Teil 1 der essenziellen Alben im September findet ihr hier.
Juergen Vonbank – The Blue Soul (Night Defined)
Variationen in Blau: Sein zweites Album veröffentlicht der österreichische Produzent Jürgen Vonbank alias Juergen Vonbank erneut auf seinem eigenen Label Night Defined, fünf Jahre nach Trial & Eros.
Dem Titel The Blue Soul gemäß, sind die acht Tracks in der Stimmung zurückgenommen, oft träumerisch, mitunter leicht wehmütig. Besonders verhangen die beatfreien Nummern wie „Slf”, doch auch dort, wo der untergelegte Rhythmus in Richtung House weist, bewegt sich die Platte zwischen Spätnachtmusik und Blues-Update. „Lost Appendix” mit seinem stark minimalen harmonischen Gerüst und skelettierten Drumcomputer kombiniert sogar beides zugleich. Den euphorischsten Moment gestattet sich Vonbank dann in „Untitled” mit melodischem Bass und leicht gestrafft klapperndem Beat. Oft wirkt es so, als mache er überhaupt nichts groß in seinen Produktionen, sondern lasse eine Idee für ein paar Minuten vor sich hinlaufen. Man könnte seine Vorgehensweise aber auch so beschreiben, dass er so lange reduziert, bis genau die richtige Menge an Elementen übrig bleibt. Tim Caspar Boehme
Loraine James – Gentle Confrontation (Hyperdub)
Wenn man sagt, dass Leute weich werden, kann das mitunter abwertend gemeint sein – wie immer eine Sache der umgebenden Koordinaten. Über die britische Produzentin Loraine James zu sagen, sie gebe mit ihrem Album Gentle Confrontation gegenüber ihren früheren Platten für das Label Hyperdub eine neue Weichheit zu erkennen, ist in ihrem Fall ein Kompliment. Nicht weil die Musik auf For You And I oder Reflection etwa schlecht gewesen wäre, doch ihre in die Zukunft des Tanzens weisenden Clubforschungen hatten bei aller Faszination hier und da etwas Kräftezehrendes.
Auf ihrer aktuellen Platte kombiniert sie ihren futuristischen Ansatz bewusst mit einem Blick zurück. Inspiriert von der Musik ihrer Jugend in den Neunzigern, gestattet sie sich diesmal neben ihren artifiziell schillernden R’n’B-Derivaten noch mehr Pop oder introspektiv-schrullige elektronische Momente in gemäßigtem Tempo. Vereinzelte Gitarrenklänge inklusive. Keine Angst, auch eine sanfte Loraine James hat genügend Kanten, um nicht nach weichgespültem Beliebigkeitspop zu klingen. Das verhindert sie genauso wie ihre erlesene Gästetruppe, zu der diesmal auch die katalanische Musikerin Marina Herlop gehört. Deren friedlich überirdischer Gesang verleiht der Nummer „While They Were Singing” mit ihrem nervösen Breakbeat etwas scheinbar Paradoxes. Dabei öffnen Konstellationen wie diese einfach neue Räume. Die bietet Gentle Confrontation reichlich. Tim Caspar Boehme
Martinou – Chiral (Nous’klaer)
Nous’klaer-Veröffentlichungen können viele verschiedene Wege einschlagen. Das reicht von basslastigem Breakbeat über Electronica-Mutationen, Ambient-House-Extravaganzen bis zu Gothic-artigen Schwermut-Songs. Und ich bin mir sicher, dass ich die eine oder andere Genre-Seitengasse noch vergessen habe.
Nun, Martinou wählt auf seinem zweiten Album für das niederländische Label einen sehr geraden Weg. Was nichts Böses heißen soll. Gerade kommt man stets gut ans Ziel, erst recht, wenn man ob des sonnigen Wetters mit offenem Verdeck fährt. Denn genau so fühlt sich der Großteil der zehn Tracks des Albums an. Die gerade Kickdrum, irgendwo zwischen House und relaxtem Techno, gibt den Weg vor. Drumherum schichtet Martinou luftige Klänge und Melodien, die eine höchst entspannte Atmosphäre erschaffen. Ab und an geht’s mit Dub-Techno-Anleihen auch etwas mehr in die Tiefe. Und gegen Ende des Albums schleicht sich hier und da noch ein kleiner Breakbeat ein. Die meiste Zeit jedoch fühlt man sich, als würde man auf weich-wattigen Wolken über den Dancefloor schweben. Angereichert mit ein wenig Melancholie in den Melodiesequenzen entsteht so ein herrlich luftig-entspanntes Sommeralbum, das in einer Welt lebt, in der Dreamhouse kein schmutziges Wort ist. Fein, fein. Tim Lorenz
Pose Dia – Simulate Yourself (R.i.O.)
Simulate Yourself gehört zu den Ausnahme-Alben, die sich jede:r, der oder die musikjournalistisch unterwegs ist, monatlich wünscht, die aber leider ziemlich selten sind.
Was ist so besonders an Pose Dias zweitem Longplayer? Die Antwort ist einfach: Das Ungehörte. Und dass dieses Neue auch so wunderbar gelungen ist und nicht gewollt wirkt. Als Genre-Konstrukt könnte „Singer/Songwriter-Elektronik” auf das Album angewendet werden, was schon seine Seltenheit darstellt. Auch nicht oft zu finden: Dass in einem solchen Zusammenhang Elektronik nicht die Nebenrolle spielt, sondern gleichberechtigt ist, was auch zwei Instrumentalstücke verdeutlichen – einen A-cappella-Song hingegen gibt es nicht.
Neben dieser Verwurzelung im oder zumindest großen Zuneigung zum elektronischen Kontext finden sich in Simulate Yourself Spurenelemente von Kurt Weill bis Laurie Anderson, von Velvet Underground bis Savages, von Nico bis Mary Ocher. Aber eben mikrodosiert, nie klingt ein Stück wirklich wie das eines anderen Künstlers, nie nach einem Fach im Plattenladen. Der deutsche Akzent Pose Dias in den englischsprachigen Songs verleiht dem Ganzen zusätzlich noch mehr Persönlichkeit und eine gewisse Dringlichkeit, die keineswegs aufdringlich oder betroffen wirkt. Man kauft ihr einfach ab, was sie macht und auszudrücken versucht.
Bei all diesen Verweisen auf Inhalt und mögliche Anliegen passt zur großen Eigenheit des Albums, dass es mit einem Instrumentalstück endet, das eindeutig nach Indie-Dancefloor und nicht nach Inhaltsanalyse schreit. Mathias Schaffhäuser
RS Tangent – When A Worm Wears A Wig (The Trilogy Tapes)
Der Engländer Robin Stewart macht zwar schon seit 2015 als Hälfte des Duos Giant Swan Technomusik, hat sich nach einer ersten EP für Trilogy Tapes unter seinem eigenen Namen jetzt aber mit ganz neuem Alias und einer Debüt-LP zurückgemeldet.
Das Album When A Worm Wears A Wig klingt tatsächlich ein bisschen wie Techno aus dem Wurmloch, ist in seinem psychedelisch-kontrollierten Chaos auf Trilogy Tapes also perfekt aufgehoben. Was bei Blawan oder Regis vielleicht ähnlich, aber noch geradliniger klingt, darf bei RS Tangent noch viel verschrobener und experimenteller seinen Lauf nehmen. Birmingham Techno ist der Ausgangspunkt, doch diese Technojams stecken voller interessanter Ideen und dynamischem Sounddesign, das man sonst eher von experimentellen IDM-Künstler:innen erwarten würde.
Mal machen die Kicks gänzlich den Vocal-Snippets und Synths Platz, dann wieder existieren minimalistische Grooves und massive Basslines nebeneinander. Es herrscht eine andersweltliche, düstere Stimmung, in der diese propulsiven Maschinen-Jams ihre Nonkonformität ausleben dürfen, während das Ergebnis immer noch für Schweißtropfen von der Decke auf bestimmten Warehouse-Raves sorgen dürfte. Leopold Hutter
Simo Cell – Cuspide des Sirènes (TEMƎT)
Simo Cells Debütalbum nimmt sich einiges vor. Es geht um eine angeblich altertümliche Legende (in der es um die Suche nach einem versteckten See geht. Dort wird man mit seinen Dämonen konfrontiert, um seine eigene Kraft zu verstehen und zu meistern), die er hier nacherzählt, so wie sie auf antiken Schriftrollen aufgezeichnet wurde. Aufgezeichnet, oder „recorded”, wie es im Original heißt. Aufgenommen also. In der Antike. Na, wollen wir es mal nicht so eng sehen. Denn hier geht es ja im Grunde um Musik. Und die ist: beeindruckend.
Einmal mehr lotet Simon Aussel die Tiefen der Bass-Musik aus, nimmt mit auf eine psychedelische Reise, die ganz durch Klänge funktioniert – eine elaborierte „Legende” ist dazu wirklich nicht nötig. Und Simo Cell zeigt sich dabei als Meister seiner Kraft, indem er um eine schwere Kickdrum herum, die fast alle Stücke als Zentrum dominiert, einen wahrhaft psychoaktiven Dschungel aus Sounds erschafft. Effektiv zerstückelte Vocals treffen auf sich gegeneinander verschiebende Rhythmen, die tief in dieses Universum hineinziehen. Und während die Bassfrequenzen einhüllen wie ein dicker, wärmender Mantel, zersplittert das Drumherum in einer, ach was, in unzähligen Fontänen an Klangideen. Das hat Facetten von Techno, Jungle, Breakbeat, R’n’B, Electro. Doch werden diese Gattungen nur gestreift, während Cell einen ganz eigenen Genre-Kosmos erschafft.
Was auch immer er an diesem See gefunden haben mag, es treibt seine Kreativität in ungeahnte Höhen. Selten, dass man eine solch bildhafte Musik zu Gehör bekommt. Wie bereits eingangs erwähnt: tief beeindruckend. Tim Lorenz