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Polygonia: Durch die Akustik des Ursprünglichen tanzen

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Polygonia, ihr Künstlername ist ganz zufällig auch der eines Schmetterlings, bewegt sich mühelos zwischen verschiedenen musikalischen Stilen: Von elektroakustischen Konzerten mit dem Jazz-Trio Lyder, bei dem sie nicht nur Live-Electronics bedient, sondern auch singt, bis hin zu schimmernden Grooves und strömendem, hypnotischem Techno bei der Klubnacht im Berghain oder in ihrem Lieblingsclub, dem Blitz in München. Das klingt mystisch und tief verwurzelt, trippy und brainmelting.

Sie empfindet ihre Präsenz in mehreren Szenen als Bereicherung: „Das sind unterschiedliche Seiten von mir – das tanzbare und das instrumentale Ich, die jeweils anders denken. Es ist, als würde man ein neues Geschenk auspacken, bei dem man nicht weiß, was drin ist.”

Tatsächlich gleicht die Fülle von Polygonias künstlerischen Projekten einem unentdeckten Wald: Neben Musikproduktion und DJing betreibt sie mit dem von ihr gegründeten Label QEONE organisches Soundsculpting und zeichnet noch dazu für das visuelle Design verantwortlich. Wir haben die Künstlerin in Berlin für ein Porträt gesprochen und wollten wissen, wie sie all diese Ausdrucksformen unter einen Hut bringt.

Etwas in Eile treffe ich Polygonia, bürgerlich Lindsey Wang, vor ihrer temporären Bleibe, einem Drei-Sterne-Hotel in Berlin-Mitte. Heute erst angereist und morgen schon wieder auf dem Weg zurück nach München, um dort ihren nächsten Gig mit dem Jazzdrummer Simon Popp zu spielen. Nach ihrem Soundcheck in der Säule im Berghain beschließen wir, in einen dem Hotel nahegelegenen Park zu gehen. Wir setzen uns auf eine der grünlich mit Moos überzogenen Bänke, die etwas verloren in der spärlich besuchten Grünanlage stehen.

Es ist einer der letzten milden Abende in Berlin, an denen der herbstliche Himmel hellgrau leuchtet und die halb vertrockneten Grasflächen den Ort zwar nicht besonders gemütlich wirken lassen, aber doch eine friedliche Stimmung in der Luft liegt. Ein paar lauwarme Sonnenstrahlen mildern den abrupten Wechsel der Jahreszeit. Lindsey, noch bepackt mit ihrem Rucksack und ihrer Tasche, strahlt trotz des hektischen Zeitplans Ruhe aus und wirkt voller Vorfreude und positiv gespannt auf die bevorstehende Labelnacht von IO Records. Dem Münchner Label, das aus Schulfreund:innen von früher besteht, wie sie später erzählt.

Musikalisch interessiert sich Polygonia neben Techno und Jazz zunehmend für einen Raum namens „Grey Area” – ein Genre, das sich, wie der Name schon verrät, jeglicher stilistischer Einordnung widersetzt. Im Mittelpunkt stehen dabei genreübergreifende Fusionen. „Ich mag es, wenn man ungewöhnliche Verbindungen ausprobiert und daraus etwas völlig Neues entsteht, wenn man zum Beispiel House mit Dubstep mischt.”

Polygonia (Foto: Lindsey Wang)
Polygonia (Foto: Lindsey Wang)

Das einzige Genre, das in Polygonias Soundästhetik nicht funktionieren würde, sei Gabber, für sie zu repetitiv, zu starr: Jeder Schlag mit ähnlicher Intensität wahrnehmbar – der nötige Groove, den sie so liebt, gehe dabei oft verloren. „Ich will auf dem Beat schweben”, erklärt sie. Beim Produzieren achte sie ebenfalls darauf, nicht zu lange an Tracks zu arbeiten, um den Flow des Moments zu bewahren und nicht in repetitive Strudel zu geraten.

Tatsächlich klingt ihr Sound organisch, die Natur imitierend, ständig modulierend, an lebendige, atmende Gebilde erinnernd. Verwoben mit glitschigen Geräuschkulissen, die sich um den zitternden Bass räkeln und die Musik viszeral spürbar machen. Das Sounddesign dabei so präzise und filigran, dass jede klangliche Spitze heraussticht und immer wieder diesen sanften, akustischen Sweetspot trifft – wahrlich brainmelting.

Orchestercamps, Komponisten, Snoop Dogg, Bonobo

Aufgewachsen in einem Vorort von München, war Lindsey von klein auf von Musik umgeben. Viele Mitglieder ihrer Familie waren als Orchestermusiker:innen und Professor:innen tätig, das Interesse für Musik wurde ihr praktisch in die Wiege gelegt. Schon früh bekommt Lindsey Musikunterricht und beginnt mit sieben Jahren Violine und darauf folgend Klavier zu lernen. Die ersten zehn Jahre ihres Lebens hörte Lindsey fast nur klassische Musik. „Es gab eine richtig coole Kassettenserie, die hieß Wir entdecken Komponisten. Die habe ich rauf und runter gehört.” Besonders wohlig erinnert sie sich an gemeinsame Kammermusikspiele auf Orchestercamps. Mit der Zeit fehlte ihr jedoch beim Musizieren immer mehr die kreative Freiheit. Die klassische Musiktradition mit ihren starren Vorgaben, wie nach dem Blatt zu spielen sei, fühlte sich für sie oft, besonders im Zuge der ersten Schuljahre mitsamt Vorspielen, einengend an. „Schon als Kind, als ich anfing Noten zu verstehen, habe ich lieber eigene Melodien geschrieben oder auf meinen Instrumenten improvisiert.”

Niemals solle alles nach einem strikten Plan verlaufen, weshalb sie sich im Laufe der Zeit eher zum Jazz mit seiner Freiheit zur Improvisation hingezogen fühlte – zu ihrem Jazzprojekt aber später mehr. Spontaneität und Ungebundenheit im kreativen Prozess seien ihrer Meinung nach das, was Klassiker:innen von Jazzer:innen unterscheide. Dieser Ansatz spiele auch als DJ und bei Live-Sets eine große Rolle: Tracks vorzubereiten oder gar das ganze Set zu planen, komme für sie nicht in Frage: „Für mich machen Flexibilität und der Moment des Unvorhersehbaren die Qualität eines DJs aus”, sagt sie dazu. Ihr sei wichtig, dass ihre Sets immer anders klingen, besonders für ein Publikum, das womöglich immer wieder bei ihren Gigs auftaucht: „Ich will immer ein anderes Erlebnis schaffen und am liebsten die ganze Zeit überraschen.”

Polygonia (Foto: Lindsey Wang)
Polygonia (Foto: Lindsey Wang)

Die erste Berührung mit Musik, die nicht der Klassik entsprang – „Bei mir hat niemand Pink Floyd oder so gehört” –, hatte Lindsey jedoch durch MTV. Dort entdeckte sie Popmusik von den Black Eyed Peas oder Snoop Dogg. Irgendwann kamen dann, clubaffiner, Pendulum und Bonobo dazu. Schmunzelnd erzählt sie, wie sie schon als Kind ihre iTunes-Playlists mit einer Sorgfalt sortierte, als würde sie auflegen – lange bevor sie überhaupt wusste, was ein DJ ist.

In ihrer Jugend führte ihr Weg durch die Münchner Hip-Hop-Szene, die Tage gefüllt mit Breakdance und Graffiti: „Meine Graffitis waren eher untypisch; ich mochte diesen lustigen, organischen Stil. Das zieht sich auch durch meinen illustrativen Stil.” Würde es die Zeit zulassen, würde sie heute am liebsten wieder mit dem Breakdancen beginnen. Später entdeckte sie Drum’n’Bass- und irgendwann Goa-Partys für sich, auf denen sie jedes Wochenende feiernd verbrachte – vor allem weil ihre Freunde hingingen. Doch die Faszination, die sie damals für ihre musikalischen Entdeckungen verspürt haben muss, blitzt immer wieder auf, als sie in Erinnerungen an die Anfänge schwelgt: „Dieses krasse Sounddesign und dieser alienartige Klang.” Sie lacht: „Am Anfang bin ich zu jedem Drop ausgerastet.”

Als Lindsey beiläufig die Feinheiten von Delays und Filtern erwähnt, schwingt eine mitreißende Begeisterung in ihrer Stimme mit.

Lindsey begann eigene Tracks zu produzieren, bevor sie selbst auflegte. Als sie über den Auftritt heute Nacht spricht, erklärt sie: Das Kollektiv IO besteht aus Schulfreund:innen, durch die auch sie selbst zum Produzieren gekommen ist. „Einige haben damals schon mit 13 angefangen Musik zu machen, und ich habe ihnen einfach über die Schulter geschaut.” In ihren ersten Ableton-Sessions produzierte sie Singer-Songwriter-Tracks und entwickelte mit Zeit und Neugier die Einstellung, dass es erst mal egal ist, was man macht. Lachend erzählt sie von abgefuckten und witzigen Beats, die in dieser Zeit hauptsächlich entstanden.

Eine Karriere in der Musik anzustreben, konnte sich Lindsey aufgrund des unsicheren beruflichen Weges nie vorstellen. Sie verzichtete nach ihrem Schulabschluss auf jeglichen klassischen Musikunterricht und begann Innenarchitektur zu studieren. Eine Jobaussicht, die ihr mehr Sicherheit geben würde, anstatt „nur Musik zu machen”, und sich fürs Erste zudem gut mit ihren Interessen vereinbaren ließ. „Ich habe mein Zimmer konstant umgestellt und immer wieder neue Sachen ausprobiert.”

Schnell stellte sie jedoch fest, dass die Service-Providing-Idee des Studiums wenig Kreativität zuließ, und brach es während der Pandemie ab. Lindsey lernte durch einen neuen, nicht verschulten Zugang, ihre Instrumente wieder zu lieben, und setzte sich noch intensiver mit Musikproduktion auseinander. Gleichzeitig begann sie als Behindertenassistentin zu arbeiten und nutzte die verbleibende Zeit, um akribisch Musik zu produzieren und zu lernen. „Irgendwann habe ich das Buch The Computer Music Tutorial gelesen, ein ziemlicher Wälzer, aber ich wollte einfach alles wissen.” Als Lindsey beiläufig die Feinheiten von Delays und Filtern erwähnt, schwingt eine mitreißende Begeisterung in ihrer Stimme mit.

Über Cio d’Or zum Techno

Von Techno war dabei lange Zeit keine Spur. Wohl auch, weil der Münchner Techno, den Lindsey in ihrer Jugend mitbekam, größtenteils Minimal und Tech-House, nicht jener war, der ihr später so gefallen würde. „Ich war eben eher ein Breakbeat-Girl”, erzählt sie augenzwinkernd. Erst auf dem Freqs of Nature Festival bei Berlin hörte Lindsey schließlich Techno, der sie faszinierte – besonders das Set von Cio d’Or. „Mich haben diese kleinen, detaillierten Elemente so fasziniert. Davor hatte ich viel mit maximalistischen Klängen zu tun, und plötzlich kam sie und tat genau das Gegenteil.” Ebenso Rrose, mit dem sie erst im September das Album Dermatology veröffentlichte – inspiriert von Hautoberflächen, psychedelisch, Dancefloor-orientiert und so taktil, als könne man die Klänge ertasten.

Mittlerweile schätzt Lindsey die Münchner Szene sehr – eine kleine Community, der Zusammenhalt in ihr sei dafür aber umso größer. Auch die Clubs unterstützen sich gegenseitig: „Man hat oft Blitz-Partys, wo noch das ganze Team von der Roten Sonne rüberkommt.” Im Gegensatz zu Berlin, wo die Clubkultur allgegenwärtig ist, steht sie in München weniger im Fokus. „Die Konkurrenz in Berlin ist deutlich spürbar, weil hier gefühlt jeder DJ ist.”

Das Familiäre, das sie an der Münchner Szene so liebt, wird greifbar, als sie über ihr liebstes Club-Wohnzimmer spricht: das Blitz. 15 Minuten mit dem Fahrrad an der Isar entlang, und sie ist da. „Die Anlage ist unfassbar gut, und die Ästhetik – es sieht aus wie ein riesiges Studio”. Noch wichtiger ist ihr die Beziehung zu den Menschen vor Ort: „Ich liebe einfach den ganzen Staff und habe eine super warme Beziehung zu den Ownern und der Crowd.”

Einen anderen musikalischen Weg als ihre Familie einzuschlagen, ließ Lindsey sich ab und zu wie das schwarze Schaf fühlen. Die Unterstützung ihrer Mutter hatte sie aber immer, auch wenn diese selbst weit davon entfernt sei, eine Raverin zu sein. „Sie musste sich schon früh daran gewöhnen, dass ich die ganze Zeit auf Drum’n’Bass-Partys unterwegs war. Sie kennt das!”, lacht Lindsey.

„Die Anlage ist unfassbar gut, und die Ästhetik – es sieht aus wie ein riesiges Studio”

Polygonia über das Blitz

Trotz der unterschiedlichen künstlerischen Vorlieben war der Zuspruch von Lindseys Mutter immer ein starker Antrieb für sie. Während ihrer musikalischen Anfänge begann Lindsey im Kindergarten auch mit dem Zeichnen. „Ich erinnere mich noch: Ich hatte einen Stofftier-Delfin gezeichnet, und meine Mutter hat mich total ermutigt. Das hat mich richtig motiviert, weiterzumachen.”

Zu Gigs ihrer Ambient- und Jazzprojekte komme ihre Mutter regelmäßig, und das andere würde sie sich gerne auch mal anschauen. Da warte Lindsey noch auf den richtigen Kontext: „Am liebsten tagsüber, draußen.” Auf Open Airs ist Lindsey nämlich auch selbst am liebsten unterwegs – keine Wände, die widerhallen, und eine Art Ausnahmezustands-Gefühl, entfernt vom alltäglichen Leben. Man kann wirklich Zeit mit den Leuten verbringen, läuft sich immer wieder über den Weg, bis man sich irgendwann nach dem Namen fragt.

Man kann sich Lindsey dort gut vorstellen: Das Gespräch mit ihr ist lustig und herzlich. Nicht nur ich erkundige mich, auch sie fragt interessiert nach, wenn ich von meinen Erlebnissen erzähle. Sie wirkt nicht nur in ihrer Musik, sondern auch im persönlichen Austausch feinfühlig und neugierig – und schafft eine Verbindung zu den Menschen, ähnlich wie auf dem Dancefloor.

Man fragt sich, wie Lindsey zu so vielen Projekten kommt. Sie habe sie auf ihrem Lebensweg „eingesammelt”, sagt sie. Als DJ, Produzentin, Jazzerin, visuelle Künstlerin und Gründerin des Labels QEONE jongliert sie ihre kreativen Stimmungen und lässt jeden Versuch der Kategorisierung erstarren: „In gewisser Weise will ich mir auch selbst beweisen, dass ich nicht nur das eine mache. Ich langweile mich schnell, wenn ich immer wieder das Gleiche mache. Indem ich so viele verschiedene Disziplinen verfolge, unterhalte ich mich selbst und exploriere gleichzeitig, wer ich wirklich bin – auch als Künstlerin.” 

QEONE versteht sie als Plattform für ungewöhnliches Sounddesign – Soundsculpting. Offen gestaltet, ohne festen Kreis von Künstler:innen und für genreübergreifende Experimente, bei denen BPM von null bis unendlich erlaubt sind, solange die Idee eines organischen Sounddesigns hörbar durchsickert. „Organic Grooves”, nennt sie das. Im Zuge der GLYPHS-Serie interpretierten Künstler:innen das Material Holz musikalisch und lassen glasig-kühle, zugleich rund-wärmende und vertraute Klänge von Holzigem zwischen akustischen Ideen hervorrascheln. Im Vergleich zur naturverbundenen Ästhetik ist das Label IO, das sie eher als Kollektiv bezeichnet, stärker auf Deep Techno, Ambient und Downtempo spezialisiert.

Polygonia (Foto: Lindsey Wang)
Polygonia (Foto: Lindsey Wang)

Das Verweben mehrerer Lebensbereiche entpuppt sich bei Polygonia als wiederkehrendes Motiv. Den synästhetischen Ansatz von visueller und auditiver Kunst erwähnt sie mehrmals: Texturen, die sich aus ihrer visuellen Arbeit ergeben, lassen sich somit nicht nur betrachten, sondern auch hören. „Es gibt so viele Parallelen – Rhythmik, Komposition, Kontraste. Das alles geht für mich technisch und emotional Hand in Hand, weil ich mit beidem so früh angefangen habe.” Schließlich lässt sich Polygonia auch als multidisziplinäres Projekt zwischen visueller Kunst und Musik interpretieren.

Zusätzlich steht sie neben Niklas Bühler und Moritz Stahl regelmäßig mit dem Jazz-Trio Lyder auf der Bühne, wo sie mit Vocals, Live-Electronics sowie Violine experimentiert. Die Violine spielt sie nun, im Kontrast zur klassischen Herangehensweise ihrer Kindheit, eher im improvisierten Stil. Live-Looping und Soundeffekte mit Polygonia-typisch knisternden und flimmernden Geräuschtexturen schlingen sich um instrumentalen Jazz.

„Ein Dancefloor sollte ein Ort sein, an dem man sich akzeptiert, egal woher man kommt, denn nur so kann wirklicher Frieden entstehen.”

Polygonia

Diese genreübergreifende Fusion erlaubt im Jazz-Kontext eine ungewohnte Perspektive auf elektronische Musik, jenseits ihrer oftmals angenommenen traditionellen Grenzen innerhalb der Clubmusik: „Es ist fast eine Mission für mich, die Stigmata abzubauen, elektronische Musik sei weniger intelligent und Klassische Musik oder Jazz langweilig.”

Auf ihrem YouTube-Channel teilt Polygonia mittlerweile ihre Sounddesign-Expertise mit ihrer Community und erklärt in Tutorials beispielsweise die Hi-Hat-Synthese anhand von Ableton Operator. Sie beschreibt sich selbst als großen Fan von Open Source und findet es wichtig, dass „jeder von Wissen und Tipps profitieren kann.” Dabei geht es ihr nicht nur darum, ihre Tipps zu vermitteln, sondern auch stärker mit ihrer Community zu interagieren und herauszufinden, wer ihre Follower sind.

Durch Tutorials und den Austausch in der Community habe sie selbst schon unzählige Tipps anderer Künstler:innen in ihre eigene Arbeitsroutine integriert, wie etwa die Inspiration durch Stimmings In-Ear-Reviews, die sie dazu gebracht haben, sein bevorzugtes Modell auszuprobieren. „Wenn ich auch solche Tipps weitergeben kann, bin ich happy!” Diese Philosophie der Offenheit und des Teilens, die sie auch auf dem Dancefloor schätzt, setzt sie ebenfalls in ihrer Arbeit als Musikerin um.

Was die aktuelle Entwicklung in der Musikszene angeht, scheint Lindsey allerdings besorgt. Sie fürchtet, dass sich die Szene aufgrund politischer Ansichten spaltet. „Ein Dancefloor sollte ein Ort sein, an dem man sich akzeptiert, egal woher man kommt, denn nur so kann wirklicher Frieden entstehen.” Für Lindsey dient die Musik als Mittel, Verbindungen zu schaffen – zwischen Menschen, aber auch zwischen Klang und der natürlichen Welt, der Hauptinspirationsquelle ihres künstlerischen Schaffens.

Ein Mitgefühl schaffen, das nachhallt

Während sie früher viele Geräusche aus der Natur aufgenommen und Samples verwendet hat, synthetisiert sie mittlerweile fast alle ihre Sounds selbst und versucht, diese durch Sounddesign so zu modulieren, dass sie durch diesen „extra Spice” in eine persönliche Soundsprache übersetzt werden, aber trotzdem so organisch klingen, als würden sie die Natur imitieren. „Manchmal reicht schon ein Filter, der sich ständig auf und zu bewegt, und es fühlt sich an, als würde der Sound atmen.”

Beim Hören erwacht die Musik zum Leben: Fließende Texturen, die an fragil rauschende Zweige oder plätschernde Gewässer erinnern, dienen dabei nicht nur als ästhetisches Mittel, sondern auch als Ausdruck ihrer Wertschätzung für die Natur. „Es ist mein Ziel, durch meine Musik ein Bewusstsein für die Natur zu schaffen. Denn wenn man die Schönheit der Natur durch ein Medium wahrnimmt, das die Sinne so direkt anspricht, und dadurch ein tieferes Verständnis für sie entwickelt, wächst auch der Wunsch, sie schützen zu wollen.”

Polygonia by Lindsey Wang 3
Polygonia (Foto: Lindsey Wang)

Polygonia glaubt, dass diese synästhetische Verbindung von Musik und Natur Menschen anregen kann, sich intensiver mit dem Schutz der Umwelt auseinanderzusetzen. Ob durch Ernährung oder Konsum, Wege gibt es genug. Die Erfahrung, auf dem Dancefloor durch die zirpende, naturnahe Akustik des Ursprünglichen zu tanzen, kann besonders eindrücklich wirken und ein Mitgefühl schaffen, das im Moment der Trance, fernab des Alltags, stärker in uns nachhallt, sinnlich wie gedanklich. Ein Raum der Zartheit, in dem manche empfänglicher für eine ehrliche, emotionale Begegnung mit der Natur sind, wenn auch nur als kurze Erinnerung oder Vorschlag.

Die tiefe Verbundenheit zur Natur entwickelte sich bei Lindsey im Laufe der Zeit, besonders nachdem sie von zu Hause auszog und begann, bewusster über ihre eigenen Werte nachzudenken. „Früher war mir das alles ziemlich egal, aber als ich mich mit meiner eigenen Identität und auch mit politischen Fragen auseinandersetzte, wurde mir klar, wie wichtig das Thema Natur für mich ist.”

„Ich finde, man muss sich etwas trauen. Es hat noch nie kreativer, gesellschaftlicher oder kultureller Fortschritt stattgefunden, wenn sich niemand etwas traut.”

Polygonia

Lindsey erzählt von einer Reise nach Kolumbien, auf der sie indigene Gemeinschaften besuchte. Ihr ursprünglicher Plan: Ein Album produzieren, das auf Field Recordings und philosophischen Impulsen dieser Gemeinschaft basiert, und dessen Erlöse an diese zu spenden. „Für mich ist die Natur fast wie eine Religion, und indigene Gemeinschaften haben ein tiefes Verständnis dafür entwickelt, in Symbiose mit ihr zu leben – auch ohne wissenschaftliche Erkenntnisse, die wir heute haben.” Sie lernte, die Natur als universelles Regelwerk zu begreifen, das alle bereichernden und gefährlichen Seiten der menschlichen Gesellschaft widerspiegelt. Fantasievolle Welten, die bereits in der Natur existieren, seien für sie eine unendliche Inspirationsquelle. „Bei mir zu Hause beobachte ich zum Beispiel gerne, wie manche Pflanzen aus abgefallenen Blättern neue Triebe bilden. Ich finde es unglaublich, was für Überlebensstrategien Pflanzen entwickelt haben.”

Die Säule im Berghain ist schon gut gefüllt, als Polygonia einige Stunden später ihr Live-Set beginnt. Fauchende Sounds winden sich durch den Raum und bringen alle Fasern des Körpers zum Vibrieren. Der naturbezogene Resonanzraum, den Polygonia aufgemacht hat, beginnt in meinem Kopf zu arbeiten: Eine warme, texturreiche Atmosphäre und wabernde Bässe ziehen das Publikum immer tiefer in eine schwirrende Sumpflandschaft und versetzen den Raum in eine berauschende Flut. Die Mischung aus treibenden Rhythmen und fließenden Texturen erinnert dabei tatsächlich an ein lebendiges, musikalisches Biotop, das nie stillsteht. Die Musik, tanzbar und detailverliebt, die Rhythmen unberechenbar, begegnet einem vielschichtigen Publikum: Zwischen zumindest auf den ersten Blick typisch tanzende Berghain-Raver:innen mischen sich Gemüter, die den Sound auch introspektiv zu erkunden scheinen.

Während ihrer Live-Acts balanciert Polygonia zwischen Experiment und Zuhörerbindung. Sie muss auf die Erwartungen des Publikums vertrauen, während sie die Grenzen des musikalisch Machbaren auslotet. Wichtig bei Gigs ist ihr auch, dass die Musik alle Generationen anspricht und nicht nur „die hippe Jugend.” Besonders freut sie sich daher, wenn auch älteres Publikum Interesse an ihren Konzerten zeigt. Bei ihren Labelnächten will sie nicht nur etwas bieten, das die Leute bereits kennen, sondern inspirieren und Sounds vorstellen, die auf den ersten Blick für die Szene ungewöhnlich oder unüblich erscheinen. „Ich finde, man muss sich etwas trauen. Es hat noch nie kreativer, gesellschaftlicher oder kultureller Fortschritt stattgefunden, wenn sich niemand etwas traut.”

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