt im Ruderboot vor paradiesischer Kulisse und schmeißt erstmal ein Buch und seinen Strohhut in das kristallklare Wasser. Wäre heute undenkbar, so gar nicht aware. Macht man doch nicht. Ob sich das der Delfin, der Flipper-esk hinter ihm durchs Bild springt, wohl auch gedacht hat?
Es muss darum gehen, Ballast abzuwerfen, ganz bei sich sein zu können. Eins mit den Elementen. Auch die plötzlich auftauchende Frau entsorgt zunächst eine Sauerstoffflasche im Ozean. Hat man hoffentlich nach den Dreharbeiten alles wieder eingesammelt und mitgenommen. Die Hoffnung, „L’Esperanza”, stirbt ja bekanntlich zuletzt.
Und genau darum geht es. Um Sven Väths Track, der 1992 ein zehnminütiger Dreh- und Angelpunkt seines Debütalbums Accident in Paradise war und ein Jahr später auf Single-Edit-Länge mit beschriebenem Video der Wirkmacht des elektronischen Dancefloors einen Image-Film spendierte, auf den TUI noch heute neidisch sein muss. Vier Minuten für die Ewigkeit. Ein sanfter Breakbeat mit ebenso sanftem Flanger, Synth-Streicher, die wahlweise Sonnenaufgang oder -untergang flüstern, eine minimalistisch plockernde Bassline und eine Melodie, die sich im Kopf so eingräbt, dass sie einfach nachgepfiffen werden muss. Schon ein Hit.
Auf die Mischung kommt es an
Damals, 1992, hatte Sven Väth mit dem Musiker Ralf Hildenbeutel einen Produzenten gefunden, mit dem die Zusammenarbeit flutschte. Bis 1997 waren sie ein Team. Für Hildenbeutel kam das eher zufällig zustande – eine Beziehung zur Frankfurter Techno-Szene hatte er bis zu diesem Punkt nicht. Er hatte Klavier gelernt, ganz klassisch, und in Schulbands Keyboards gespielt. Elektronische Musik interessierte ihn, bestimmte aber nicht sein musikalisches Tun.
„Ich war in meinen frühen Jahren eher Team Batschkapp als Team Dorian Gray”, sagt Hildenbeutel heute. „Mein musikalischer Hintergrund speist sich aus Klassik, Synth-Pop und auch Rock. Mir kam es immer auf die Mischung an, auch wenn ich natürlich Kraftwerk und Jean-Michel Jarre gehört habe. Aber: Frankfurt ist klein, es gab Berührungspunkte zwischen den Szenen, man kannte sich. In die Clubs ging ich erst ab 1990 rum, zunächst auch nur sporadisch.”

Mit 17 Jahren hatte er Matthias Hoffmann, einen der späteren Gründer von Eye Q Records, und Steffen Britzke, Stevie B-Zet, kennengelernt, sie spielten gemeinsam in einer Band. „Matthias kam mit Sven Väth durch Zufall in einem Café ins Gespräch”, erinnert sich Hildenbeutel. „Sie entschlossen sich, zusammenzuarbeiten. Beide mochten die Idee, ihre jeweiligen Hintergründe mit einzubringen: Matthias, der Musiker, Sven, der DJ. So entstanden noch ein paar Tracks für das Off-Projekt, aber auch schon der Plan, ein Label zu gründen. Zu diesem Zeitpunkt rief mich dann Matthias an. Er wollte mich dabei haben. Sven und ich haben uns von Beginn an gut verstanden.”
Väth war Väth
Die ersten gemeinsamen Tracks waren Väths „No Fate”-Remix für Zyon und Stücke für sein „Barbarella”-Projekt. „Ich kannte ‚Electrica Salsa’ von Schulfesten. Das war nicht meine Welt. Die Faszination für diese Musik entstand tatsächlich durch die Arbeit im Studio. Das war ein ziemlicher Tunnel mit ganz anderen Regeln und Anforderungen. Keine Songstrukturen, keine Vocals.”

Dass DJs auch produzieren und Producer:innen auflegen, war in den frühen Neunzigern noch kein fast zwingender Grundsatz in der elektronischen Musik. Väth hatte die Verknüpfung dieser beiden Metiers schon früh für sich entdeckt und mit dem Projekt Off, gemeinsam mit den Produzenten Michael Münzing und Luca Anzilotti, dem Techno-Pop eine neue Variante beschert. „Electrica Salsa” erreichte den dritten Platz der deutschen Charts. Väths Sager in diesem Track – „Baba Baba” und „Kannst du die Trompeten mal mit einschalten” – waren so absurd wie genial. Dann kamen Acid und Techno, und die Welt war plötzlich anders. 1992 lag die Idee eines Sven-Väth-Albums auf der Hand. Keine Projektnamen, keine Pseudonyme – Väth war Väth. Und Hildenbeutel der Produzent der Wahl.
„Das konnte sehr schnell sehr langweilig werden.”
„Das Tolle an Sven ist, dass er die unterschiedlichsten Arten von Musik mag und hört. Das war schon damals so. Er hatte immer viele Ideen, auch konzeptuell. So war der Begriff bzw. Albumtitel Accident in Paradise schon sehr früh präsent. Und weil er musikalisch generell so offen war, war es für ihn auch kein Hinderungsgrund, mit einem Mucker wie mir zusammenzuarbeiten. Es ging um unterschiedliche Perspektiven”, sagt Hildenbeutel.
Er erinnert die Albumproduktion als sehr intensiv. Mehrere Wochen arbeiteten beide kontinuierlich. „Wir waren schon allein ob der technischen Gegebenheiten dazu gezwungen, gemeinsam zu arbeiten. Files hin- und herzuschicken, war noch nicht möglich. Und weil Total Recall ebenfalls noch nicht vorstellbar war, haben wir Track nach Track produziert und fertig gemacht. Ich glaube, wir haben beide davon profitiert. Er von meinem Wissen und ich von seinem Ansatz, mit meinen Ideen anders umzugehen, Strukturen immer wieder aufzubrechen und dabei eben nicht im Popformat auf einer Länge von drei Minuten zu denken, sondern allem Raum und Zeit zu geben. Wenn das Stück zehn Minuten lang war, dann war es eben zehn Minuten lang.”

So kamen zwei Ansätze zusammen, die gut zueinander und in die Zeit passten. Es ging nicht zwingend – und im Fall von Sven Väth überhaupt nicht – darum, Club-Alben zu machen, im Gegenteil. „Dafür gab es ja Mixtapes. Die haben die Dynamik des Dancefloors wirklich abgebildet. Aber zehn Club-Tracks von einem Künstler als Album? Das konnte sehr schnell sehr langweilig werden.”
In der Studio-Bubble
So entstand zunächst auch die lange Version von „L’Esperanza”. Was später vielleicht zur Single auserkoren, editiert und sogar mit einem Video versehen werden würde, war bei den Sessions kein Thema. Die Produktion stach dennoch heraus: „Wir machten zunächst die Bassline und die Beats, dann kam die Melodie. Die nahm viel Zeit in Anspruch, das war sehr akribische Arbeit. Wir probierten viel aus, verwarfen immer wieder Tonfolgen. Wir haben uns rangetastet. Sven saß eigentlich meistens am Mischpult. Während ich spielte oder programmierte, probierte er schon Arrangements und Mixe aus.”
Aus heutiger Sicht war das damals ja das Tolle, die Aufgabenteilung im Studio. Heute würde das gar nicht mehr funktionieren, wenn man zu zweit nur auf den Monitor schaut. Der Track war schon etwas Besonderes, nicht zuletzt, weil er ja wirklich sehr harmonisch ist. So eine Melodie war für uns damals schon fast blasphemisch. Es waren andere Zeiten. Sellout war ein Thema. Singles auch. Braucht es die wirklich? Wollten wir wirklich die zehnminütige Albumversion kürzen? Aber mit den Remixen wurde das Produkt auch für uns rund.”

Die Produktion des Albums fiel in eine Zeit des Sogs. Von 1991 bis 1995 und 1996 folgte Projekt auf Projekt. Nicht nur Sven Väth hatte neue Ideen, die er mit Ralf Hildenbeutel umsetzen wollte – Hildenbeutel selbst produzierte Track um Track, Album um Album. Solo auf Recycle Or Die oder auch als Earth Nation, sein Projekt mit Marcus Demlach. An der Produktion des Albums änderte sich zunächst nicht viel. Dazu kamen zahlreiche Gigs und natürlich das Ausgehen mit der Posse. Was man auf dem Floor am Wochenende erlebte, war in der Studiozeit unter der Woche immer präsent, treibende Kraft hinter dem Weitermachen. „Wir hatten einen ziemlichen Run, das ganze Label. Und es kam Geld rein. Wir konnten also buchstäblich raushauen.”
„Ich hatte das Gefühl, in der elektronischen Tanzmusik für den Moment alles gesagt und gemacht zu haben.”
Die Zäsur kam 1997. Eye Q zog nach Berlin. Für Hildenbeutel, aber auch für Steffen Britzke und Matthias Hoffmann war klar, dass sie in Frankfurt bleiben wollten. Sie behielten die Studios und konzentrierten sich auf andere Musik. Zusammen mit Hoffmann und Britzke gründete Hildenbeutel die Produktionsfirma Schallbau und arbeitete für und mit Künstler:innen wie Laith Al-Deen, Simon Collins, dem Sohn von Phil Collins, und Yvonne Catterfeld.
„Ich hatte das Gefühl, in der elektronischen Tanzmusik für den Moment alles gesagt und gemacht zu haben. Die Power war nach sehr intensiven Jahren weg. Zu diesem Zeitpunkt wurden die musikalischen Strukturen, die ich ein paar Jahre zuvor aufgebrochen hatte, plötzlich wieder interessant. Vier-Minuten-Songs. Überhaupt wieder Songs zu schreiben oder verstärkt Filmmusik zu machen. Die Soundästhetik der vorherigen Jahre spielte in meiner Arbeit aber nach wie vor eine große Rolle, gerade auch jetzt in der Filmmusik, wo ich angekommen bin und mich musikalisch zu Hause fühle.”
Und Action!
Die „Pop-Phase” war für Hildenbeutel in der Rückschau nur eine Übergangsphase. Sein Ziel war die Filmmusik. Doch die ihm angestammte Soundästhetik war in der Filmbranche anfangs oft eine Herausforderung. Seit den frühen Zehnerjahren komponierte er die Musik für weit über 40 Filme und TV-Produktionen.

In diesem Geschäft wurde noch sehr lange in Schubladen gedacht, die ihm jedoch ob seines musikalischen Werdegangs zunehmend fremd geworden waren. Was er denn für dieses oder jenes Projekt vorhabe, sei er oft gefragt worden. „Dieses Entweder-oder war nie meins. Heute ist es ja zum Glück ganz normal, Sounds und Stile miteinander zu verquicken. Flöte, Orchester, Moog? Ja, alles halt!”
Natürlich habe auch er zunächst versucht, das Image des Techno-Produzenten loszuwerden. „Mittlerweile hat sich der Kreis aber für mich geschlossen. Alles kommt zusammen.” Vom Techno kam Hildenbeutel ohnehin nie ganz los. Gut so. Eine umfangreiche und erfolgreiche Filmografie später produziert Hildenbeutel heute genauso für und mit Chris Liebing wie für Leinwand, das Fernsehen und die Streaming-Anbieter. Music is music – dieser Grundsatz galt bestimmt schon damals im Studio mit Sven Väth.